L 3 U 43/14

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 36 U 107/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 U 43/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung des Ereignisses vom 18. April 2002 als Arbeitsunfall streitig.

Der 1946 geborene Kläger war als Journalist und Pressefotograf beim A.-Verlag tätig. Sein Arbeitgeber erstattete die Unfallanzeige vom 31. Oktober 2002, in der er ausführte, der Kläger habe sich während der Bildberichterstattung über eine Veranstaltung der Bildzeitung auf dem D. am 18. April 2002 einen schweren Hörsturz zugezogen und leide seitdem unter ständigen Ohrgeräuschen und Schlafstörungen. Als der Kläger an diesem Tag auf der Showbühne vor den Lautsprechern gestanden habe, habe er einen Hörknall auf beiden Ohren wahrgenommen, ihm sie schwindelig und übel geworden und er habe das Gefühl gehabt, ohnmächtig zu werden. Er habe dann seine Arbeit abgebrochen und sei nach Hause gefahren. Am nächsten Tag habe er sich im Krankenhaus S. vorgestellt und sei dort stationär behandelt worden. Im hals-nasen-ohren-ärztlichen Bericht vom 6. Mai 2002 über die Vorstellung des Klägers am 19. April 2002 heißt es, der Kläger habe sich mit einer Hörminderung, Rauschen beidseits sowie leichtem Schwindel vorgestellt. Er habe geschildert, bei einer beruflichen Veranstaltung sei es zu einem Knallgeräusch durch eine technische Störung im nebenstehenden Lautsprecher gekommen. Als Diagnose wurde angegeben: Verdacht auf psychogene Hörstörung bei Zustand nach Lärmbelastung. Im Bericht des Allgemeinen Krankenhauses S. vom 27. November 2002 gab der Oberarzt Dr. N. an, das vom Kläger geschilderte Knallgeräusch aus einer defekten Lautsprecheranlage sei durchaus geeignet, ein Ohrgeräusch und je nach Lautstärke des Knallereignisses auch zusätzlich eine Hörminderung herbeizuführen. Allerdings seien differierende audiometrische Messdaten erhoben wurden, wie der beigefügte Bericht vom 28. April 2002 ausweise. Im Gutachten vom 14. Oktober 2003 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21. März 2004 legte Prof. Dr. M. dar, zum Ursachenzusammenhang könne er keine Aussage machen, wenn der Schalldruck und der Abstand von der Schallquelle nicht bekannt seien. Insbesondere Schalldrücke von mehr als 130 dB seien geeignet, die angegebenen Schwindelerscheinungen kurzfristig zu verursachen. Die Untersuchung zeige in einigen audiologischen Befunden eine Kongruenz, in anderen Befunden eine deutliche Differenz. Die subjektiv angegebenen Werte im Tonschwellen- und Sprachaudiogramm korrelierten nicht mit den Ergebnissen der otoakustischen Emissionen rechts. Auffallend seien das Fehlen des Recruitments und der Umstand, dass eine gute Kommunikation bei der Unterhaltung in 1 bis 2 m möglich gewesen sei, was nicht zum Ergebnis der Prüfung der Umgangssprache in 0,5 m (!) passe. Die am Abend des Ereignisses als Fotografin eingesetzte Kollegin des Klägers, Frau S1, konnte keine näheren Angaben zu den Abläufen machen. Sie bestätigte in Ihren Schreiben vom 19. August und 27. Dezember 2005, dass die Musik extrem laut gewesen sei und sich der Kläger in der Nähe der Lautsprecher aufgehalten habe. Prof. Dr. L. führte in seinem Gutachten vom 12. Oktober 2005 und seinen ergänzenden Stellungnahmen vom 1. Februar sowie 9. August 2006 aus, der insbesondere am linken Ohr vorliegende Hörverlust in den tiefen und mittleren Frequenzen passe nicht zum Bild eines Knallschadens, der Hörverlust auf dem rechten Ohr sei auch nur mit Vorbehalten durch ein akutes Lärmtrauma zu erklären. Dies setze aber Belastungen von mindestens 130 dB voraus. Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Messungen, insbesondere eine Verschlechterung des Hörvermögens nach dem Ereignis, ließen eher den Schluss zu, dass bei dem Kläger, welcher nunmehr 60 Jahre alt sei, eine vorzeitige Altersschwerhörigkeit eingesetzt habe.

Mit Bescheid vom 13. September 2006 (in hinsichtlich des Ereignisdatums korrigierter Fassung) lehnte die Beklagte Leistungen aus Anlass des Ereignisses ab. Ein Arbeitsunfall werde nicht anerkannt. Trotz Ermittlungen habe das angegebene Knalltrauma nicht bewiesen werden können. Die Zeugin S1 habe es nicht bestätigen können. Im Übrigen passe das Bild des Hörschadens nicht zu einer Schädigung durch ein akutes Knalltrauma. Den dagegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2007 zurück.

Im erstinstanzlichen Klageverfahren sind Prof. Dr. L1/ Prof. Dr. L2 im Gutachten vom 3. März 2014 zu dem Ergebnis gekommen, es liege auf der rechten Seite eine hochfrequent betonte Hörminderung mit einer maximalen tieffrequenten Hörminderung von etwa 25 dB beidseits sowie eine chochleäre Schädigung vor. Linksseitig zeige sich eine bei 40 dB beginnende Hörminderung bis 500 Hz mit folgendem Schrägabfall bis auf 80 dB bei 6000 Hz. Außerdem liege ein Ohrgeräusch vor. Es habe sich eine asymmetrische, zu Gunsten der linken Seite bestehende Schallempfindungsschwerhörigkeit im Sinne einer Innenohrschwerhörigkeit gezeigt. Um den Ursachenzusammenhang festzustellen, bedürfe es einer technischen Einschätzung der Lärmbelastung, die offenbar nicht mehr möglich sei. Gehe man jedoch davon aus, dass eine akute Lärmbelastung von über 120 dB stattgefunden habe, so sei prinzipiell eine akute Lärmtraumatisierung möglich. Es müsse davon ausgegangen werden, dass ein atypisches akutes Lärmtrauma vorgelegen habe. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage jedoch 0 v. H., gemeinsam mit dem Ohrgeräusch bleibe sie unter 10 v. H.

Mit Urteil vom 11. September 2014 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es könne nicht festgestellt werden, dass ein Unfall vorgelegen habe. Es fehle bereits an einer äußeren Einwirkung wie z. B. Lärm in einem Ausmaß, dass er auf den Kläger schädigend gewirkt haben könne. Auch die Zeugin S1 habe kein Knallgeräusch, sondern lediglich laute Musik bestätigt. Prof. Dr. L1/ Prof. Dr. L2 unterstellten im Gutachten vom 3. März 2014 das Vorliegen einer akuten Lärmbelastung, für die es keine ausreichenden Anhaltspunkte gebe.

Gegen das seinem Bevollmächtigen am 1. Oktober 2014 zugestellte Urteil hat der Kläger am 3. November 2014, einem Montag, Berufung eingelegt. Die erstinstanzliche Entscheidung stelle eine Überraschungsentscheidung dar, denn das Sozialgericht habe ihn (den Kläger) nicht darauf hingewiesen, dass es Zweifel an Art und Umfang der auf ihn (den Kläger) einwirkenden Lärmexposition am 18. April 2002 habe. Es habe das Gutachten von Prof. Dr. L1/ Prof. Dr. L2 nicht hinreichend berücksichtigt, aus dem sich ergebe, dass die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Lärm hervorgerufene Hörminderung mit ebenfalls hoher Wahrscheinlichkeit Resultat der Schädigung vom 18. April 2002 gewesen sei. Überraschend habe das Sozialgericht die im Gutachten zugrunde gelegte Lärmbelastung von über 120 dB als nicht nachgewiesen angesehen, obwohl zuvor in der mündlichen Verhandlung Einigkeit über seinen Aufenthalt (den des Klägers) in unmittelbarer Nähe der Lautsprecher und der Trompeter bestanden habe. Hinsichtlich des durch Trompeten verursachten Lärms stünden Ermittlungen noch aus.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 11. September 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Februar 2007 aufzuheben und festzustellen dass das Ereignis vom 18. April 2002 ein Arbeitsunfall war.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat im Berufungsverfahren die Auffassung vertreten, die erstinstanzliche Entscheidung sei zutreffend. Im Berufungsverfahren würden von Klägerseite keine Gesichtspunkte vorgetragen, die zu einer anderen Beurteilung führen könnten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 16. Februar 2016 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers (vgl. §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung, bei dem Ereignis vom 18. April 2002 handele es sich um einen Arbeitsunfall.

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit. Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheits(-erst-)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(-erst-)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196). Dabei sind die tatsächlichen Grundlagen der Ursachenzusammenhänge stets im Vollbeweis zu sichern. Das bedeutet, die Umstände des Falles müssen nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sein, insoweit die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Hierfür bedarf es zwar nicht einer absoluten Gewissheit, aber doch immerhin eines der Gewissheit nahekommenden Grades der Wahrscheinlichkeit. Zur Feststellung des kausalen Zusammenhangs reicht indessen nach allgemeiner Auffassung die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl. schon BSG v. 02.02.1978, 8 RU 66/77, SozR 2200 § 548 Nr. 38 = BSGE 45, 285; BSG v. 30.04.1985, 2 RU 24/84, SozR 2200 § 548 Nr. 70 = BSGE 58, 76; BSG v. 30.04.1985, 2 RU 43/84, SozR 2200 § 555a Nr. 1 = BSGE 58, 80; BSG v. 20.01.1987, 2 RU 27/86, SozR 2200 § 548 Nr. 84 = BSGE 61, 127): Während die einzelnen Glieder der Kausalkette (versicherte Tätigkeit, schädigende Einwirkung und Gesundheitsschaden) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen müssen, ohne dass eine völlige Gewissheit zu fordern ist, genügt für den Ursachenzusammenhang eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, d.h. es müssen mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen. Die bloße Möglichkeit genügt allerdings nicht (vgl. BSG v. 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196 m. zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung des BSG).

Während das Vorliegen einer versicherten Tätigkeit zu bejahen ist, weil der Kläger auf der Veranstaltung seiner Arbeit als Pressefotograf nachging, ist das Vorliegen eines schädigenden Ereignisses nicht erwiesen. Zwar mag es auf der Veranstaltung laut gewesen sein und es mag auch einzelne besonders laute Geräusche gegeben haben, ob nun als ein eher technisch bedingtes Geräusch aus dem Lautsprecher (z. B. durch Rückkoppelung wie es der Kläger in der Unfallmeldung vorgetragen hat) oder aufgrund kräftigem Trompetens (wie es der Kläger in späteren Darlegungen angegeben hat). Aber es lässt sich nicht feststellen, ob über einen längeren Zeitraum oder als Einzelgeräusch Lärmpegel vorgelegen haben, die generell geeignet sind, die Gesundheit zu schädigen. Trotz entsprechender Bemühungen ist es der Beklagten nicht gelungen, festzustellen, welche Art von Lautsprechern bei der Veranstaltung verwendet wurden, um so messen zu können, mit welcher Lärmintensität ein Rückkoppelungsgeräusch bei ihnen einher geht. Der Lärmpegel einer Live-Band oder eines Trompeteneinsatzes entzieht sich einer objektivierenden Feststellung dadurch, dass die Lautstärke variabel ist. Auch kann aus den Feststellungen zur gesundheitlichen Situation des Klägers am Folgetag nicht auf die generelle Eignung der Lärmexposition zur gesundheitlichen Schädigung geschlossen werden. Hinsichtlich der sowieso nur geringgradigen Hörminderung beim Kläger fehlt es insoweit bereits an Vergleichsdaten, ob und ggfs. in welchem Umfang eine Hörminderung am Tag des Ereignisses eingetreten ist, denn der Kläger war zuvor nicht in HNO-ärztlicher Behandlung, so dass sein Hörvermögen vor dem Ereignis nicht bekannt ist. Insoweit reicht es nicht, dass der Kläger sich selbst als im Hörvermögen uneingeschränkt empfunden hat, denn gerade altersbedingte Hörverluste entstehen schleichend und werden von den Betroffenen lange nicht wahrgenommen. Bei der HNO-ärztlichen Vorstellung am Tag nach dem angeschuldigten Ereignis ist ausweislich des Berichtes vom 6. Mai 2002 der Verdacht auf eine psychogene Hörstörung geäußert worden. Von keinem der im Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen ist eine für ein lärmbedingtes Trauma typische Hörminderung festgestellt worden. Abgesehen von nicht eindeutigen Messergebnissen, die sich sogar teilweise widersprechen, wie sie insbesondere Prof. Dr. M. in seinem Gutachten dezidiert darlegt, waren neben Schäden im Hochtonbereich, die für Lärmschäden typisch wären, zumindest auch Schäden im mittleren und tiefen Frequenzbereich feststellbar, die nicht durch Lärm verursacht werden können. Außerdem ist es zwischen der Untersuchung während des auf das Ereignis folgenden stationären Aufenthalts und der ca. 1 ½ Jahre danach erfolgten Untersuchung bei Prof. Dr. M. zu einer Verschlechterung des Hörvermögens gekommen, was ausweislich der Stellungnahme von Prof. Dr. L. vom 1. Februar 2006 gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit spricht. Der Umstand, dass es in den (weiteren) Folgejahren keine Verschlechterung des Hörvermögens mehr gegeben hat, kann diesen Gesichtspunkt nicht relativieren. Dementsprechend stellt auch die Gutachterin Prof. Dr. L1 einen für eine Lärmeinwirkung untypischen Schaden fest. Der als Gesundheitsschädigung durch das Ereignis geltend gemachte Tinnitus lässt keinen Rückschluss auf eine stattgehabte Lärmbelastung zu, weil ein Ohrgeräusch ganz unterschiedliche Ursachen haben kann. Soweit der Kläger Schwindel und Übelkeit als gesundheitliche Folgen des Ereignisses angibt, so ist dies nach den Ausführungen von Prof. Dr. L. in seinem Gutachten für ein Knalltrauma nicht typisch, sondern allenfalls bei einem Lärmtrauma durch mindestens einige Minuten anhaltenden Lärm mit Schallpegeln von 130 bis 160 dB – wofür hier jedoch keine Anhaltspunkte bestehen – denkbar, kann im Übrigen aber viele andere Ursachen haben. Entsprechend legt Prof. Dr. L1 in ihrem Gutachten dar, dass Schwindel im Rahmen lärmbedingter Schädigungen unbekannt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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