L 2 R 94/14

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 20 R 4/11
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 R 94/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Juli 2014 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Die am xxxxx 1957 geborene Klägerin stammt aus der T. und lebt seit dem Jahr 1973 in Deutschland. Eine förmliche Berufsausbildung hat sie nach eigenen Angaben nicht absolviert. Nachdem sie von 1976 bis 1981 als Lagerarbeiterin gearbeitet hatte, nahm sie zum 1. Mai 1981 eine Beschäftigung beim U. auf. Die Entlohnung erfolgte bis zum 31. Dezember 2006 nach der Entgeltgruppe Kr II des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT), ab dem 1. Januar 2007 nach der Entgeltgruppe 3a (Stufe 6+) des Tarifvertrages für den Krankenhaus-Arbeitgeberverband Hamburg e.V. (TV-KAH, vom 14. Juni 2007). Von März bis August 2007 sowie ab Anfang des Jahres 2008 war die Klägerin arbeitsunfähig. Das Arbeitsverhältnis endete kraft arbeitgeberseitiger Kündigung am 28. Februar 2009, nachdem kurz zuvor ein Arbeitsversuch gescheitert war. Seither ist die Klägerin arbeitslos.

Am 16. Dezember 2009 beantragte die Klägerin Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte zog die Unterlagen des MDK N. bei und veranlasste Begutachtungen durch den Orthopäden Dr. L. und den Arzt für Nervenheilkunde Dr. S1. Mit Bescheid vom 21. Mai 2010 lehnte sie den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin könne trotz eines Lendenwirbelsäulensyndroms, einer Retropatallararthrose, Persönlichkeitsstörung, Essstörung, somatoformer Funktionsstörungen und Dysthymie noch mindestens sechs Stunden täglich sowohl unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes als auch im zuletzt ausgeübten Beruf als OP-Schwester erwerbstätig sein.

Die Klägerin legte hiergegen am 28. Mai 2010 Widerspruch ein und regte eine erneute Untersuchung sowie eine Befragung des behandelnden Neurologen und des behandelnden Orthopäden an.

Die Beklagte holte Befundberichte von Herrn G. und Dr. K. ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2010 mit der Begründung zurück, auch die Beweiserhebung im Widerspruchsverfahren hätten keine weiteren Einschränkungen des Leistungsvermögens ergeben.

Am 3. Januar 2011 hat die Klägerin Klage erhoben gerichtet auf Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung. Sie hat hinsichtlich des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit ausgeführt, sie sei im U. zunächst als Helferin angestellt worden, dann aber wegen auffällig guter Leistungen alsbald zur angelernten Operationsschwester aufgestiegen. Ausweislich eines Zeugnisses des kommisarischen Direktors der Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Prof. Dr. S2 vom 21. Januar 1986 sei sie infolge von Personalmangel in zunehmendem Maße in den Aufgabenbereich einer Operationsschwester einbezogen worden und inzwischen eine "voll intregrierte Mitarbeiterin".

Die Beklagte hat – unter Hinweis auf eine Stellungnahme der Berufskundlichen Beraterin J1 – ausgeführt, die Klägerin sei durchgängig als Pflegehelferin beschäftigt gewesen. Die Entlohnung sei zunächst nach der für angelernte und einjährig gelernte Pflegehelfer einschlägigen Entgeltgruppe BAT Kr II erfolgt. Nach Umstellung des Tarifvertrages sei sie sodann nach Entgeltgruppe 3 TV-KAH entlohnt worden. Auch hierbei handele es sich um eine Entgeltgruppe für den Angelerntenbereich. Allgemein seien Pflegehelfer der unteren Angelerntenebene zuzuordnen (Hinweis auf Bayerisches LSG, Urteil vom 18. Dezember 2003 – L 14 RA 251/00). Somit sei die Klägerin sozial und gesundheitlich zumutbar auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.

Das Sozialgericht hat eine Arbeitgeberauskunft des U. (unterzeichnet von der später als Zeugin vernommen Frau L1) vom 20. Februar 2012 eingeholt, in der es heißt, die Klägerin sei als "angelernte Arbeitskraft, Pflegehelferin" mit Springer- und Instrumentiertätigkeiten sowie "wie eine Pflegekraft im Operationsdienst" beschäftigt gewesen. Die innerbetriebliche Einarbeitung habe sechs Monate gedauert.

Weiterhin hat das Sozialgericht im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17. Juli 2014 die Zeugin L1 vernommen, die seit dem Jahr 1994 als OP-Leiterin im U. beschäftigt war. Sie hat ausgesagt, die Klägerin habe wie eine Fachpflegerin für den operativen Funktionsdienst gearbeitet. Dies entspreche einer examinierten Krankenschwester mit einer zusätzlichen Qualifikation. Als "normale" Krankenschwester habe die Klägerin nicht arbeiten können, da ihr Tätigkeitbereich dafür zu spezialisiert gewesen sei. Ausgebildete Kräfte könnten auch in zwei oder drei anderen Fachgebieten eingesetzt werden, für weitere Fachgebiete sei eine umfangreiche Einarbeitung erforderlich. Zu Unterschieden der Vergütung könne sie keine Aussage machen. Einschränkungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit habe es nicht gegeben. Es sei allerdings nicht möglich gewesen, die Klägerin in einem anderen Bereich als dem HNO-Bereich einzusetzen, da die Tätigkeit im HNO-Bereich "antrainiert" gewesen sei. Im Zuge einer Umstrukturierung im Jahr 2007 seien die Bereich Orthopädie, HNO, "Mund/Kiefer/Gesicht" und "Traumatologie" zusammengelegt worden. Das Personal habe überall tätig sein müssen. Mit dem Einsatz in anderen Bereichen als dem HNO-Bereich sei die Klägerin allerdings überfordert gewesen. Es seien aber auch manche der ausgebildeten Kräfte mit einem solchen Einsatz überfordert gewesen. Auch für eine ausgebildete Kraft, die seit dem Jahr 1981 ausschließlich im HNO-Bereich eingesetzt gewesen sei, sei ein Wechsel in einen anderen Bereich schwierig gewesen.

Weiter hat das Gericht den berufskundlichen Sachverständigen W., Teamleiter der A., als Sachverständigen (mündlich) gehört. Er hat ausgeführt, bei den Entgeltgruppen, nach denen die Klägerin entlohnt worden sei, handele es sich um Vergütungsgruppen von Angelernten. Bei Annahme einer Facharbeitertätigkeit sei davon auszugehen, dass sozial und gesundheitlich zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht zur Verfügung stünden.

Den sozialmedizinischen Sachverhalt hat das Sozialgericht aufgeklärt durch Einholung von Reha-Entlassungsberichten der D.-Klinik in B. und der psychiatrischen Tagesklinik J.-Haus, von Befundberichten der Psychotherapeutin Dr. S. und des Arztes für Nervenheilkunde G. sowie eines Gutachtens des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. M. (vom 30. September 2013). Der Sachverständige hat bei der Klägerin eine chronifizierte depressive Störung in Form einer Dysthymie festgestellt und sie für in der Lage gehalten, geistig einfache und körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit nur geringer Verantwortung, nicht unter Zeitdruck, nicht im Akkord und nicht in Nachtarbeit regelmäßig vollschichtig zu verrichten. Die Wegefähigkeit sei erhalten. Die Klägerin könne in Bezug auf leidensgerechte Tätigkeiten Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung mit zumutbarer Willensanstrengung überwinden.

Durch Urteil vom 17. Juli 2014 (der Beklagten zugestellt am 29. August 2014) hat das Sozialgericht den Bescheid vom 21. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 2010 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin aufgrund eines Leistungsfalles vom 16. Dezember 2009 unbefristet Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide seien hinsichtlich der Ablehnung einer Erwerbsminderungs-rente gem. § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) rechtlich nicht zu beanstanden, da die Klägerin ausweislich des Ergebnisses der medizinischen Beweisaufnahme nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VI sei. Sie seien aber insoweit rechtswidrig, als sie einen Anspruch der Klägerin auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI versagten.

Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI habe die Klägerin nicht, da sie nicht erwerbsgemindert sei. Ausweislich des Gutachtens von Prof. Dr. M. und des Reha-Entlassungsberichts der D.-Klinik leide sie an Dysthymie sowie an Patellofemuralisschmerzen bei degenerativen Kniegelenksveränderungen und könne daher nur noch leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen, ohne das Ersteigen von Leitern und Gerüsten, ohne schweres Heben, Tragen und Bewegen von Lasten sowie ohne Arbeiten im Hocken und Knien ausüben, weiterhin nur Tätigkeiten mit einfachen geistigen Anforderungen und geringer Verantwortung ohne Zeitdruck, Akkord und Nachtarbeit. Unter Beachtung dieser Einschränkungen könne die Klägerin sechs Stunden und mehr arbeitstäglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.

Die Klägerin habe jedoch Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit im U. sei unter Zugrundelegung des von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschemas als Fachangestelltentätigkeit zu qualifizieren. Dieser Gruppe seien neben den Versicherten mit mehr als zweijähriger Ausbildung auch diejenigen Versicherten zuzuordnen, die in einem anerkannten Ausbildungsberuf gearbeitet hätten ohne die hierfür erforderliche Ausbildung durchlaufen zu haben, wenn ihre Kenntnisse und Fertigkeiten denjenigen eines vergleichbaren Facharbeiters bzw. Angestellten mit abgelegter Prüfung entsprächen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 13 RJ 89/98 R).

Die Kammer sei zu der Auffassung gelangt, dass die Klägerin auf der Ebene einer Fachangestellten tätig gewesen sei, weil sie wie eine examinierte Fachpflegerin für den operativen Funktionsdienst (OP-Schwester) eingesetzt worden sei. Bei diesem Beruf handele es sich um einen Weiterbildungsberuf nach dreijähriger Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger (früher: Krankenschwester / -pfleger). Dies ergebe sich aus den Aussagen der Zeugin L1, die als OP-Leiterin genaue Kenntnisse über Einsatzbereich, Inhalt und Qualität der Arbeit der Klägerin gewonnen habe. Die Kammer zweifle nicht daran, dass die Ausführungen der Zeugin zutreffend seien. Ihre Angaben würden auch bestätigt durch das Arbeitszeugnis des Prof. Dr. S2, der bereits für das Jahr 1986 den Einsatz der Klägerin als Operationsschwester bestätigt habe.

Dass die Klägerin im U. offiziell als angelernte Arbeitskraft und Pflegehelferin geführt und auch vergütet worden sei, vermöge die Beurteilung auf rentenrechtlicher Ebene nicht zu erschüttern. Die tarifliche Eingruppierung sei im Rahmen der Beurteilung der maßgeblichen Tätigkeit im Sinne des § 240 SGB VI zwar als wichtiges Indiz heranzuziehen. Eine Facharbeitertätigkeit sei jedoch selbst dann anzunehmen, wenn Versicherte weder die hierfür vorgesehene Berufsausbildung durchlaufen hätten noch entsprechend tariflich eingestuft worden seien, gleichwohl aber Facharbeitertätigkeiten verrichtet hätten und die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besäßen (Hinweis auf DRV-Schriften Band 96, Dez. 2001, Die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, S. 115, 116 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG).

Dies sei bei der Klägerin der Fall. Sie sei wie eine ausgebildete OP-Schwester eingesetzt worden und habe über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt. Dabei sei besonders zu berücksichtigen, dass die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit sich durch ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber Menschen auszeichne, was nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sogar dann zur Einstufung auf der Ebene des Facharbeiters führen könne, wenn es sich um eine Berufstätigkeit handele, die keinem Ausbildungsberuf entspreche (Hinweis auf BSG, Urteil vom 12. Februar 2004, B 13 RJ 34/03 R, SozR 4-2600 § 43 Nr. 1 – Geschäftsführer eines Karussells).

Nach Auffassung der Kammer sei auch die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts notwendige Wettbewerbsfähigkeit zu bejahen, die bei Unausgebildeten im Verhältnis zu voll ausgebildeten Facharbeitern /-angestellten gegeben sein müsse, um auf der entsprechenden Ebene des Mehrstufenschemas eingeordnet zu werden.

Zwar sei die Klägerin nach den überzeugenden Ausführungen der Zeugin nicht in der Lage gewesen, in einem anderen Fachgebiet als dem HNO-Bereich in gleicher Funktion tätig zu sein, was ihre Wettbewerbsfähigkeit grundsätzlich in Frage stelle. Bei der Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit sei jedoch generell zu berücksichtigen, dass auch ausgebildete Kräfte nach langjähriger Berufstätigkeit einen Teil ihres theoretischen Fachwissens verloren hätten (Hinweis auf DRV-Schriften, a.a.O., S.115 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG). Wettbewerbsfähigkeit sei daher nur im Verhältnis zu ausgebildeten Fachkräften mit vergleichbarer beruflicher Einsatzbreite und -dauer zu verlangen. Eine in diesem Sinne vergleichbare ausgebildete OP-Schwester, die über 20 Jahre ausschließlich im HNO-Bereich eingesetzt gewesen wäre, hätte aber, wie die Zeugin erklärt habe, einen Wechsel in einen anderen Bereich ebenfalls nur unter Schwierigkeiten bewältigen können. Die Zeugin habe glaubhaft berichtet, dass die Umstrukturierung im OP-Bereich des U. dazu geführt habe, dass auch ausgebildete Kräfte mit einer Erweiterung ihres Einsatzbereichs überfordert gewesen seien.

Wie der berufskundliche Sachverständige W. im Termin zur mündlichen Verhandlung überzeugend ausgeführt hat, könne die Klägerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Leistungseinschränkungen nicht mehr im bisherigen Beruf einer OP-Schwester tätig sein. Das gleiche gelte für Tätigkeiten, auf die die Klägerin innerhalb des dargelegten Stufenschemas sozial zumutbar verwiesen werden könne. Dabei scheide der gesamte Bereich der Pflege, den die Klägerin grundsätzlich im Rahmen der generell zumutbaren Einarbeitungs- oder Einweisungszeit von maximal drei Monaten erlernen könne, schon wegen ihrer Krankheiten auf orthopädischem Fachgebiet und des Ausschlusses von Tätigkeiten, die mit schwerem Heben oder dem Bewegen von Lasten verbunden seien, aus.

Der Klägerin stehe daher eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu. Da die Leistungseinschränkungen seit Antragstellung bestanden hätten und eine Besserung der Gesundheitsstörungen nicht zu erwarten sei, sei die Rente ab Antragstellung und ohne zeitliche Befristung zuzusprechen.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gem. § 240 Abs. 1 in Verbindung mit § 43 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Nr. 1 SGB VI lägen, wie sich aus der Verwaltungsakte der Beklagten ergebe, bei einem Leistungsfall ab Antragstellung vor.

Die Beklagte hat am 16. September 2014 Berufung eingelegt.

Sie verweist zur Begründung auf eine Stellungnahme der berufskundlichen Beraterin Frau J1: Die Klägerin habe keine reguläre berufliche Qualifikation im Pflegebereich absolviert und sei ausweislich der vom Sozialgericht eingeholten Arbeitgeberauskunft als Pflegehelferin beschäftigt und entlohnt worden. An der Aussage der Zeugin L1 falle auf, dass sie sich nur auf Tätigkeiten bis zum Jahr 2007 beziehe; für die Zeit danach gebe es keine Auskünfte. Dem Gutachten von Prof. Dr. M. sei weiterhin zu entnehmen, dass die Klägerin das Angebot einer entsprechenden Berufsausbildung abgelehnt habe mit der Begründung, sie sehe sich dazu nicht in der Lage. Weiterhin habe Frau L1 ausgesagt, dass die Klägerin zwar an ihrem speziellen Arbeitsplatz dieselben Tätigkeiten verrichtet habe wie eine examinierte OP-Schwester. Diese seien "antrainiert" gewesen; die Klägerin sei weder in anderen OP-Bereichen noch als "normale Krankenschwester" einsetzbar gewesen. Dementsprechend habe sie auch der Einsatz in anderen OP-Bereichen überfordert.

Dass die Klägerin Tätigkeiten ausgeübt habe, die auch von examinierten Krankenschwestern verrichtet würden, spreche nicht für Facharbeiterschutz, da das Berufsbild einer examinierten Gesundheits- und Krankenpflegerin auch einfache Arbeiten mit einschließe. Im Gegensatz zu Pflegehelferinnen seien sie allerdings dazu berechtigt und in der Lage, selbstständig verantwortliche Heiltätigkeiten auszuüben. Pflegehelferinnen dürften schon aus rechtlichen Gründen nur in Assistenzfunktionen tätig sein. Dementsprechend sei die Klägerin eben auch nicht flexibel einsetzbar und könne dem typischen Anforderungsprofil des Berufs nicht gerecht werden. Für eine Gleichstellung mit einem ausgebildeten Facharbeiter sei jedoch – neben einer entsprechenden tariflichen Einstufung und Entlohnung – zu fordern, dass der Versicherte nicht nur eine seinem individuellen Arbeitsumfeld entsprechende Leistung erbringe, sondern auch über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fähigkeiten verfüge, die in seiner Berufsgruppe allgemein erwartet würden (Hinweis auf BSG, Urteil vom 29. Oktober 1985 – 5b/1 RJ 14/84, SozR 2200 § 1246 Nr. 131).

Eine solche Wettbewerbsfähigkeit sei im vorliegenden Fall aber bereits im Hinblick auf die rechtlichen Hindernisse infolge der strengen Reglementierung der Berufe im Gesundheitswesen nicht gegeben. Im Übrigen sei die Klägerin auch nicht gegenüber ausgebildeten Gesundheits- und Krankenpflegehelferinnen in H. wettbewerbsfähig, da sie den landesrechtlichen Regelungen nicht gerecht werde. Die Klägerin sei auch immer nur als angelernte Pflegehelferin entlohnt worden. Trotz langjähriger Beschäftigung sei die Entlohnung nur nach der Vergütungsgruppe Kr II erfolgt, bereits ein Aufstieg kraft Zeitablaufs in die Gruppe Kr IV sei daran gescheitert, dass sie nur einfach angelernt gewesen sei. Dementsprechend habe auch die Überleitung in den TV-KAH nur zur Eingruppierung in der untersten Entgeltgruppe geführt.

Die Klägerin könne auch keinen Berufsschutz als operationstechnische Assistentin geltend machen. Eine operationstechnische Assistentin verfüge nach dreijähriger Ausbildung an einer Berufsfachschule über die hinreichenden Kenntnisse zur Ausübung ihres Berufs in Krankenhäusern, Arztpraxen und Operationszentren jeder medizinischen Fachrichtung. Demgegenüber sei die Klägerin lediglich in der Lage gewesen, im HNO-Bereich zu arbeiten, wo ihr die entsprechende Handgriffe "antrainiert" worden seien. Mit einem Einsatz in anderen Bereichen sei sie überfordert gewesen, was bereits dagegen spreche, dass sie das Aufgabenprofil einer dreijährig ausgebildeten operationstechnischen Assistentin habe erfüllen können.

Darüber hinaus sei auch diesbezüglich davon auszugehen, dass öffentliche Arbeitgeber Fachkräfte entsprechend entlohnten. Tatsächlich sei die Klägerin aber nicht einmal einer einjährig angelernten Kraft gleichgestellt gewesen (Hinweis auf BSG, Urteile vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 69/90, und vom 14. Oktober 1992 – 5 RJ 10/92).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Juli 2014 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil: Es treffe zu, dass sie nie in der Pflege beschäftigt gewesen sei, jedoch habe sie dies mit zahlreichen anderen Beschäftigten gemeinsam, die vergleichbare Arbeiten bei Operationen ausführten. Da der Personalbedarf das Angebot an ausgebildeten OP-Schwestern weit überstiegen habe, hätten Kliniken regelmäßig auf Kräfte ohne entsprechende Ausbildung zurückgegriffen. Sie selbst sei auch als "Chefschwester" für die Pflege von Privatpatienten zuständig gewesen und habe "heimlich" auch Dienstpläne erstellt, weil sich niemand anderes für diese Aufgabe gefunden habe.

Aufgrund dieses hohen Personalbedarfs gebe es seit langem den Beruf der Operationstechnischen Angestellten bzw. Assistentin mit einer Ausbildungszeit von drei Jahren, der dem Fachangestelltenbereich zuzuordnen sei. Die Kenntnisse und Fähigkeiten der Klägerin entsprächen diesem Beruf.

Die Bezeichnung und Entlohnung der Klägerin könne demgegenüber nicht maßgeblich sein. Dass die Klägerin mit der Einarbeitung in andere Bereiche überfordert gewesen sei, sei auf ihre gesundheitliche Situation und nicht auf mangelnde Kenntnisse oder Fähigkeiten zurückzuführen gewesen.

Die Klägerin hat ein Schreiben des U. an ihren (damaligen) Bevollmächtigten (vom 23. April 2008) vorgelegt, in dem es heißt, sie sei seit 1981 als Pflegehelferin im Operationsbereich eingesetzt worden, verfüge allerdings nicht über eine Ausbildung zur Operationsschwester (die im Übrigen eine Grundausbildung mit Diplomabschluss in einem Pflegeberuf voraussetze, woran es der Klägerin fehle).

Der Senat hat am 24. Februar 2016 über die Berufung mündlich verhandelt. Auf das Sitzungsprotokoll wird verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat Erfolg. Sie ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie ist auch begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind auch insoweit nicht rechtswidrig im Sinne vom § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, wie das Sozialgericht sie abgeändert hat. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist allein der vom Sozialgericht zuerkannte Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI). Soweit die Klägerin erstinstanzlich einen (wegen des höheren Rentenartfaktors weitergehenden) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung geltend gemacht hatte, hat sie dieses Begehren nicht mehr weiterverfolgt.

Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit hat die Klägerin deswegen nicht, weil es am Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit fehlt. Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die 1. vor dem 2. Januar 1961 geboren und 2. berufsunfähig sind, bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Berufsunfähig sind gemäß § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 240 Abs. 2 Satz 4 SGB VI).

Ob eine (sozial) zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht kommt, bestimmt sich nach dem qualitativen Wert des zuletzt auf Dauer versicherungspflichtig ausgeübten Berufs. Das Bundessozialgericht hat hierzu in ständiger Rechtsprechung zur Vermeidung einer rechtlich nicht zu rechtfertigenden unterschiedlichen Rechtsanwendung bei Berufen mit gleicher Qualität ein Mehrstufenschema entwickelt, dessen Stufen nach ihrer an Dauer und Umfang der im Regelfall erforderlichen Ausbildung und beruflichen Erfahrung gemessenen Leistungsqualität geordnet sind (vgl. nur BSG, Urteil vom 29. Juli 2004 – B 4 RA 5/04 R, juris, Rn. 33). Es unterscheidet zwischen - ungelernten Berufen (Stufe 1), - Berufen mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (Stufe 2), - Berufen mit einer Ausbildung von mehr als zwei Jahren (Stufe 3), - Berufen, die zusätzliche Qualifikationen oder Erfahrungen oder den erfolgreichen Besuch einer Fachschule voraussetzen (Stufe 4, z.B. Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion gegenüber anderen Facharbeitern), - Berufen, die einen erfolgreichen Abschluss einer Fachhochschule oder eine zumindest gleichwertige Berufsausbildung voraussetzen (Stufe 5) und - Berufen, deren hohe Qualität regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht (Stufe 6).

Sozial zumutbar (§ 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI: "Tätigkeiten, die [ ] ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können") ist stets ein beruflicher Abstieg auf die nächstniedrigere Qualifikationsstufe (anstelle vieler Nazarek in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 240 SGB VI Rn. 91). Hieraus ergibt sich grundsätzlich, dass Versicherte, deren bisheriger Beruf der Stufe 2 (sog. Angelerntenbereich) zuzuordnen ist, sozial zumutbar auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden können. Die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit ist dann nicht erforderlich, wenn der bisherige Beruf der ersten Stufe angehört oder wenn ein sogenannter einfacher Angelernter (Stufe 2, aber Ausbildung nur bis zu einem Jahr) auf ungelernte Berufe verwiesen wird (BSG, a.a.O.).

Ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der Gruppen des Schemas ist allein die Qualität der verrichteten Arbeit, das heißt der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Hierbei kommt der tariflichen Einstufung zum einen die Bedeutung einer abstrakten Klassifizierung einer Tätigkeitsart innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrags zu, zum anderen auch die einer Zuordnung der konkreten, zuletzt ausgeübten Tätigkeit eines Versicherten zu einer Berufssparte und hierüber zu einer bestimmten Tarifgruppe des jeweils geltenden Tarifvertrages (zum Ganzen etwa BSG, Urteil vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 69/90, SozR 3-2200 § 1246 Nr.14 m.w.N.). Hierbei kann die Indizwirkung der tariflichen Einordnung durch den Arbeitgeber dadurch wiederlegt werden, dass sich qualitätsfremde Gründe für diese Einordnung nachweisen lassen (Nazarek in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 240 SGB VI Rn. 77).

Die Klägerin kann sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Inidizwirkung von Eingruppierung und Entlohnung berufen. Dass sie durchgängig nach Entgeltgruppen entlohnt wurde, die dem Angelerntenbereich zuzuordnen sind, ist als solches nicht streitig. Hieran ändert auch das Zeugnis des Prof. S2 aus dem Jahr 1986 nichts.

Die Klägerin kann sich auch nicht der Sache nach darauf berufen, sie sei aus qualitätsfremden Gründen zu niedrig eingruppiert und entlohnt worden. Dies käme überhaupt nur dann in Betracht, wenn sie über die in der einschlägigen Ausbildungsordnung niedergelegten notwendigen theoretischen Kenntnisse und praktische Fertigkeiten für die Ausübung eines Fachangestelltenberufs verfügt und diese Tätigkeit nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hätte (Nazarek in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 240 SGB VI Rn. 77).

Bereits für Ersteres ist indes nichts ersichtlich. Dass die Klägerin keine förmliche Berufsausbildung – weder zur Gesundheits- und Krankenpflegerin (früher: Krankenschwester) im Sinne des Krankenpflegegesetzes noch zur operationstechnischen Assistentin – absolviert hat, ist unstreitig und nicht zu bezweifeln. Ferner spricht auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Sozialgericht nichts dafür, dass die Klägerin über die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten für die Ausübung des Berufs einer Gesundheits- und Krankenpflegerin oder einer operationstechnische Assistentin verfügt. Hierbei mag zutreffen, dass die Klägerin über einen langen Zeitraum im Wesentlichen die gleichen Aufgaben erfüllt hat. Der Annahme von Berufsschutz als Fachgesundheits- und Krankenpflegerin für den Operationsdienst ("OP-Schwester") steht bereits entgegen, dass es sich hierbei um eine Fachweiterbildung für Gesundheits- und Krankenpflegerinnen handelt (vgl. etwa die Verordnung des Baden-Württembergischen Sozialministeriums über die Weiterbildung in den Berufen der Krankenpflege und Kinderkrankenpflege für den Operationsdienst und Endoskopiedienst vom 19. Dezember 2000, GBl. 2001, 78). Da die Klägerin indes – auch nach dem Zeugnis von Frau L1 – nicht über die Kenntnisse und Fähigkeit des "Grundberufes" verfügt, kommt Berufsschutz unter Beschränkung auf eine Fachweiterbildung nicht in Betracht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeit einer operationstechnischen Assistentin (erlangt durch eine in Empfehlungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder landesrechtlich geregelte dreijährige schulische Ausbildung an Berufsfachschulen) verfügt. Gegen diese Annahme spricht, dass die Klägerin (wiederum nach dem Zeugnis von Frau L1) mit einem Einsatz außerhalb des gewohnten (HNO-) Bereichs überfordert war. An die Kenntnisse und Fähigkeiten eines ausgebildeten Fachangestellten müssen allerdings – auch unter Einbeziehung eines mit langjähriger Berufspraxis in nur einem oder wenigen Berufsfeldern einhergehenden Qualifizierungsverlustes – die Anforderungen gestellt werden, dass die Umstellung auf ein anderes Berufsfeld oder Einsatzgebiet grundsätzlich möglich ist. Daher indiziert auch der von der Zeugin geschilderte Umstand, dass auch andere ausgebildete Kräfte Schwierigkeiten mit der Umstellung hatten, keinen Berufsschutz zugunsten der Klägerin.

Weiter ist die Tätigkeit einer Krankenpflegehelferin auch nicht etwa den Angelerntentätigkeiten des oberen Bereiches (Stufe 2, aber Ausbildung von mehr als einem Jahr) zuzuordnen, weswegen die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht erforderlich (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. August 2012 – L 16 R 698/09, juris) und die Klägerin somit sozial zumutbar auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen ist. Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sind der Klägerin – wie sich dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme vor dem Sozialgericht entnehmen lässt – auch gesundheitlich zumutbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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