Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 231/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 230/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 14/14 R
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 26.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2008 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, unter Zurücknahme des Bescheides vom 23.08.1984 die Verletztenrente des Kläger ab 01. Januar 2000 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu berechnen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte hat ½ der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten.
Tatbestand:
Im Streit steht die Neufeststellung des für die Rentenberechnung maßgeblichen Jahresarbeitsverdienstes (JAV) im Wege eines Überprüfungsantrages nach § 44 SGB X.
Der 1954 geborene Kläger verunfallte auf dem Weg zu seiner versicherten Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität C., Fachbereich Chemie, am 20.09.1983, wobei er eine komplette Querschnittslähmung ab TH 4 mit den entsprechenden Ausfällen erlitt. Ab 11.06.1984 ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. festgestellt.
Seit 15.07.1981 war der Kläger als "wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss" an der Universität C. im Fachbereich Chemie mit 92 Stunden im Monat zu einem Jahreseinkommen von 21.126,58 DM brutto zuzüglich 1.902,83 DM Weihnachtsgeld (= ½ A-13-Stelle) beschäftigt. Das vorangegangene Studium der Chemie hatte er als Diplomchemiker abgeschlossen, er war verheiratet und hatte drei Kinder. Nach Auskunft des Arbeitgebers vom 05.12.1983 unterfiel die Tätigkeit nicht dem BAT, es handelte sich um ein Sonderforschungsprojekt, die über die 92 Stunden hinausgehende Arbeitszeit stand dem Kläger laut Schreiben des Prof. Dr. D. vom 28.11.1983 zur Arbeit an seiner Doktorarbeit zur Verfügung. Ausweislich einer Bescheinigung vom 14.12.1983 war das Arbeitsverhältnis befristet bis 31.12.1983, wurde jedoch im Hinblick auf den Unfall bis Juli 1985 verlängert, so dass der Kläger seine Promotion zum Abschluss bringen konnte. Laut Schreiben des Arbeitgebers vom 24.02.1984 bestand nie die Möglichkeit einer Dauerbeschäftigung dort.
Der weitere berufliche Werdegang des Klägers gestaltete sich derart, dass er zunächst eine befristete Arbeitsstelle als promovierter Diplomchemiker am Institut für Strahlenhygiene bei der Außenstelle des Bundesgesundheitsamtes in E. innehatte, von dort am 01.01.1989 eine Versetzung an die Dienststelle des Institutes für Wasser-, Boden- und Lufthygiene in F. erfolgte, und er seit 01.06.2002 dort einen Telearbeitsplatz innehat.
Durch Bescheid vom 23.08.1984 gewährte die Beklagte dem Kläger Verletztenrente ab 11.06.1984 aufgrund einer MdE von 100 v. H., ausgehend von einem Jahresarbeitsverdienst von DM 23.029,41 bzw. DM 23.331,09.
Mit Schreiben vom 10.01.1986 beantragte der Kläger die Neuberechnung der Unfallrente nach § 573 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) mit der Begründung, seine Promotion sei als berufliche Qualifikation für einen Chemiker unerlässlich gewesen, so dass sich der Unfall vor endgültigem Abschluss der Berufsausbildung ereignet habe, weshalb die Höhe der Verletztenrente neu zu berechnen sei. Mit Schreiben vom 23.01.1986 teilte die Beklagte mit, dass die Ausbildung des Klägers zum Zeitpunkt des Unfalles bereits beendet gewesen sei, so dass eine Berechnung lediglich nach § 571 RVO erfolgen könne.
Im September 1997 erfolgte erneut eine interne Überprüfung bei der Beklagten hinsichtlich der Berechnung des JAV im Hinblick darauf, ob nach Promotion eine Neufeststellung des JAV hätte erfolgen müssen. Dies wurde verneint, da nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Promotion nicht mehr als Berufsausbildung gelte.
Im Telefonat vom 08.12.2004 beantragte der Kläger erneut die Überprüfung des JAV und vertrat die Auffassung, dieser sei auf der Grundlage einer vollschichtigen Berufstätigkeit als Diplomchemiker zu berechnen. Die Zugrundelegung der konkreten Verhältnisse im Jahr vor dem Unfall (Teilzeittätigkeit als Doktorand) sei für ihn in erheblichem Maße unbillig. Mit Schreiben vom 22.12.2006 und Telefonat vom 23.02.2007 wiederholte er sein Anliegen.
Durch Bescheid vom 26.02.2008 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 23.08.1984 und Neuberechnung der Verletztenrente auf der Grundlage eines höheren JAV ab, da zum einen die Promotion keine Ausbildung mehr dargestellt habe, zum anderen die Zugrundelegung einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter typisch für junge Naturwissenschaftler und damit nicht unbillig sei. Der hiergegen fristgerecht eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 21.11.2008 als unbegründet zurückgewiesen.
Der Kläger hat hiergegen am 03.12.2008 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 26.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Zurücknahme des Bescheides vom 23.08.1984 die Verletztenrente ab 01.01.2000 auf der Grundlage einer vollschichtigen Berufstätigkeit als promovierter Diplomchemiker,
hilfsweise
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen, insbesondere zum rechtlichen Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Klägers bei der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig und im tenorierten Umfang auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 26.02.2008 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2008 ist aufzuheben, denn er ist rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Neuberechnung seiner Verletztenrente, denn bei der Feststellung des der bisherigen Verletztengeldzahlung zugrundeliegenden Jahresarbeitsverdienstes des Klägers hat die Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Der Bescheid vom 23.08.1984 ist demnach unzutreffend, und damit nach § 44 SGB X zurückzunehmen. Die Feststellungen der Beklagten sind insoweit zu beanstanden, als fehlerhaft nicht § 577 Reichsversicherungsordnung (RVO) angewandt und entsprechend Ermessen ausgeübt worden ist.
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Der Zeitpunkt der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes von vier Jahren, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an Stelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 1 und 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X).
Der hier streitige Leistungszeitraum beginnt somit am 01.01.2000, da der Antrag nach § 44 SGB X vom 08.12.2004 datiert.
Vorliegend sind auch nach In-Kraft-Treten des SGB VII die maßgeblichen Vorschriften der RVO über die Festsetzung des JAV anzuwenden, da nach § 212 SGB VII die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels des SGB VII nur für Versicherungsfälle gelten, die nach Inkrafttreten des SGB VII am 01.01.1997 eingetreten sind – hier trat der Versicherungsfall am 20.09.1983 ein – und in den §§ 213 bis 220 SGB VII nichts anderes bestimmt ist. Dabei ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass hier § 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ausscheidet, da diese Vorschrift die Anwendung der §§ 81 bis 93 SGB VII auf "Altfälle" nur im Rahmen von Erst- sowie Neufestsetzungen des JAV vorsieht. Diese Fallkonstellationen liegen hier nicht vor, der Bescheid über die Festsetzung des Verletztenrente datiert vom 23.08.1984, und es handelt sich um eine Überprüfung im Rahmen des § 44 SGB X, nicht um eine erstmalige Neufestsetzung nach Abschluss einer Schul- oder Berufsausbildung.
Soweit der Kläger erneut eine "Neuberechnung" im Sinne von § 573 Abs. 1 RVO im Wege des § 44 SGB X begehrt mit der Begründung, die Promotion sei Teil seiner Berufsausbildung als Chemiker, so ist diese Argumentation bereits Gegenstand des Antrages vom 10.01.1986 sowie der internen Prüfung der Beklagten im September 1997 gewesen. Für eine erneute Thematisierung dieser Problematik im Rahmen des Antrags vom 08.12.2004 fehlt es insoweit an einem neuen Sachverhalt bzw. der Vorlage neuer Beweismittel.
Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten hat jedoch die Feststellung des für die Verletztenrente des Klägers maßgeblichen JAV nicht gem. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO, sondern auf der Grundlage des § 577 RVO zu erfolgen.
Danach ist der JAV im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzustellen, wenn der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (Satz 1). Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen (Satz 2).
Der JAV kann nach Auffassung der Kammer im Fall des Klägers nicht nach § 571 RVO bemessen werden. Wenn der Versicherte, dessen JAV festzustellen ist, nicht einer besonderen Personengruppe angehört, für die Sonderregelungen in den §§ 573, 576 RVO gelten, und wenn die besonderen Fallkonstellationen der §§ 572 und 574 RVO - wie hier - nicht betroffen sind, richtet sich die Ermittlung des JAV grundsätzlich nach der Vorschrift des § 571 RVO. Der gemäß § 571 Abs 1 Satz 1 RVO zu ermittelnd JAV kann hier jedoch zur Überzeugung des Gerichts der Rentenberechnung nicht zugrunde gelegt werden, da die Zugrundelegung einer halben Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss der Lebenssituation des Klägers unter realistischer Betrachtungsweise zum Unfallzeitpunkt bzw. in der Zeit davor unter normalen Umständen ohne die – eindeutig zeitlich eng begrenzte Zeitphase der Promotion - in keiner Weise gerecht wird.
Zum Zeitpunkt des Unfalles war der Kläger bereits 29 Jahre, Diplomchemiker, verheiratet und hatte drei Kinder. Er hatte unmittelbar nach Abschluss des Diplomstudiums die Promotion begonnen, war davor somit noch nicht in das Erwerbsleben eingetreten und hatte keine Einkünfte erzielt. Die Promotion war zeitlich eng begrenzt und diente dem ausdrücklichen Ziel, die Verdienstmöglichkeiten auf dem engumkämpften "Markt" der Chemiker zu verbessern, also letztlich der Familie langfristig einen gesicherten Lebensunterhalt zu verschaffen. Es ist zur Überzeugung des Gerichts unbillig, davon auszugehen, dass der Verdienst aus einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter auf Dauer gesehen die Einkunftssituation der Familie wiedergeben würde.
Die Anwendung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO – etwa im Sinne einer "Aufstockung" auf zumindest eine Vollzeitbeschäftigung - scheitert am Nichtvorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, denn der Zwölfmonatszeitraum umfasst hier die Zeit vom 20.09.1982 bis zum 19.09.1983. In dieser Zeit sind dem Kläger tatsächlich Entgelte zugeflossen. Auch eine Festsetzung in Höhe des Mindest-JAV nach § 575 RVO hält die Kammer als in erheblichem Maße unbillig.
Schließlich scheidet nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch die Anwendung des § 573 RVO bei dem Kläger aus, da die Promotion nicht als Berufsausbildung, sondern lediglich als Weiterbildung angesehen wird, vgl. hierzu (noch zu § 565 RVG) BSG vom 30.11.1962, 2 RU 193/59; BSG vom 30.10.1991, 2 RU 61/90. Den Unterschied zwischen einem promovierten und einem nicht promovierten Chemiker soll demnach lediglich darin bestehen, dass jener sich durch die Anfertigung einer Doktorarbeit erweiterte Kenntnisse auf einem Spezialgebiet der Chemie erworben, durch die Ablegung des Doktorexamens seine Befähigung zu wissenschaftlichen Arbeiten besonders unter Beweis gestellt und sich für den Wettbewerb im Wirtschafts- oder Arbeitsleben eine nach herkömmlicher Bewertung günstigere Position geschaffen hat. Diese Vorteile gegenüber dem nicht promovierten Chemiker seien jedoch nicht das Ergebnis einer "Berufsausbildung" im Sinne des § 565 RVO, sondern einer Weiterbildung in dem bereits erlernten Beruf. Insoweit liegt der vorliegend zu entscheidende Sachverhalt nicht wesentlich anders als die vom BSG bereits entschiedenen Fälle, z.B. aus dem Gebiet der ärztlichen Tätigkeit vor Erteilung der Facharztanerkennung bzw. der Zulassung zur kassenärztlichen Praxis, in denen die Berufsausbildung eines Arztes mit dem Zeitpunkt, von dem an der Arztberuf ausgeübt werden kann, nämlich mit der Approbation, als beendet angesehen wurde; die weitere, vor Erteilung der Facharztanerkennung abzuleistende ärztliche Tätigkeit und die Vorbereitungszeit für die Zulassung als Kassenarzt sei nicht mehr unter den Begriff beruflichen Weiterbildung oder Qualifizierung zu subsumieren. Demnach endete auch die Berufsausbildung des Klägers formal mit dem Ablegen der Diplom-Chemikerprüfung, denn von diesem Zeitpunkt an war er in der Lage, den erlernten Beruf als Chemiker auszuüben. Dass er aus wirtschaftlichen Gründen zur Promotion mehr oder weniger gezwungen gewesen sein mag, rechtfertigt in Anwendung der Rechtsprechung des BSG keine andere Beurteilung, "weil es für die Masse der approbierten Ärzte in ähnlich hohem Maße zur Sicherung einer auskömmlichen Existenz geboten erscheint, entweder die Anerkennung als Facharzt oder aber die Zulassung als Kassenarzt anzustreben" (vgl. BSG a. a. O.).
Die Festsetzung des maßgeblichen JAV kann nach Auffassung des Gerichts demnach nur auf der Grundlage des § 577 RVO nach billigem Ermessen vorgenommen werden, also innerhalb des Mindest- und Höchst-JAV gem. § 575 RVO.
Die Wertung, ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig festgesetzt ist, kann das Gericht dabei selbst vornehmen, weil der Versicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und ihm in dieser Frage auch kein Beurteilungsspielraum zusteht (BSG vom 09.12.1993, 2 RU 48/92, BSG vom 28.01.1993, 2 RU 15/92; BSG vom 30.10.1991, 2 RU 61/90). Das Vorliegen der erheblichen Unbilligkeit kann unter Berücksichtigung aller Tatumstände nur von Fall zu Fall entschieden werden. Bereits hier sind die für die nach Annahme der Unbilligkeit bei der Feststellung des billigen JAV zu beachtenden Bewertungsgesichtspunkte (Fähigkeiten, Ausbildung und Lebensstellung des Verletzten, seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles oder eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit; vgl. § 577 Satz 2 RVO) zu berücksichtigen (BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr. 1 zu § 577 RVO; BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr. 20; BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9 mwN; BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr. 1). Der von der Beklagten vorgenommene Ansatz eines JAV in Höhe von 23.029,42 bzw. 23.331,09 DM erscheint dem Gericht deshalb unbillig, weil dieser – einmal festgestellte und lebenslang als Grundlage der Verletztenrente dienende - Betrag einerseits nicht "der Lebensstellung des Verletzten" entspricht, d.h. dieser Betrag steht außerhalb jeder Beziehung zu dem, was für den Kläger unter realistischer Betrachtungsweise zum Unfallzeitpunkt bzw. in der Zeit davor unter normalen Umständen ohne die – eindeutig eng begrenzte Zeitphase der Promotion - die finanzielle Lebensgrundlage gebildet hätte, andererseits aus den vorstehenden Ausführungen ersichtlich wird, dass die spezielle Situation des Klägers nicht von den sonstigen gesetzlich vorgesehenen Auffangvorschriften, etwa dem § 573 bzw. dem § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO erfasst wird. "Nach den Zielvorstellungen des Gesetzgebers zu § 577 RVO sollen besondere Gründe, die vorübergehend zu einem niedrigeren Verdienst führen, sich nicht über die gesamte Rentenlaufzeit nachteilig auswirken" (Zitat aus Blatt 2201 Verwaltungsakte).
Für die Entscheidung, ob der Jahresarbeitsverdienst erheblich unbillig ist, ist somit die Lebensstellung des Betroffenen zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls von Bedeutung. Mit Lebensstellung ist der soziale Status einer Person gemeint, hierunter sind neben den Einkünften auch sonstige Aspekte, die ein genaueres Bild über die Lebensstellung eines Versicherten geben könnten als dessen tatsächlich erzielten Einkünfte zu berücksichtigen.
Vor dem Hintergrund dessen, dass sich die aus fünf Personen, darunter drei Kleinkindern bestehende Familie des Klägers im hier relevanten Zeitraum auf Einkünfte aus einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschränkt hatte, man zudem kostenfrei im Rahmen eines vorgezogenen Erbausgleiches im Elternhaus des Klägers wohnte zeigt, dass der Ansatz des JAV durch die Beklagte nicht den realen Verhältnissen der Familie unter Dauergesichtspunkten entsprach. Er erweist sich damit zur Überzeugung des Gerichts als "unbillig" i. S. des § 577 Satz 1 RVO.
Ohne die Promotionsabsicht hätte der Kläger aufgrund seines Lebenskonzeptes mit Ehefrau und drei Kindern eine vollschichtige Tätigkeit als Diplom-Chemiker zu den üblichen tariflichen Bedingungen der freien Wirtschaft ausgeübt. Aufgrund der Größenordnung der Abweichung zwischen dem Ansatz der Beklagten und der der zugrunde zu legenden Lebensstellung des Klägers entsprechenden wirtschaftlichen Lage, wie sie sich nach der Rechtsauffassung des Gerichts darstellt, ist gleichzeitig eine Unbilligkeit "in erheblichem Maße" gegeben. Es existieren zwar keine starren Richtwerte in der Form, dass etwa ab einem bestimmten Prozentsatz der Abweichung eine Unbilligkeit "in erheblichem Maße" anzunehmen ist. Denn ebenso ist auch insoweit eine an den jeweiligen Umständen des Einzelfalles orientierte Betrachtungsweise angebracht (vgl. BT-Drucks IV/120 S. 57). Hier ist jedoch zumindest von einer Vollzeittätigkeit anstelle einer Teilzeitbeschäftigung auszugehen, so dass dieses Kriterium unzweifelhaft erfüllt ist.
Da somit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 577 Satz 1 RVO erfüllt sind, ist die Beklagte nunmehr verpflichtet, den JAV des Klägers im Rahmen des § 575 RVO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts sowie der Wertungskriterien des § 577 Satz 2 RVO nach billigem Ermessen festzustellen.
Sie hat mit dem angegriffenen Bescheid, das ihr zustehende Ermessen nicht ausgeübt, sondern ist fälschlich weiterhin von einer gebundenen Entscheidung bei der JAV-Feststellung ausgegangen. Da das Gericht seine Auffassung nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen darf, wird die Beklagte erneut zu entscheiden haben (BSG SozR 2200, § 577 Nr. 11). Die Festsetzung des JAV muss sich im Rahmen des § 574 RVO halten, darf also den gesetzlichen Mindest-JAV nicht unterschreiten, aber auch nicht den durch Gesetz oder Satzung bestimmten Höchst-JAV überschreiten.
Die Beklagte wird im Rahmen des Ermessens insbesondere zu ermitteln haben, welche Einkünfte ein vollschichtig tätiger Diplom-Chemiker in der freien Wirtschaft nach den entsprechenden Tarifverträgen zum damaligen Zeitpunkt erzielen konnte, wobei auch die Frage der Mobilität angesichts der familiären und örtlichen Bindungen sowie die konkrete Arbeitsmarktlage zu prüfen sein wird. Die Beklagte wird dem Kläger dann einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 131 Abs. 3 SGG) zu erteilen haben.
Zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils lagen dem Gericht die Entscheidungsgründe des Urteils des BSG vom 15.09.2011, Az. B 2 U 24/10 R noch nicht vor. Nachdem diese mittlerweile veröffentlicht sind, bleibt festzuhalten, dass der dortige Sachverhalt nicht mit dem hier zu entscheidenden vergleichbar ist, denn – wie bei allen bisher vom BSG zu beurteilenden Fällen – übte die Klägerin dort vor dem Unfallereignis bereits eine reguläre, die "Lebensstellung" begründende Vollzeittätigkeit aus, bevor sie aus individuellen Gründen diese Tätigkeit reduzierte. Im vorliegenden Verfahren hingegen fand noch kein echter "Eintritt in das Erwerbsleben" statt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
2. Die Beklagte hat ½ der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in gesetzlichem Umfang zu erstatten.
Tatbestand:
Im Streit steht die Neufeststellung des für die Rentenberechnung maßgeblichen Jahresarbeitsverdienstes (JAV) im Wege eines Überprüfungsantrages nach § 44 SGB X.
Der 1954 geborene Kläger verunfallte auf dem Weg zu seiner versicherten Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität C., Fachbereich Chemie, am 20.09.1983, wobei er eine komplette Querschnittslähmung ab TH 4 mit den entsprechenden Ausfällen erlitt. Ab 11.06.1984 ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. festgestellt.
Seit 15.07.1981 war der Kläger als "wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss" an der Universität C. im Fachbereich Chemie mit 92 Stunden im Monat zu einem Jahreseinkommen von 21.126,58 DM brutto zuzüglich 1.902,83 DM Weihnachtsgeld (= ½ A-13-Stelle) beschäftigt. Das vorangegangene Studium der Chemie hatte er als Diplomchemiker abgeschlossen, er war verheiratet und hatte drei Kinder. Nach Auskunft des Arbeitgebers vom 05.12.1983 unterfiel die Tätigkeit nicht dem BAT, es handelte sich um ein Sonderforschungsprojekt, die über die 92 Stunden hinausgehende Arbeitszeit stand dem Kläger laut Schreiben des Prof. Dr. D. vom 28.11.1983 zur Arbeit an seiner Doktorarbeit zur Verfügung. Ausweislich einer Bescheinigung vom 14.12.1983 war das Arbeitsverhältnis befristet bis 31.12.1983, wurde jedoch im Hinblick auf den Unfall bis Juli 1985 verlängert, so dass der Kläger seine Promotion zum Abschluss bringen konnte. Laut Schreiben des Arbeitgebers vom 24.02.1984 bestand nie die Möglichkeit einer Dauerbeschäftigung dort.
Der weitere berufliche Werdegang des Klägers gestaltete sich derart, dass er zunächst eine befristete Arbeitsstelle als promovierter Diplomchemiker am Institut für Strahlenhygiene bei der Außenstelle des Bundesgesundheitsamtes in E. innehatte, von dort am 01.01.1989 eine Versetzung an die Dienststelle des Institutes für Wasser-, Boden- und Lufthygiene in F. erfolgte, und er seit 01.06.2002 dort einen Telearbeitsplatz innehat.
Durch Bescheid vom 23.08.1984 gewährte die Beklagte dem Kläger Verletztenrente ab 11.06.1984 aufgrund einer MdE von 100 v. H., ausgehend von einem Jahresarbeitsverdienst von DM 23.029,41 bzw. DM 23.331,09.
Mit Schreiben vom 10.01.1986 beantragte der Kläger die Neuberechnung der Unfallrente nach § 573 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) mit der Begründung, seine Promotion sei als berufliche Qualifikation für einen Chemiker unerlässlich gewesen, so dass sich der Unfall vor endgültigem Abschluss der Berufsausbildung ereignet habe, weshalb die Höhe der Verletztenrente neu zu berechnen sei. Mit Schreiben vom 23.01.1986 teilte die Beklagte mit, dass die Ausbildung des Klägers zum Zeitpunkt des Unfalles bereits beendet gewesen sei, so dass eine Berechnung lediglich nach § 571 RVO erfolgen könne.
Im September 1997 erfolgte erneut eine interne Überprüfung bei der Beklagten hinsichtlich der Berechnung des JAV im Hinblick darauf, ob nach Promotion eine Neufeststellung des JAV hätte erfolgen müssen. Dies wurde verneint, da nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Promotion nicht mehr als Berufsausbildung gelte.
Im Telefonat vom 08.12.2004 beantragte der Kläger erneut die Überprüfung des JAV und vertrat die Auffassung, dieser sei auf der Grundlage einer vollschichtigen Berufstätigkeit als Diplomchemiker zu berechnen. Die Zugrundelegung der konkreten Verhältnisse im Jahr vor dem Unfall (Teilzeittätigkeit als Doktorand) sei für ihn in erheblichem Maße unbillig. Mit Schreiben vom 22.12.2006 und Telefonat vom 23.02.2007 wiederholte er sein Anliegen.
Durch Bescheid vom 26.02.2008 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 23.08.1984 und Neuberechnung der Verletztenrente auf der Grundlage eines höheren JAV ab, da zum einen die Promotion keine Ausbildung mehr dargestellt habe, zum anderen die Zugrundelegung einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter typisch für junge Naturwissenschaftler und damit nicht unbillig sei. Der hiergegen fristgerecht eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 21.11.2008 als unbegründet zurückgewiesen.
Der Kläger hat hiergegen am 03.12.2008 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 26.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Zurücknahme des Bescheides vom 23.08.1984 die Verletztenrente ab 01.01.2000 auf der Grundlage einer vollschichtigen Berufstätigkeit als promovierter Diplomchemiker,
hilfsweise
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen, insbesondere zum rechtlichen Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Klägers bei der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig und im tenorierten Umfang auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 26.02.2008 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2008 ist aufzuheben, denn er ist rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Neuberechnung seiner Verletztenrente, denn bei der Feststellung des der bisherigen Verletztengeldzahlung zugrundeliegenden Jahresarbeitsverdienstes des Klägers hat die Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Der Bescheid vom 23.08.1984 ist demnach unzutreffend, und damit nach § 44 SGB X zurückzunehmen. Die Feststellungen der Beklagten sind insoweit zu beanstanden, als fehlerhaft nicht § 577 Reichsversicherungsordnung (RVO) angewandt und entsprechend Ermessen ausgeübt worden ist.
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Der Zeitpunkt der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes von vier Jahren, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, an Stelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 1 und 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X).
Der hier streitige Leistungszeitraum beginnt somit am 01.01.2000, da der Antrag nach § 44 SGB X vom 08.12.2004 datiert.
Vorliegend sind auch nach In-Kraft-Treten des SGB VII die maßgeblichen Vorschriften der RVO über die Festsetzung des JAV anzuwenden, da nach § 212 SGB VII die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels des SGB VII nur für Versicherungsfälle gelten, die nach Inkrafttreten des SGB VII am 01.01.1997 eingetreten sind – hier trat der Versicherungsfall am 20.09.1983 ein – und in den §§ 213 bis 220 SGB VII nichts anderes bestimmt ist. Dabei ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass hier § 214 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ausscheidet, da diese Vorschrift die Anwendung der §§ 81 bis 93 SGB VII auf "Altfälle" nur im Rahmen von Erst- sowie Neufestsetzungen des JAV vorsieht. Diese Fallkonstellationen liegen hier nicht vor, der Bescheid über die Festsetzung des Verletztenrente datiert vom 23.08.1984, und es handelt sich um eine Überprüfung im Rahmen des § 44 SGB X, nicht um eine erstmalige Neufestsetzung nach Abschluss einer Schul- oder Berufsausbildung.
Soweit der Kläger erneut eine "Neuberechnung" im Sinne von § 573 Abs. 1 RVO im Wege des § 44 SGB X begehrt mit der Begründung, die Promotion sei Teil seiner Berufsausbildung als Chemiker, so ist diese Argumentation bereits Gegenstand des Antrages vom 10.01.1986 sowie der internen Prüfung der Beklagten im September 1997 gewesen. Für eine erneute Thematisierung dieser Problematik im Rahmen des Antrags vom 08.12.2004 fehlt es insoweit an einem neuen Sachverhalt bzw. der Vorlage neuer Beweismittel.
Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten hat jedoch die Feststellung des für die Verletztenrente des Klägers maßgeblichen JAV nicht gem. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO, sondern auf der Grundlage des § 577 RVO zu erfolgen.
Danach ist der JAV im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzustellen, wenn der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist (Satz 1). Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen (Satz 2).
Der JAV kann nach Auffassung der Kammer im Fall des Klägers nicht nach § 571 RVO bemessen werden. Wenn der Versicherte, dessen JAV festzustellen ist, nicht einer besonderen Personengruppe angehört, für die Sonderregelungen in den §§ 573, 576 RVO gelten, und wenn die besonderen Fallkonstellationen der §§ 572 und 574 RVO - wie hier - nicht betroffen sind, richtet sich die Ermittlung des JAV grundsätzlich nach der Vorschrift des § 571 RVO. Der gemäß § 571 Abs 1 Satz 1 RVO zu ermittelnd JAV kann hier jedoch zur Überzeugung des Gerichts der Rentenberechnung nicht zugrunde gelegt werden, da die Zugrundelegung einer halben Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss der Lebenssituation des Klägers unter realistischer Betrachtungsweise zum Unfallzeitpunkt bzw. in der Zeit davor unter normalen Umständen ohne die – eindeutig zeitlich eng begrenzte Zeitphase der Promotion - in keiner Weise gerecht wird.
Zum Zeitpunkt des Unfalles war der Kläger bereits 29 Jahre, Diplomchemiker, verheiratet und hatte drei Kinder. Er hatte unmittelbar nach Abschluss des Diplomstudiums die Promotion begonnen, war davor somit noch nicht in das Erwerbsleben eingetreten und hatte keine Einkünfte erzielt. Die Promotion war zeitlich eng begrenzt und diente dem ausdrücklichen Ziel, die Verdienstmöglichkeiten auf dem engumkämpften "Markt" der Chemiker zu verbessern, also letztlich der Familie langfristig einen gesicherten Lebensunterhalt zu verschaffen. Es ist zur Überzeugung des Gerichts unbillig, davon auszugehen, dass der Verdienst aus einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter auf Dauer gesehen die Einkunftssituation der Familie wiedergeben würde.
Die Anwendung des § 571 Abs 1 Satz 2 RVO – etwa im Sinne einer "Aufstockung" auf zumindest eine Vollzeitbeschäftigung - scheitert am Nichtvorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, denn der Zwölfmonatszeitraum umfasst hier die Zeit vom 20.09.1982 bis zum 19.09.1983. In dieser Zeit sind dem Kläger tatsächlich Entgelte zugeflossen. Auch eine Festsetzung in Höhe des Mindest-JAV nach § 575 RVO hält die Kammer als in erheblichem Maße unbillig.
Schließlich scheidet nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch die Anwendung des § 573 RVO bei dem Kläger aus, da die Promotion nicht als Berufsausbildung, sondern lediglich als Weiterbildung angesehen wird, vgl. hierzu (noch zu § 565 RVG) BSG vom 30.11.1962, 2 RU 193/59; BSG vom 30.10.1991, 2 RU 61/90. Den Unterschied zwischen einem promovierten und einem nicht promovierten Chemiker soll demnach lediglich darin bestehen, dass jener sich durch die Anfertigung einer Doktorarbeit erweiterte Kenntnisse auf einem Spezialgebiet der Chemie erworben, durch die Ablegung des Doktorexamens seine Befähigung zu wissenschaftlichen Arbeiten besonders unter Beweis gestellt und sich für den Wettbewerb im Wirtschafts- oder Arbeitsleben eine nach herkömmlicher Bewertung günstigere Position geschaffen hat. Diese Vorteile gegenüber dem nicht promovierten Chemiker seien jedoch nicht das Ergebnis einer "Berufsausbildung" im Sinne des § 565 RVO, sondern einer Weiterbildung in dem bereits erlernten Beruf. Insoweit liegt der vorliegend zu entscheidende Sachverhalt nicht wesentlich anders als die vom BSG bereits entschiedenen Fälle, z.B. aus dem Gebiet der ärztlichen Tätigkeit vor Erteilung der Facharztanerkennung bzw. der Zulassung zur kassenärztlichen Praxis, in denen die Berufsausbildung eines Arztes mit dem Zeitpunkt, von dem an der Arztberuf ausgeübt werden kann, nämlich mit der Approbation, als beendet angesehen wurde; die weitere, vor Erteilung der Facharztanerkennung abzuleistende ärztliche Tätigkeit und die Vorbereitungszeit für die Zulassung als Kassenarzt sei nicht mehr unter den Begriff beruflichen Weiterbildung oder Qualifizierung zu subsumieren. Demnach endete auch die Berufsausbildung des Klägers formal mit dem Ablegen der Diplom-Chemikerprüfung, denn von diesem Zeitpunkt an war er in der Lage, den erlernten Beruf als Chemiker auszuüben. Dass er aus wirtschaftlichen Gründen zur Promotion mehr oder weniger gezwungen gewesen sein mag, rechtfertigt in Anwendung der Rechtsprechung des BSG keine andere Beurteilung, "weil es für die Masse der approbierten Ärzte in ähnlich hohem Maße zur Sicherung einer auskömmlichen Existenz geboten erscheint, entweder die Anerkennung als Facharzt oder aber die Zulassung als Kassenarzt anzustreben" (vgl. BSG a. a. O.).
Die Festsetzung des maßgeblichen JAV kann nach Auffassung des Gerichts demnach nur auf der Grundlage des § 577 RVO nach billigem Ermessen vorgenommen werden, also innerhalb des Mindest- und Höchst-JAV gem. § 575 RVO.
Die Wertung, ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig zu niedrig festgesetzt ist, kann das Gericht dabei selbst vornehmen, weil der Versicherungsträger insoweit nicht nach seinem Ermessen entscheidet und ihm in dieser Frage auch kein Beurteilungsspielraum zusteht (BSG vom 09.12.1993, 2 RU 48/92, BSG vom 28.01.1993, 2 RU 15/92; BSG vom 30.10.1991, 2 RU 61/90). Das Vorliegen der erheblichen Unbilligkeit kann unter Berücksichtigung aller Tatumstände nur von Fall zu Fall entschieden werden. Bereits hier sind die für die nach Annahme der Unbilligkeit bei der Feststellung des billigen JAV zu beachtenden Bewertungsgesichtspunkte (Fähigkeiten, Ausbildung und Lebensstellung des Verletzten, seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles oder eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit; vgl. § 577 Satz 2 RVO) zu berücksichtigen (BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr. 1 zu § 577 RVO; BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr. 20; BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9 mwN; BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr. 1). Der von der Beklagten vorgenommene Ansatz eines JAV in Höhe von 23.029,42 bzw. 23.331,09 DM erscheint dem Gericht deshalb unbillig, weil dieser – einmal festgestellte und lebenslang als Grundlage der Verletztenrente dienende - Betrag einerseits nicht "der Lebensstellung des Verletzten" entspricht, d.h. dieser Betrag steht außerhalb jeder Beziehung zu dem, was für den Kläger unter realistischer Betrachtungsweise zum Unfallzeitpunkt bzw. in der Zeit davor unter normalen Umständen ohne die – eindeutig eng begrenzte Zeitphase der Promotion - die finanzielle Lebensgrundlage gebildet hätte, andererseits aus den vorstehenden Ausführungen ersichtlich wird, dass die spezielle Situation des Klägers nicht von den sonstigen gesetzlich vorgesehenen Auffangvorschriften, etwa dem § 573 bzw. dem § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO erfasst wird. "Nach den Zielvorstellungen des Gesetzgebers zu § 577 RVO sollen besondere Gründe, die vorübergehend zu einem niedrigeren Verdienst führen, sich nicht über die gesamte Rentenlaufzeit nachteilig auswirken" (Zitat aus Blatt 2201 Verwaltungsakte).
Für die Entscheidung, ob der Jahresarbeitsverdienst erheblich unbillig ist, ist somit die Lebensstellung des Betroffenen zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls von Bedeutung. Mit Lebensstellung ist der soziale Status einer Person gemeint, hierunter sind neben den Einkünften auch sonstige Aspekte, die ein genaueres Bild über die Lebensstellung eines Versicherten geben könnten als dessen tatsächlich erzielten Einkünfte zu berücksichtigen.
Vor dem Hintergrund dessen, dass sich die aus fünf Personen, darunter drei Kleinkindern bestehende Familie des Klägers im hier relevanten Zeitraum auf Einkünfte aus einer halben Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschränkt hatte, man zudem kostenfrei im Rahmen eines vorgezogenen Erbausgleiches im Elternhaus des Klägers wohnte zeigt, dass der Ansatz des JAV durch die Beklagte nicht den realen Verhältnissen der Familie unter Dauergesichtspunkten entsprach. Er erweist sich damit zur Überzeugung des Gerichts als "unbillig" i. S. des § 577 Satz 1 RVO.
Ohne die Promotionsabsicht hätte der Kläger aufgrund seines Lebenskonzeptes mit Ehefrau und drei Kindern eine vollschichtige Tätigkeit als Diplom-Chemiker zu den üblichen tariflichen Bedingungen der freien Wirtschaft ausgeübt. Aufgrund der Größenordnung der Abweichung zwischen dem Ansatz der Beklagten und der der zugrunde zu legenden Lebensstellung des Klägers entsprechenden wirtschaftlichen Lage, wie sie sich nach der Rechtsauffassung des Gerichts darstellt, ist gleichzeitig eine Unbilligkeit "in erheblichem Maße" gegeben. Es existieren zwar keine starren Richtwerte in der Form, dass etwa ab einem bestimmten Prozentsatz der Abweichung eine Unbilligkeit "in erheblichem Maße" anzunehmen ist. Denn ebenso ist auch insoweit eine an den jeweiligen Umständen des Einzelfalles orientierte Betrachtungsweise angebracht (vgl. BT-Drucks IV/120 S. 57). Hier ist jedoch zumindest von einer Vollzeittätigkeit anstelle einer Teilzeitbeschäftigung auszugehen, so dass dieses Kriterium unzweifelhaft erfüllt ist.
Da somit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 577 Satz 1 RVO erfüllt sind, ist die Beklagte nunmehr verpflichtet, den JAV des Klägers im Rahmen des § 575 RVO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts sowie der Wertungskriterien des § 577 Satz 2 RVO nach billigem Ermessen festzustellen.
Sie hat mit dem angegriffenen Bescheid, das ihr zustehende Ermessen nicht ausgeübt, sondern ist fälschlich weiterhin von einer gebundenen Entscheidung bei der JAV-Feststellung ausgegangen. Da das Gericht seine Auffassung nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen darf, wird die Beklagte erneut zu entscheiden haben (BSG SozR 2200, § 577 Nr. 11). Die Festsetzung des JAV muss sich im Rahmen des § 574 RVO halten, darf also den gesetzlichen Mindest-JAV nicht unterschreiten, aber auch nicht den durch Gesetz oder Satzung bestimmten Höchst-JAV überschreiten.
Die Beklagte wird im Rahmen des Ermessens insbesondere zu ermitteln haben, welche Einkünfte ein vollschichtig tätiger Diplom-Chemiker in der freien Wirtschaft nach den entsprechenden Tarifverträgen zum damaligen Zeitpunkt erzielen konnte, wobei auch die Frage der Mobilität angesichts der familiären und örtlichen Bindungen sowie die konkrete Arbeitsmarktlage zu prüfen sein wird. Die Beklagte wird dem Kläger dann einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 131 Abs. 3 SGG) zu erteilen haben.
Zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils lagen dem Gericht die Entscheidungsgründe des Urteils des BSG vom 15.09.2011, Az. B 2 U 24/10 R noch nicht vor. Nachdem diese mittlerweile veröffentlicht sind, bleibt festzuhalten, dass der dortige Sachverhalt nicht mit dem hier zu entscheidenden vergleichbar ist, denn – wie bei allen bisher vom BSG zu beurteilenden Fällen – übte die Klägerin dort vor dem Unfallereignis bereits eine reguläre, die "Lebensstellung" begründende Vollzeittätigkeit aus, bevor sie aus individuellen Gründen diese Tätigkeit reduzierte. Im vorliegenden Verfahren hingegen fand noch kein echter "Eintritt in das Erwerbsleben" statt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
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