L 15 U 164/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 18 U 352/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 164/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19.12.2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nummer 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV; BK 2108).

Die am 00.00.1969 geborene Klägerin arbeitete von 1995 bis 1997 als Pflegeassistentin. Von 1997 bis 2000 war sie in Elternzeit. Von 2000 bis 2009 war sie als ambulante Pflegehelferin tätig und von 2010 bis 2012 machte sie eine Umschulung zur Kauffrau im Gesundheitswesen.

Am 24.02.2010 ging bei der Beklagten eine Unfallanzeige ein. Hiernach litt die Klägerin unter Rückenschmerzen und einem Bandscheibenvorfall. Die Beklagte leitete medizinische Ermittlungen ein und zog einen von der Klägerin ausgefüllten Wirbelsäulenfragebogen, medizinische Berichte von den behandelnden Ärzten, die Akte des Versorgungsamtes und Vorerkrankungsverzeichnisse der zuständigen Krankenkassen (BIG direkt und Knappschaft) bei.

Zudem trat die Beklagte in arbeitstechnische Ermittlungen ein. Nach einer Stellungnahme ihrer Abteilung Prävention vom 16.09.2011 erreichte die Klägerin eine Belastungsdosis nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) von 11,7 Meganewtonstunden (MNh). Zudem sah die Abteilung Prävention das Zusatzkriterium "besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Leistungsspitzen" als erfüllt an.

Die Beklagte ließ die Klägerin außerdem durch den Orthopäden/Unfallchirurgen A, niedergelassen in E, untersuchen. Dieser kam zu folgendem Ergebnis: Die Anerkennung der Berufskrankheit sei wegen der Erfüllung des ersten und zweiten Zusatzkriteriums (Belastungsspitzen) und nachgewiesenen Spuren der beruflichen Belastung in den Bewegungssegmenten L3/4 und L5/S1 möglich. Trotz fehlender Begleitspondylosen in den befallenen und operierten Segmenten und den benachbarten darüber liegenden Bandscheibenfächern bestehe Konsensfähigkeit für einen Ursachenzusammenhang mit der beruflichen Belastung nach der Konstellation B2.

Auf Hinweis der Beklagten, dass insgesamt nur 69 % und bis November 2004 nur ca. 38 % des Orientierungswertes nach dem MDD erreicht worden seien, führte Dr. A in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 01.07.2012 aus: Die bildtechnischen Veränderungen seien nur ein schwaches Indiz für die Anerkennung der BK 2108, da die Hauptbelastung trotz hoher lumbaler Belastungsspitzen von 2002 bis 2009 stattgefunden habe und die zusätzliche Protrusion der Bandscheibe (wohl L4/5) erst in 2011 diagnostiziert worden sei, also weit nach der Hauptbelastungszeit. Es handele sich also um eine durch körpereigene Prozesse verursachte bandscheibenbedingte Erkrankung.

Mit Bescheid vom 09.10.2012, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 22.04.2013, lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK 2108 und die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Auf die Begründung der Bescheide wird Bezug genommen.

Hiergegen hat die Klägerin am 30.04.2013 Klage erhoben und vorgetragen: Die bei ihr vorliegenden Bandscheibenvorfälle seien nicht alterstypisch. Wegen ihres jungen Alters komme eine andere Verursachung als durch die berufliche Belastung generell nicht in Betracht. Soweit der Gutachter A in seiner ergänzenden Stellungnahme von seiner ursprünglichen Auffassung abgewichen sei, überzeuge dies nicht. Es habe auch keine hinreichende Auseinandersetzung mit den von der Beklagten anerkannten besonderen Belastungsspitzen stattgefunden.

Die Beklagte ist auf ihrem Standpunkt verblieben.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten von der Unfallchirurgin Frau Dr. E, C, eingeholt. Diese ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Die begehrte Berufskrankheit liege nicht vor. Bei der Klägerin bestünden zwar osteochondrotische Veränderungen im Bereich L5/S1 vor, die im Jahr 2004 auch altersuntypisch gewesen seien. Bei der Klägerin habe aber die geforderte Langjährigkeit und Einwirkungsgröße bis zum Beginn der Beschwerdesymptomatik bei weitem nicht vorgelegen. Zu beachten sei zudem, dass die Klägerin beim Beginn der Beschwerden gerade einmal 35 Jahre alt gewesen sei. Die Wirbelsäulenbeschwerden ließen sich in einer Altersgruppe von 30 - 40jährigen nicht auf berufsbedingte Belastungen zurückführen. Der kräftige Muskelmantel der Wirbelsäule im jungen Erwachsenenalter entlaste und stabilisiere außerordentlich, so dass kaum schädigungsrelevante Belastungseinwirkungen aufträten. Die Wirbelsäulenmuskulatur sei in diesem Lebensabschnitt in der Lage, 40 % der Lastaufnahme parallel zum eigenen Achsorgan zu übernehmen. Beachtlich sei zudem, dass es auch nach Aufgabe der Tätigkeit zu einer Verschlechterung des Zustandes gekommen sei (Bandscheibenvorfall L3/4 und -vorwölbung in L4/5 in 2011, eine Raumforderung sei in 2010 nicht ausgeschlossen worden). Dies spreche für ein anlagebedingtes Leiden.

Gegen die am 28.01.2015 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 02.03.2015 Berufung eingelegt. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf Dr. A und Prof. Dr. K.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19.12.2014 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.04.2013 zu verurteilen, bei ihr eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen,
hilfsweise,
den Sachverständigen Prof. Dr. K um eine ergänzende Stellungnahme zu einer vermeintlichen Erstmanifestation des Bandscheibenschadens im Jahre 2004 zu ersuchen, ferner hilfsweise, ihn zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung zu hören.

Die Beklagte, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Berufungsgericht ein Gutachten des Arbeitsmediziners Prof. Dr. K, E, eingeholt. Dieser hat eine BK 2108 bejaht und gemeint, dass die Voraussetzungen der Konstellation B 2 der Konsensempfehlungen erfüllt seien. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 26.03.2016 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Ihr wesentlicher Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die Beklagte hat es mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht abgelehnt, bei der Klägerin eine BK 2108 festzustellen. Denn eine BK 2108 liegt bei der Klägerin nicht vor.

Nach dem Tatbestand dieser BK muss der Versicherte aufgrund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (BSG, Urteile vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - und vom 18.11.2008 - B 2 U 14/08 R -).

Die Klägerin leidet zwar an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule im Sinne der BK 2108. Ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang zwischen der Erkrankung und den schädigenden Einwirkungen, denen die Klägerin im Laufe ihres Berufslebens ausgesetzt gewesen ist, besteht jedoch nicht. Dieser Zusammenhang müsste mindestens wahrscheinlich sein. Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftigem Abwägen aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (BSGE 45, 285, 286). Das lässt sich hier nicht feststellen.

Der Senat folgt dabei in erster Linie den Ausführungen der Sachverständigen Dr. E. Diese hat die Konsensempfehlungen einbezogen und ist unter Berücksichtigung des aktuellen medizinischen Wissenstandes zu dem Ergebnis gelangt, die Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen den beruflichen Belastungen der Klägerin und ihrer bandscheibenbedingten Erkrankung sei zu verneinen. Dabei hat sie die für eine Individualbeurteilung maßgeblichen Kriterien zu Grunde gelegt, nämlich neben den belastenden Einwirkungen das Krankheitsbild, insbesondere ob und inwieweit ein altersuntypischer Befund und ein belastungskonformes Schadensbild vorliegen, eine zeitliche Korrelation zwischen den Einwirkungen und dem Erkrankungsverlauf sowie das Vorliegen konkurrierender Ursachen, und überzeugend dargelegt, dass die Gesamtbeurteilung für die Klägerin angesichts des Fehlens einer plausiblen zeitlichen Korrelation der Exposition zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung negativ ausfallen muss.

Eine plausible zeitliche Korrelation der Exposition zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung ist nach den Konsensempfehlungen Grundvoraussetzung auch für die Konstellationen, bei denen ein Ursachenzusammenhang als wahrscheinlich erachtet wird. Eine solche Korrelation ist im Fall der Klägerin indessen nicht gegeben. Wie Dr. E unter Auswertung der auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogenen Feststellungen des Präventionsdienstes der Beklagten sowie der medizinischen Befunde dargelegt hat, hatte die Klägerin bis zum Beginn der Erkrankung im November 2004 belastende Tätigkeiten in Teilschichtigkeit in einem zeitlichen Gesamtumfang von lediglich vier Jahren und 10 Monaten verrichtet. Die in dieser Zeit erreichte Gesamtdosis lag außerdem mit 6,36 MNh noch weit unter dem hälftigen Richtwert der Lebensdosis für Frauen nach dem MDD. Wenn Frau Dr. E angesichts dessen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Erkrankung keine ausreichende Exposition vorausgegangen ist und die fehlende plausible zeitliche Korrelation der Exposition zur Entwicklung der Erkrankung der Annahme des streitigen Ursachenzusammenhangs entgegensteht, leuchtet dies ohne weiteres ein.

Das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K gibt keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung. Soweit er ausführt, dass die Röntgenaufnahme aus dem Jahr 2004 nur von einer Verschmälerung des Wirbelzwischenraumes L5/S1 spreche, bei dem MRT aus dem Jahr 2007 schon eine Chondrose L5/S1 und dann erst auf den Röntgenaufnahmen der späteren Jahre der Prolaps und eine Retrolisthesis zu erkennen seien, und hierin einen Beleg für die langsame Entwicklung einer BK durch rückenbelastende Tätigkeiten sieht, kann dem nicht gefolgt werden. Denn festzuhalten ist auch, dass die Klägerin sich anlässlich der Arbeitsunfähigkeit vom 11. bis 24.11.2004 auch in der Behandlung der orthopädischen Gemeinschaftspraxis I/P befand und dort auf bestehende Lumbalgien mit Schmerzausstrahlung in beide Beine hingewiesen wurde. Angesichts dieses fachärztlichen Befundes in Verbindung mit dem radiologischen Befund des Röntgenbildes vom 11.11.2004, wonach eine Verschmälerung des Zwischenwirbelraumes L5/S1 und eine beginnende Osteochondrose LWK 3/4 vorlag, sieht der Senat die Beurteilung der Sachverständigen Dr. E, dass eine gegen die berufsbedingte Entstehung der bandscheibenbedingten Erkrankung sprechende Erstmanifestation bereits im November 2004 anzunehmen ist, als zutreffend an.

Die Klägerin kann sich auch nicht auf den von der Beklagten im Verwaltungsverfahren gutachtlich gehörten Orthopäden A stützen. Denn dieser hat seine nicht überzeugende Beurteilung im Gutachten vom 30.01.2012 aufgrund der zutreffenden Vorhaltungen der Beklagten im Schreiben vom 14.06.2012 revidiert und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 01.07.2012 eine durch berufliche Einflüsse verursachte Bandscheibenschädigung nicht mehr angenommen, sondern die medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 verneint.

Zu weiteren Ermittlungen im Sinne der Hilfsbeweisanträge bestand kein Anlass. Der Senat sieht sich nicht veranlasst, den Sachverständigen Prof. Dr. K von Amts wegen um eine ergänzende Stellungnahme "zu einer vermeintlichen Erstmanifestation des Bandscheibenschadens im Jahr 2004" zu ersuchen. Denn der Sachverhalt ist durch die eingeholten Gutachten hinreichend geklärt. Prof. Dr. K hat sich in seinem Gutachten zum Beginn der Erkrankung und damit auch zum Zeitpunkt der Erstmanifestation geäußert, ist insoweit aber zu einem anderen Ergebnis als die Sachverständige Dr. E gelangt. Dies ist aus objektiver Sicht jedoch kein Grund, ihn nochmals zu demselben Thema zu hören. Ebenso wenig bestand Anlass, den Sachverständigen Prof. Dr. K in einem Termin zur mündlichen Verhandlung zur Erläuterung seines Gutachtens zu hören. Das von Prof. Dr. K erstattete Gutachten hat keine Fragen offen gelassen, die in mündlicher Verhandlung geklärt werden müssten. Daher bestand von Amts wegen, also ohne Antrag oder Anregung eines Beteiligten kein Anlass, den Sachverständigen zum Termin zu laden und dort zu hören. Der erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellte Antrag der Klägerin, den Sachverständigen Prof. Dr. K zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung zu hören, ist als verspätet abzulehnen. Auf Antrag (§§ 116 Satz 2, 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 397, 402 Zivilprozessordnung - ZPO -) sind Sachverständige im Termin nur zu hören, wenn der Beteiligte ihre Ladung rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung beantragt, die erläuterungsbedürftigen Punkte schriftlich mitteilt und die aufgeworfenen Fragen objektiv sachdienlich sind (vgl. BSG, Beschlüsse vom 05.05.1998 - B 2 U 305/97 B -, vom 12.04.2005 - B 2 U 222/04 B - und vom 13.09.2005 - B 2 U 5/05 B -). Einen Antrag, der diesen Anforderungen genügt, hat die Klägerin nicht gestellt. Denn sie hat nicht rechtzeitig nach Erstattung des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. K, das ihren Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 09.05.2016 übersandt worden ist, die Ladung des Sachverständigen beantragt und die erläuterungsbedürftigen Punkte mitgeteilt. Die Ladung des Sachverständigen Prof. Dr. K ist vielmehr erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16.08.2016 beantragt worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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