L 4 R 5489/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 R 3678/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 5489/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. Dezember 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab 1. Dezember 2010.

Die am 1966 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und reiste im Dezember 1980 aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland zu. Sie hat keinen Beruf erlernt und war als Bekleidungsnäherin sowie zuletzt als Montagearbeiterin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Nach dem Bezug von Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) bezog sie seit März 2010 bis zu ihrer Aussteuerung Krankengeld. Im Jahr 2013 war sie geringfügig beschäftigt, nach Angaben der Klägerin in der Küche einer Gaststätte sowie im Rahmen einer Putztätigkeit in einem privaten Haushalt.

Am 2. Dezember 2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung führte sie aus, seit Juli 2006 an einer schweren depressiven Episode zu leiden. Die Beklagte zog zunächst den Reha-Entlassungsbericht der Klinik G. über die stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme vom 3. November bis 8. Dezember 2008 bei. Dr. Ge. führte in seinem Entlassungsbericht vom 19. Dezember 2008 aus, die Klägerin leide an einer schwergradigen depressiven Episode, einer Panikstörung, einer Klaustrophobie, einem Halswirbelsäulensyndrom und Spannungscephalgien sowie einer Gonalgie bei Meniskusläsion. Die Klägerin könne sowohl ihren zuletzt ausgeübten Beruf als "Güteprüferin" als auch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen sechs Stunden und mehr täglich ausüben. Tätigkeiten unter hohem Zeitdruck sowie Nachtschichttätigkeiten sollten ebenso vermieden werden wie Zwangshaltungen und Exposition gegen Kälte, Nässe und Durchzug. Ferner zog die Beklagte den Bericht des Dr. R. (Klinikum K.-N., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie) vom 3. Juni 2009 über die stationäre Behandlung vom 18. bis 26. Mai 2009 (Diagnose: schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome) und den Bericht des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C., Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 5. Mai 2010 über die teilstationäre Behandlung vom 22. Februar bis 23. April 2010 (Diagnosen: Zustand nach rezidivierender schwerer depressiver Episode und langjähriger Partnerschaftskonflikt) bei. Anschließend veranlasste die Beklagte eine Untersuchung und Begutachtung der Klägerin in der Ärztlichen Untersuchungsstelle Stuttgart. Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. A., legte in seinem Gutachten vom 8. Januar 2011 dar, die Klägerin leide an einem anhaltenden mittelschweren Residuum einer rezidivierenden depressiven Störung. Die Klägerin solle keine Tätigkeiten verrichten, welche mehr als nur geringe Anforderungen an Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit, Belastbarkeit unter Zeitdruck, Konfliktbewältigungs- und Auffassungsfähigkeit stellten. Zudem solle sie nur in Tag- oder Wechselschicht arbeiten. Aufgrund der orthopädischen Beeinträchtigungen seien Zwangshaltungen und längeres Stehen zu vermeiden. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten könne die Klägerin jedoch sechs Stunden und mehr täglich ausüben.

Mit Bescheid vom 12. Januar 2011 lehnte die Beklagte gestützt auf die Leistungseinschätzung des Dr. A. den Rentenantrag der Klägerin ab. Die Klägerin sei noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Bei diesem Leistungsvermögen liege weder eine volle noch eine teilweise Erwerbsminderung vor.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und gab an, aufgrund ihres labilen psychischen Zustandes bereits mit alltäglichen Problemen überfordert zu sein. Daher sei sie nicht in der Lage, irgendeine Erwerbstätigkeit auszuüben. Dr. Gi. vom Medizinischen Dienst der Beklagten hielt durch das Gutachten des Dr. A. die Leistungseinschätzung für hinreichend beurteilt (sozialmedizinische Stellungnahme vom 23. Februar 2011). Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2011 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte er aus, es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Ausübung einer Berufstätigkeit durch die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen wesentlich eingeschränkt sein könnte. Der Klägerin seien leichte bis mittelschwere Tätigkeiten täglich unter Beachtung gewisser qualitativer Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr zumutbar. Volle bzw. teilweise Erwerbsminderung liege daher nicht vor. Da die Klägerin nach dem 1. Januar 1961 geboren worden sei, komme eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit für sie nicht in Betracht.

Die Klägerin erhob am 21. Juni 2011 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG). Zu deren Begründung trug sie vor, die Beklagte habe die bei ihr vorhandenen Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht in ausreichendem Umfang gewürdigt. Insbesondere aufgrund ihres labilen psychischen Zustandes sei sie nicht mehr in der Lage, einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Sie fühle sich kraft- und lustlos, habe keine Interessen mehr und lebe sozial sehr zurück gezogen. Sie habe Konzentrationsprobleme und 2009 sogar einen Suizidversuch mit Medikamenten unternommen. Dies ergebe sich aus dem Entlassungsbericht des Dr. R. vom 3. Juni 2009. Sie könne auch keine engen Räume und Aufzüge betreten. Wegen der Depressionen sei sie bereits mehrmals stationär behandelt worden. Das Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. De. gebe ihren Gesundheitszustand zutreffend wieder, nicht dagegen das Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. Ra ...

Die Beklagte trat der Klage unter Bezugnahme auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid und die Stellungnahmen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Bu. von ihrem Medizinischen Dienst vom 9. September 2011, 6. Juni 2012, 6. März und 15. April und 18. Juli 2013 entgegen. Auch nach Vorlage der Gutachten der gerichtlicherseits beauftragten Sachverständigen Dr. Ra. und Dr. De. sei weiterhin von keiner quantitativen Leistungseinschränkung bei der Klägerin auszugehen.

Das SG befragte zunächst die die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Dachsel hielt unter dem 4. August 2011 die Durchführung einer körperlich leichten Tätigkeit im Umfang von drei Stunden täglich für therapeutisch sinnvoll. Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Ko., Psychiatrische Institutsambulanz des Rudolf-Sophie-Stifts, führte unter dem 16. August 2011 aus, bei der Klägerin bestehe eine ausgeprägte depressive Symptomatik mit starker innerer Anspannung, Nervosität und Unruhe. Bei alltäglichen Verrichtungen würden in typischen Situationen, wie Warten an einer Supermarktkasse, Panikattacken auftreten, die die Klägerin zum Verlassen der Situation nötigen würden. Daraus sei ein weitgehender Rückzug aus dem öffentlichen Raum in die eigene Wohnung entstanden, in der die Klägerin penibel Reinigungsrituale wegen schlechter Gerüche durchführe, die aber nur sie wahrnehme. Eine wesentliche Befundänderung im Laufe der Behandlung bestehe darin, dass die Klägerin etwas weniger angespannt und aktiver geworden sei. Sie verlasse auch das Haus wieder alleine, was sie über längere Zeit nicht getan habe. Der Klägerin sei eine sechs- oder mehrstündige tägliche Berufstätigkeit wegen Antriebsarmut und Depressivität nicht möglich. Sie könne ihre alltäglichen Haushaltspflichten mit dieser Tätigkeit zusammen nicht bewältigen, zumal sie im Haushalt zwanghaft auf Sauberkeit achte.

Anschließend beauftragte das SG zunächst Dr. Ra. und danach - auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - Dr. De. mit der Erstattung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens.

Dr. Ra. legte in ihrem unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin gefertigten Gutachten vom 7. Mai 2012 sowie ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 17. Juni 2013 dar, die Klägerin leide an einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig leichter depressiver Episode. Die Klägerin solle Arbeiten an gefährdenden Maschinen, Akkord- und Fließbandarbeiten, Tätigkeiten in Nachtschicht, Arbeiten mit Anforderung an Flexibilität, Umstellungs- und Konfliktbewältigungsfähigkeit sowie Tätigkeiten mit erhöhten Stressanforderungen und besonderer Verantwortung für Andere vermeiden. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne die Klägerin jedoch noch vollschichtig verrichten. Dr. Ra. führte zudem aus, dass der Gesundheitszustand der Klägerin durch eine konsequente ambulante Verhaltenstherapie mit Förderung autonomer Schritte bei entsprechender Motivation sowie durch eine konsequente antidepressive Langzeitmedikation zur Prophylaxe verbessert werden könne. Auch sei eine Verbesserung des Gesundheitszustandes durch eine regelmäßige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen, bei der sie - wie bereits früher - selbstwerterhöhende Erfahrungen machen könne. Im Rahmen der (vierstündigen) Begutachtung habe die Klägerin keine Antriebsstörung gezeigt und die an sie gestellten Fragen ausführlich und temperamentvoll mit lebhafter Gestik und Mimik beantwortet. Dabei habe sie auch keine Aufmerksamkeits- oder Konzentrationsstörungen gezeigt. Eine Ängstlichkeit sei ebenfalls nicht deutlich geworden. Formale sowie inhaltliche Denkstörungen und mnestische Störungen hätten ebenso nicht gefunden werden können. Der Klang und die Modulation ihrer Stimme seien adäquat laut gewesen. Sie sei weder teilnahmslos noch verlangsamt gewesen. In ihrer Informationsaufnahme und -verarbeitung sei sie in keiner Weise eingeschränkt gewesen. Sie habe keine qualitativen Bewusstseinsstörungen wie -eintrübung, -einengung oder -verschiebung gezeigt. Bezogen auf den Gesprächsinhalt habe sie Nebensächliches von Wesentlichem trennen können. Sie sei nicht an bestimmten Vorstellungen und Gedanken haften geblieben und habe kein unablässiges, jedoch nicht zur Lösung oder zum Ziel führendes Beschäftigtsein mit unangenehmen Themen gezeigt. Die Klägerin sei auf jede Frage korrekt eingegangen und habe keinen plötzlichen Abbruch eines zunächst flüssigen Gedankenganges gezeigt. Sie habe keinen Mangel an Energie, Initiative oder Anteilnahme gehabt. Sie habe ein spontan und reaktiv sich durchsetzendes Verhalten gezeigt, welches in ihrem Temperament, ihrem Antrieb und ihrer Anteilnahme in der Exploration ersichtlich geworden sei. Die letzte Testung habe sie in bestimmendem Ton vorzeitig abgebrochen mit der Begründung, dass ihr nun die Motivation fehle. Ein sekundärer Krankheitsgewinn sei nicht zu übersehen gewesen. Zum Teil habe sich während der Begutachtung eine deutliche Aggravation gezeigt. Serologisch habe kein adäquater Wirkspiegel des von der Klägerin als eingenommen angegebenen Antidepressivums sowie des Neuroleptikums festgestellt werden können, weshalb davon auszugehen gewesen sei, dass sie diese Medikamente entweder gar nicht oder nur unzureichend und unzuverlässig eingenommen habe, was für eine mangelnde Behandlungsmotivation spreche. Schließlich habe eine gute Bemuskelung sowie Hand- und Fußbeschwielung festgestellt werden können.

Dr. De. diagnostizierte in ihrem ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers gefertigten Gutachten vom 15. Januar 2013 bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, derzeit mittelgradiger Ausprägung mit somatischem Syndrom sowie eine Angststörung. Die Klägerin sei lediglich noch in der Lage, mindestens drei bis unter sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die (Dauer-)Belastbarkeit der Klägerin sei krankheitsbedingt eingeschränkt; ihr Durchhaltevermögen und ihre Ausdauer lägen bei unter sechs Stunden täglich. Ihrer Ansicht nach spreche bereits die Tatsache, dass die Klägerin die Begutachtung bei Dr. Ra. nach etwa vier Stunden abgebrochen hat, für das Vorliegen einer quantitativen Leistungseinschränkung. Es sei nicht mehr von einer episodischen (leichten) depressiven Verstimmung auszugehen, auch nicht von einer rezidivierenden Störung mit beschwerdefreien Intervallen, sondern von einer chronifizierten Entwicklung mit bleibendem affektivem und kognitivem Defizit (Residuum). Aufgrund der Herkunft der Klägerin und der weit in das Persönlichkeitsgefüge eingreifenden Selbstwertstörung sei es ihr mit eigener Willensanstrengung und auch unter fortlaufender ambulanter bzw. wiederholter stationärer Behandlung nicht möglich, eine Änderung ihrer psychischen Situation herbeizuführen. Während der Begutachtung seien Kontakt und Kommunikationsbereitschaft ausreichend gewesen, ebenso die Motivation der Klägerin. Ihre Stimmung sei durchgehend subdepressiv bis mittelschwer depressiv mit verminderter Auslenkbarkeit und eingeschränkter emotionaler Schwingungsfähigkeit gewesen, was sich mitunter in Agitiertheit, psychomotorischer Unruhe und ängstlicher Erregung geäußert habe. Aufmerksamkeit, Ausdauer und konzentrative Belastbarkeit seien herabgesetzt gewesen; es hätten sich im Verlauf der dreistündigen Untersuchung Ermüdungserscheinungen gezeigt. Es sei der Eindruck entstanden, dass im Rahmen der Begutachtung durch Dr. Ra. durch die Hinzuziehung einer Dolmetscherin kein adäquates Bild von der Klägerin entstanden sei, die Klägerin vielmehr in eine marginale Rolle geraten und ein direkter Kontakt zu ihr gar nicht zustande gekommen sei. Wesentliche Aspekte des Leidens der Klägerin, insbesondere eine für die Leistungsbeurteilung relevante Angststörung, seien durch Dr. Ra. unberücksichtigt geblieben, da diese von dem situativen Befund ausgegangen sei und weniger von der realen Situation der Klägerin.

Mit Urteil vom 4. Dezember 2013 wies das SG die Klage gestützt auf das Gutachten der Dr. Ra. sowie das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten des Dr. A. ab. Unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen sei die Klägerin unter der ihr möglichen und zumutbaren Willensanspannung in der Lage, jedenfalls leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Es könne sich nicht der Einschätzung der Dr. De. anschließen. Diese habe in ihrem Gutachten die Auffassung vertreten, dass der Abbruch der Begutachtung bei Dr. Ra. bereits für das Vorliegen einer quantitativen Leistungsminderung bei der Klägerin spreche. Diese Einschätzung sei vor dem Hintergrund des Gutachtens von Dr. Ra. nicht nachvollziehbar. Auch habe Dr. De. im Gegensatz zu Dr. Ra. weder die Medikamenteneinnahme mittels einer serologischen Untersuchung geprüft noch eine Beschwerdevalidierung anhand unterschiedlicher Untersuchungsmethoden und testpsychologischer Verfahren durchgeführt. Zudem fänden sich im Gutachten der Dr. De. auch Widersprüche in den Angaben der Klägerin zu ihrem derzeitigen Leben, auf die Dr. De. nicht eingegangen sei, obwohl diese auf eine deutliche Aggravation hinwiesen. So habe die Klägerin zu ihren Beschwerden befragt angegeben, sie könne gar nichts machen, auch zu Hause nicht. Zu einem späteren Zeitpunkt im Gutachten habe sie jedoch bei der Frage zum Ablauf ihres gestrigen Tages unter anderem angegeben, etwas Wäsche gemacht, geKo.t und mit ihrem Mann zu Abend gegessen zu haben. Beide Aussagen deckten sich nicht. In diesem Zusammenhang habe Dr. Ra. auch auf die gute Bemuskelung der Hand- und Fußbeschwielung der Klägerin hingewiesen. Darüber hinaus sei im Rahmen der Begutachtung durch Dr. Ra. deutlich geworden, dass die Klägerin durch ihre Erkrankung ihre alltäglichen Aktivitäten nicht vollständig aufgegeben habe, sondern bei entsprechender Motivation, nämlich bei der Wahrnehmung von unangenehmem Geruch, ihre Wohnung vollständig reinigen könne und ansonsten dafür Sorge, dass jedes Familienmitglied seine eigenen Dinge versorge. Auch der Umstand, dass sich die Klägerin seit Ende 2008 bis Mitte 2010 bereits dreifach wegen schwerer Depressionen in (teil-)stationärer Behandlung befunden habe, habe keine andere Einschätzung zu rechtfertigen vermocht. Denn es sei jeweils eine Befundverbesserung zu verzeichnen gewesen.

Gegen das ihr am 13. Dezember 2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Dezember 2013 Berufung eingelegt. Ihre gesundheitlichen Störungen führten zur Aufhebung ihrer Leistungsfähigkeit. Gestützt auf die Ausführungen der Dr. De. sei sie gesundheitlich nicht in der Lage, am Arbeitsleben teilzunehmen. Insbesondere sei die Angststörung bislang unberücksichtigt geblieben. Ihre psychische Verfassung verschlechtere sich von Tag zu Tag. Dies ergebe sich auch aus dem Bericht der Dr. Ko. vom 9. März 2015, den die Beklagte aufgrund ihres (der Klägerin) Antrags auf eine Leistung der medizinischen Rehabilitation angefordert habe (Diagnosen: rezidivierende depressive Episode mit psychotischen Syndromen, Agoraphobie mit Panikstörung sowie generalisierte Angststörung). Das Gutachten des Prof. Dr. Sc., Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie des Psychiatrischen Zentrums N., sei nicht nachvollziehbar. Er habe die aus seiner Sicht bestehende mangelnde Plausibilität der von ihr dargelegten Beschwerden daran festgemacht, dass sie sich an die Geburtsdaten ihrer eigenen Kinder nicht habe erinnern können, wohingegen sie im Übrigen präzise Angaben gemacht habe. Unter Berücksichtigung ihres soziokulturellen Hintergrunds sei dies fehlerhaft geschehen. Nicht haltbar sei die Feststellung des Sachverständigen, dass sie deshalb konzentriert sei, da sie rückwärts von 20 bis 1 habe zählen können. Eine solche Fragestellung sei ungeeignet, um sich ein komplettes Bild vom Vorliegen von Konzentrationsfähigkeit zu machen. Auch sei das gesamte Gutachten von einer ablehnenden Haltung des Sachverständigen gegenüber ihr gekennzeichnet. Die Begutachtungsprozedur sei fehlerhaft, da sie weder die Fragen des Sachverständigen habe richtig verstehen können, noch sprachlich fähig gewesen sei, sich dem Sachverständigen so zu erklären, dass dieser sie verstehe oder nicht missverstehe. Auch habe der Sachverständige fehlerhafte Schlussfolgerungen bei psychotischen Halluzinationen und depressiven Störungen gezogen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. Dezember 2013 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 12. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Mai 2011 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, ab dem 1. Dezember 2010 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält an ihrer Auffassung fest und verweist auf ihr bisheriges Vorbringen. Die Beklagte hat sozialmedizinische Stellungnahmen des Arztes Bu. vom 24. April 2015 und 14. April 2016 vorgelegt.

Der Senat hat Prof. Dr. Sc. von Amts wegen zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Prof. Dr. Sc. hat aufgrund einer Untersuchung der Klägerin unter dem 2. November 2015 ein neurologisch-psychiatrisches Fachgutachten unter Hinzuziehung eines Dolmetschers erstattet. Er hat bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige depressive Episode, sowie eine gemischte Angststörungen diagnostiziert. Berufliche Tätigkeiten mit erhöhter einschlägiger Belastung - etwa durch erhöhten Zeitdruck (z.B. Akkord- oder Fließbandarbeit) oder durch unphysiologische psychovegetative Belastung (z.B. Nachtarbeit) kämen für die Klägerin nicht in Frage. Aus den gleichen Gründen kämen Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte oder Tätigkeiten, die anhaltend hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit stellten (z.B. Kontrollarbeiten mit der Notwendigkeit sofortigen Eingreifens, Tätigkeiten an gefährlichen laufenden Maschinen), sowie Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Flexibilität und Umstellungsfähigkeit (rascher Wechsel von Arbeitseinsatzorten, hochfrequenter Wechsel der Anforderungssituation) nicht mehr in Betracht. Krankheitsbedingt sei weiterhin die Affektregulation sowie die soziale Kompetenz der Klägerin gemindert. Berufliche Tätigkeiten, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit interpersonelle Kompetenzen erforderten etwa unmittelbarer Publikumskontakt, Tätigkeiten mit dem Erfordernis intensiver Absprache in Arbeitsgruppen etc. - kämen vor diesem Hintergrund nicht in Frage. Vor dem Hintergrund der früher vordiagnostizierten organisch begründeten Schmerzsyndrome, könne die Klägerin primär körperlich leichte Tätigkeiten mit Heben, Tragen und Bewegen von Gewichten ohne Hilfsmittel bis maximal etwa 10 kg verrichten. Es seien keine Befunde zu erheben gewesen, die eine Störung basaler Motivations- oder Antriebsfunktion begründen würden. Insbesondere habe sich kein primärgeminderter Antrieb und auch keine pathologisch erhöhte Ermüdbarkeit im Rahmen der mehrstündigen Explorationssitzung gezeigt. Die Klägerin sei daher weiterhin dazu in der Lage, berufliche Tätigkeiten mit den genannten qualitativen Leistungsdefiziten in vollschichtigem Umfang, das heißt bis zu acht Stunden an fünf Tagen pro Woche zu erbringen. Die konstatierten Psychohalluzinationen würden in der gegenwärtigen ambulanten psychiatrischen Behandlung offenkundig als psychotische Phänomene im Rahmen einer schwergradigen depressiven Episode mit psychotischen Symptomen gesehen (siehe psychiatrischer Bericht der Dr. Ko. vom 9. März 2015). Grundsätzlich bestünden Möglichkeiten zur Therapieintensivierung in Bezug auf die Angstsymptomatik; allerdings habe die Klägerin das Auftreten situationsabhängiger Ängste und entsprechendes Vermeidungsverhalten beschrieben, ohne dass sie gegenwärtig ein Interesse hätte, hieran etwas zu ändern. Im Rahmen einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung einschließlich intensivierten Expositionstrainings sei mit hoher Wahrscheinlichkeit auch relativ rasch zu helfen. Dies setze jedoch eine hinreichende Eigenmotivation voraus, die gegenwärtig nicht zu eruieren gewesen sei. Bei seiner Untersuchung, die sich insgesamt über fünf Stunden und 15 Minuten erstreckt habe, seien Zeichen pathologischer Ermüdbarkeit ebenso wenig festzustellen gewesen wie eine primäre Antriebsstörung. Die von Dr. De. diagnostizierte rezidivierende depressive Störung mit mittelgradiger Ausprägung und somatischem Syndrom könne aufgrund des durch ihn festgestellten Ausprägungsgrades der depressiven Symptome nicht bestätigt werden, ebenso wenig die diagnostizierte spezifische Angststörung in Form der dort diagnostizierten Panikattacken. Die Leistungseinschätzung der Dr. De. werde nicht geteilt. In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 22. April 2016 zu den Einwendungen der Klägerin ist Prof. Dr. Sc. bei seiner Beurteilung verblieben.

Das Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen den Sachverständigen Prof. Dr. Sc. hat der Senat mit Beschluss vom 15. September 2016 zurückgewiesen, da bei vernünftiger Betrachtung ein Grund, der geeignet wäre, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des gerichtlichen Sachverständigen zu rechtfertigen, nicht vorliege.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da diese Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Streitgegenstand ist das Begehren der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Dezember 2010, nicht hingegen eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Eine solche macht die 1966 geborene Klägerin zu Recht nicht geltend (§ 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI). Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid vom 12. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Mai 2011.

3. Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Dezember 2010.

a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

b) Nach diesen Maßstäben steht für den Senat aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass die Klägerin in der Lage ist, zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes wenigstens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zwar liegen bei ihr gesundheitliche und daraus resultierende funktionelle Einschränkungen vor. Diese mindern ihre berufliche Leistungsfähigkeit jedoch nur in qualitativer, nicht aber in quantitativer Hinsicht.

(1) Bei der Klägerin besteht eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige depressive Episode, sowie gemischte Angststörungen. Dies entnimmt der Senat dem Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Sc ... Aufgrund der von Prof. Sc. erhobenen Befunde sind diese Diagnosen nachvollziehbar. Eine seitens der ambulanten Behandlerin Dr. Ko. in ihrem psychiatrischen Bericht vom 9. März 2015 zum Reha-Antrag genannte rezidivierende depressive Episode mit psychotischen Syndromen, eine Agoraphobie mit Panikstörung sowie eine generalisierte Angststörung konnte der Senat demgegenüber nicht feststellen. Die von der Klägerin auch im Rahmen der Begutachtung von Prof. Dr. Sc. berichteten Fehlwahrnehmungen sind als Pseudohalluzination zu sehen. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Sc ... Die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig leichtgradiger depressiver Episode deckt sich mit der von der gerichtlichen Sachverständigen Dr. Ra. geäußerten Auffassung. Weitere Diagnosen hat auch Prof. Dr. Sc. nicht gestellt.

Davon, dass die Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet das Ausmaß einer rezidivierenden depressiven Störung mit mittelgradiger Ausprägung und somatischem Syndrom erfüllen, konnte sich der Senat angesichts der vorliegenden Sachverständigengutachten trotz der entgegenstehenden Einschätzung insbesondere der Dr. De. nicht überzeugen.

(2) Aus den bei der Klägerin vorliegenden und vom Senat festgestellten Gesundheitsstörungen ergeben sich qualitative Einschränkungen. Ausgeschlossen sind berufliche Tätigkeiten mit erhöhter einschlägiger Belastung - etwa durch erhöhten Zeitdruck (z.B. Akkord-oder Fließbandarbeit) oder durch unphysiologische psychovegetative Belastung (z.B. Nachtarbeit) -, Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte, Tätigkeiten, die anhaltend hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit stellen (z.B. Kontrollarbeiten mit der Notwendigkeit sofortigen Eingreifens, Tätigkeiten an gefährlichen laufenden Maschinen), Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an die Flexibilität und Umstellungsfähigkeit (rascher Wechsel von Arbeitseinsatzorten, hochfrequenter Wechsel der Anforderungssituation), wegen der geminderten Affektregulation und sozialen Kompetenz der Klägerin sowie Tätigkeiten, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit interpersonelle Kompetenzen fordern - etwa unmittelbarer Publikumskontakt, Tätigkeiten mit dem Erfordernis intensiver Absprache in Arbeitsgruppen etc ... Aufgrund der vordiagnostizierten organisch begründeten Schmerzsyndrome, kann die Klägerin lediglich noch primär körperlich leichte Tätigkeiten mit Heben, Tragen und Bewegen von Gewichten ohne Hilfsmittel bis maximal etwa 10 kg verrichten. All dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Sc ...

(3) Die bei der Klägerin zu berücksichtigenden Gesundheitsstörungen führen jedoch nicht zu einem Absinken des tatsächlichen Restleistungsvermögens auf ein unter sechsstündiges Maß; die Klägerin ist weiterhin in der Lage, zumindest leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich auszuüben. Dies entspricht der übereinstimmenden Einschätzung der gerichtlichen Sachverständigen Dr. Ra. und Prof. Dr. Sc. sowie des im Verwaltungsverfahren tätigen Gutachters Dr. A., dessen Gutachten der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwerten konnte (vgl. etwa Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris, Rn. 51).

Soweit die nach § 109 Abs. 1 SGG beauftragte gerichtliche Sachverständige Dr. De. eine Leistungsfähigkeit von drei bis unter sechs Stunden angenommen hat, vermag dies den Senat nicht zu überzeugen. Denn insoweit ergaben sich keine objektiven Befunde, die eine relevante Minderung des quantitativen Leistungsvermögens begründen würden. Dr. De. hatte ihre Leistungseinschätzung darauf gestützt, dass im Laufe der dreistündigen Untersuchungssitzung Ermüdungserscheinungen bei der Klägerin aufgetreten seien. Diese qualifizierte sie nicht weiter. Demgegenüber erstreckte sich die Untersuchung bei Prof. Dr. Sc. auf über fünf Stunden. Während dieser Untersuchungssituation waren Zeichen pathologischer Ermüdbarkeit ebenso wenig festzustellen wie eine primäre Antriebsstörung. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Prof. Dr. Sc ... Gleiches gilt für die von Dr. Ra. durchgeführte Begutachtung. Auch diese dauerte fast vier Stunden und wurde von der Klägerin in bestimmendem Ton vorzeitig mit der Begründung abgebrochen, dass ihr nun die Motivation fehle. Zuvor hatte die Klägerin im Rahmen der Begutachtungssituation keine Antriebsstörung gezeigt und die an sie gestellten Fragen ausführlich und temperamentvoll mit lebhafter Gestik und Mimik beantwortet. Bezogen auf den Gesprächsinhalt habe sie Nebensächliches von Wesentlichem trennen können und keinen eingeschränkten inhaltlichen Gedankenumfang gehabt. Sie sei auf jede Frage korrekt eingegangen und habe keinen plötzlichen Abbruch eines zunächst schlüssigen Gedankenganges gezeigt. Auch habe sie keinen Mangel an Energie, Initiative oder Anteilnahme gehabt. Dies ergibt sich für den Senat aus dem Gutachten der Dr. Ra ...

Soweit die Klägerin das Gutachten des Prof. Dr. Sc. für nicht nachvollziehbar hält, erschließt sich dies dem Senat nicht. Insbesondere leidet das Gutachten des Prof. Dr. Sc. nicht an einer fehlerhaften Begutachtungsprozedur, da entgegen der Behauptung der Klägerin während der gesamten Exploration und Untersuchung Herr Ö. dolmetschte (vgl. Bl. 78 LSG-Akte). Auch die Anmerkung der Klägerin, es sei nicht haltbar, wenn der Sachverständige behaupte, "dass die Klägerin rückwärts von zwanzig bis eins zählen könne und deswegen konzentriert sei", geht ins Leere. Denn die Klägerin musste während der gesamten Begutachtung durch Prof. Dr. Sc. niemals konkret von zwanzig auf eins rückwärts zählen, noch war eine solche Leistung als Beweis der bestehenden Konzentrationsfähigkeit herangezogen worden. Die Tatsache, dass die Klägerin sehr lange Zeit brauchte, um sich an die genauen Geburtsdaten ihrer Kinder zu erinnern, belegt eine Antwortlatenz, die Prof. Dr. Sc. im Rahmen der testpsychologischen Befundung berücksichtigte. Auch wenn die Geburtsdaten in der Türkei wegen der späteren Registrierung nicht dem Tag der tatsächlichen Geburt entsprechen, könnten die registrierten Geburtsdaten bekannt sein. Die Klägerin hatte unter anderem zwei testpsychologische Beschwerdevalidierungsverfahren durchzuführen. Im Screeningverfahren SFSS (Strukturierter Fragebogen Simulierter Symptome) konnte sie 72 von 75 Fragen beantworten. Dabei erzielte sie 40 Wertungspunkte, was für ein Verdeutlichungsverhalten in Bezug auf ein breites Symptomspektrum spricht. Weiterhin wurde als sprachunabhängiges testpsychologisches Beschwerdevalidierungsverfahren der TOMM durchgeführt. Das Verfahren überprüft die Fähigkeit zur Wiedererkennung zuvor gezeigter einfacher Bilder und nimmt in Anspruch, zwischen tatsächlichen und bloß vorgetäuschten Gedächtnisstörungen zu unterscheiden. Hierzu werden zwei Lernversuche und ein optionaler Wiedererinnerungstest durchgeführt. In einer visuellen Merkfähigkeitsprüfung erzielte die Klägerin nach dem ersten Lerndurchgang 32, nach dem zweiten 37 Wiedererinnerungen. Solche Ergebnisse, die teilweise auf Zufallsniveau liegen, sind für kooperationswillige nicht-demente Personen äußerst unwahrscheinlich und sprechen für eine instruktionswidrig defizitäre Anstrengungsleistung. Hieraus ergeben sich, wie Prof. Dr. Sc. nachvollziehbar und schlüssig ausführt, Hinweise auf negative Antwortverzerrungen und instruktionswidrige Anstrengungsminderleistungen. Hieraus - wie die Klägerin meint - eine mangelnde Plausibilität des Gutachtens abzuleiten, erschließt sich dem Senat nicht.

(4) Ob der Klägerin ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Die jeweilige Arbeitsmarktlage ist nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Maßgebend ist, ob der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, sie also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann, wovon im Regelfall ausgegangen werden kann (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Dies bejaht der Senat wie zuvor dargelegt.

(5) Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen nicht vor. In einem solchen Fall kann der Arbeitsmarkt selbst bei einem noch vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise als verschlossen gelten (siehe – auch zum Folgenden – etwa Urteil des Senats vom 21. November 2014 – L 4 R 4797/13 – nicht veröffentlicht). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf noch vorhandenes Restleistungsvermögen nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten.

Dies ist hier nicht der Fall. Die qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin (siehe oben) sind nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Darin ist weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu sehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Keine dieser Fallkonstellationen ist bei der Klägerin vorhanden.

(6) Auch die Wegefähigkeit der Klägerin war und ist gegeben. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 21/10 R – juris, Rn. 21 f.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris, Rn. 19 f.). Die Klägerin ist in der Lage, eine Gehstrecke von 500 Metern viermal in weniger als 20 Minuten täglich zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Aus den ärztlichen Äußerungen ergeben sich keine Befunde, die für eine unter den genannten Maßstäben eingeschränkte Gehfähigkeit der Klägerin sprechen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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