L 4 P 1596/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 13 P 852/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1596/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Sendet ein Empfänger, dem ein Urteil gegen Empfangsbekenntnis zugestellt werden darf, das Empfangsbekenntnis nicht zurück, hat das Berufungsgericht sich im Wege des Freibeweises die volle Überzeugung zu verschaffen, dass die Berufungsfrist eingehalten worden ist (hier verneint).
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. März 2016 wird verworfen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren.

Gründe:

I.

Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von Leistungen der privaten Pflegeversicherung.

Die Beklagte ist ein privates Kranken- und Pflegeversicherungsunternehmen in Form eine Aktiengesellschaft. Der Kläger ist bei ihr pflegepflichtversichert. Er bezieht von ihr seit März 2013 Leistungen nach der Pflegestufe I, seit Februar 2015 nach der Pflegestufe II.

Während des Bezuges von Leistungen nach der Pflegestufe I beantragte der Kläger am 5. März 2014 und am 18. Februar 2015 eine Höherstufung. Dies lehnte die Beklagte auf Grundlage von Begutachtungen durch die M. GmbH mit Schreiben vom 10. April 2014 ab. Am 12. März 2015 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) und begehrte Leistungen der Pflegestufe II ab März 2014.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Sie wies unter anderem darauf hin, dass Zustellungen an sie nicht gegen Empfangsbekenntnis erfolgen könnten.

Mit Urteil vom 10. März 2016 verurteilte das SG die Beklagte, dem Kläger für März 2014 bis Januar 2015 Pflegeleistungen nach der Pflegestufe II zu gewähren. Das Urteil wurde zum Zwecke der Zustellung mit Empfangsbekenntnis an den Kläger und die Beklagte am 15. März 2016 zur Post gegeben. Das Empfangsbekenntnis des Klägers, das Urteil am 16. März 2016 erhalten zu haben, gelangte am 21. März 2016 an das SG zurück.

Die Beklagte hat am 29. April 2016 Berufung gegen das Urteil des SG beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Das Rubrum des Urteil des SG enthalte bereits einen gravierenden Fehler. Der Kläger werde dort als gesetzlich vertreten durch eine Betreuerin bezeichnet. Nach ihrer Kenntnis liege weder eine Betreuung noch eine gesetzliche Vertretung des Klägerin vor. Die als Betreuerin aufgeführte Person könne allenfalls Bevollmächtigte des Klägers sein. Sie könne im Übrigen unter keine Umständen zur Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe II verurteilt werden, da sie bereits alle vertraglichen Leistungen nach der Pflegestufe I erbracht habe. Sie könne daher allenfalls dazu verurteilt werden, die Leistungen nach Pflegestufe II zu erbringen, soweit ihre Leistungspflicht durch die Erbringung der Leistungen nach der Pflegestufe I nicht bereits erfüllt sei. Im Übrigen habe das SG ohne ausreichende fachliche Kenntnisse, ohne nachvollziehbare Abwägung der Gründe für die Behauptung der "Unschlüssigkeit" der von ihr eingeholten Gutachten und ohne Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Berücksichtigung der Behandlungspflege in der Pflegepflichtversicherung entschieden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. März 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend.

Am 3. Mai 2016 hat die Urkundsbeamtin des SG telefonisch die Beklagte um Rücksendung des Empfangsbekenntnisses über die Urteilszustellung gebeten. Der Mitarbeiter der Beklagten hat ausweislich des Telefonvermerkes der Urkundsbeamtin um "ordnungsgemäße Zustellung" gebeten, so wie es im Gesetz verankert sei. Auf Nachfrage, wann das Urteil bei der Beklagten eingegangen sei, hat der Mitarbeiter der Beklagten mitgeteilt, er gebe am Telefon keine Auskunft. Sie habe beim LSG Baden-Württemberg bereits Berufung eingelegt.

Am 3. Mai 2016 hat das SG das Urteil zum Zwecke der Zustellung mit Postzustellungsurkunde an die Beklagte erneut zur Post gegeben. Laut zur Akte des SG gelangter Postzustellungsurkunde ist das Urteil der Beklagten am 4. Mai 2016 zugestellt worden.

Mit Schreiben vom 9. Mai 2016 – adressiert an eine unzutreffende Postanschrift – hat der Senat die Beklagte um Äußerung zur Einhaltung der Berufungsfrist gebeten. Mit Schreiben vom 30. Juni 2016 – erneut an die unzutreffende Postanschrift – hat der Senat an die Erledigung der gerichtlichen Verfügung vom 1. Juni 2016 (Stellungnahme zur Berufungserwiderung des Klägers) erinnert.

Mit Schreiben vom 4. August 2016 – wiederum an die unzutreffende Postanschrift – hat der Berichterstatter die Beklagte darauf hingewiesen, dass das Schreiben vom 9. Mai 2016 bislang nicht beantwortet worden sei. Das Urteil des SG sei dort am 15. März 2016 zur Post gegeben worden. Es sei der Bevollmächtigten des Klägers am 16. März 2016 zugestellt worden. Die Beklagte habe das Empfangsbekenntnis nicht zurückgesandt, obwohl auch an ein Unternehmen der privaten Pflegeversicherung per Empfangsbekenntnis zugestellt werden dürfe. Die Berufungsschrift der Beklagten sei beim LSG am 29. April 2016 eingegangen, so dass weiterhin zweifelhaft sei, ob die Berufungsfrist gewahrt sei. Die zweite Zustellung des Urteils durch das SG – nun per Postzustellungsurkunde – sei nicht geeignet gewesen, die Berufungsfrist neu beginnen zu lassen. Sie sei im Übrigen nach Berufungseinlegung erfolgt.

Mit Schreiben vom 4. August 2016 – beim Senat eingegangen am 8. August 2016 – hat sich die Beklagte geäußert. Sie hat darauf hingewiesen, dass der Senat Schreiben an eine unzutreffende Postanschrift adressiere. Unter dieser Adresse unterhalte sie keinerlei Einrichtungen und die Schreiben gingen bei ihr dadurch regelmäßig erheblich zeitverzögert ein.

Unter dem 16. August 2016 ist das Schreiben des Berichterstatters vom 4. August 2016 erneut an die Beklagte – nun mit richtiger Adresse – abgesandt worden.

Mit Schreiben vom 25. August 2016 – beim Senat eingegangen am 26. August 2016 – hat sich die Beklagte erneut geäußert. Sie hat zunächst erneut auf eine falsche Adressierung verwiesen. Ein Schreiben des Senats vom 9. Mai 2016 sei ihr nicht bekannt. Das Urteil des SG vom 15. März 2016 sei bei ihr mit einfachem Brief auf 29. März 2016 eingegangen. Eine Zustellung durch das SG sei erst am 4. Mai 2016 erfolgt.

Mit Schreiben vom 29. August 2016 hat der Vorsitzende des Senats eine Kopie des Schreibens vom 9. Mai 2016 an die Beklagte an deren richtige Anschrift übersandt. Er hat zugleich darauf hingewiesen, dass das SG das Urteil vom 10. März 2016 zum Zwecke der Zustellung mit Empfangsbekenntnis am 15. März 2016 zur Post gegeben habe. Das Empfangsbekenntnis sei nicht an das SG zurückgelangt. Nach dem in der Anlage als Kopie beigefügten Vermerk der Geschäftsstelle des SG vom 3. Mai 2016 sei die Beklagte telefonisch gebeten worden, das Empfangsbekenntnis zurückzusenden. Der Telefongesprächspartner habe um ordnungsgemäße Zustellung gebeten und keine weiteren Auskünfte gegeben. Die Beklagte ist um Äußerung bis zum 19. September 2016 gebeten worden, weshalb sie das Empfangsbekenntnis nicht ordnungsgemäß ausgefüllt und an das SG zurückgesandt habe.

Die Beklagte hat sich mit Schreiben vom 19. September 2016 – beim Senat eingegangen am 21. September 2016 – geäußert. Sie hat darauf verwiesen, mit Schriftsatz vom 25. August 2006 darauf hingewiesen zu haben, dass das Urteil des SG vom 15. März 2016 bei ihr mit einfachem Brief am 29. März 2016 eingegangen sei. Den im Aktenvermerk der Urkundsbeamtin des SG vom 3. Mai 2016 namentlich genannten Mitarbeiter gebe es bei ihr nicht.

Mit Schreiben vom 21. September 2016 hat der Berichterstatter die Beteiligten auf die Absicht des Senats hingewiesen, die Berufung wegen Verfristung durch Beschluss zu verwerfen. Da mittlerweile feststehe, dass das Urteil des SG vom 10. März 2016 bereits beim ersten Zustellversuch der Beklagten zugegangen sei, gehe der Senat davon aus, dass die Berufung verfristet sei. Zwar habe die Beklagte inzwischen angegeben, dass ihr das Urteil am 29. März 2016 zugegangen sei, so dass die Berufungsfrist gewahrt wäre. Dies erscheine aber im Hinblick darauf, dass das Urteil des SG bereits am 15. März 2016 zur Post gegeben worden sei, wenig glaubhaft. Sollte die Beklagte nicht den Beweis führen können, dass ihr das Urteil tatsächlich erst am 29. März 2016 zugegangen sei, sei beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss zu verwerfen. Dieses Schreiben ist der Beklagten ausweislich der zur Akte des Senats gelangten Postzustellungsurkunde am 23. September 2016 zugegangen.

Die Beklagte hat sich dazu mit Schreiben vom 10. Oktober 2016 geäußert. Die Berufungsfrist sei gewahrt. Der Senat gehe von einem ersten Zustellversuch aus. Bereits dies sei unzutreffend, da ein Zustellversuch nie stattgefunden habe, da keine (ordnungsgemäße) "Zustellung" erfolgt sei. Denn mit einfachem Brief sei keine ordnungsgemäße Zustellung und somit auch kein "Zustellungsversuch" möglich. Der Senat verkenne im Übrigen die Beweislastverteilung beim Zugang eines gerichtlichen Urteils. Diese liegt nicht bei ihr. Wenn ein Gericht (wie hier) keine ordnungsgemäße Zustellung durchführe, sondern mit einfachem Brief übersende, könne dies nicht zu ihren Lasten gehen und die Beweislast auf sie abwälzen. Denn dies würde die Notwendigkeit irgendwelcher gesetzlicher Zustellungsvorschriften ad absurdum führen. Gerade die gesetzlichen Zustellungsvorschriften (§§ 63 ff. Elftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XI] – gemeint wohl: Sozialgerichtsgesetz [SGG] – i.V.m. der Zivilprozessordnung [ZPO]) sollten Streitigkeiten über den Zugangszeitpunkt verhindern. Wenn diese von einem Gericht nicht eingehalten würden, seien zwar Heilungsvorschriften vorgesehen, jedoch keinesfalls dahingehend, dem Empfänger die Beweislast für den Zugang aufzuerlegen, wie es der Senat hier offenbar tun wolle. Es würde damit ihr eine nicht erfüllbare Beweislast auferlegt, die gerade durch die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften verhindert werden solle. Denn es sei ihr unmöglich, einen (nicht ordnungsgemäßen) Zugang nachzuweisen. Mögliche Verzögerungen bei der Abgabe zur Post oder auf dem Sendungsweg seien weder von ihr zu beweisen noch beweisbar noch ihrer Sphäre zuzurechnen. Somit sei die Einlegung der Berufung fristgemäß erfolgt, ohne dass es dafür eines weiteren durch sie zu erbringenden Beweises bedürfe oder überhaupt ein solcher Beweis von ihr verlangt werden könne.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

1. Die Berufung der Beklagten ist unzulässig und daher gemäß § 158 Sätze 1 und 2 SGG zu verwerfen, nachdem die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.

a) Die am 29. April 2016 eingelegte Berufung der Beklagten ist verfristet.

Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Nach § 151 Abs. 2 SGG ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die nach § 64 SGG zu bestimmende Berufungsfrist wäre daher nur gewahrt, wenn das – mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehene – Urteil des SG frühestens am 29. März 2016 der Beklagten zugegangen wäre.

aa) Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass das Urteil des SG der Beklagten bereits vor dem 29. März 2016 zugegangen ist, so dass die Einlegung der Berufung am 29. April 2016 die Monatsfrist nicht gewahrt hat. Zwar liegt kein Zustellungsnachweis hinsichtlich der Zustellung des Urteils des SG vor. Bei prozessualen Fragen und damit auch der Frage, ob und wann Urteile einen Beteiligten erreichen, ist das Gericht nicht an die allgemeinen Vorschriften über das Beweisverfahren gebunden, sondern es entscheidet im Wege des sogenannte Freibeweises (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 1. Oktober 2009 – B 3 P 13/09 B – juris, Rn. 7; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 64 Rn. 6a). Die Rechtzeitigkeit eines Rechtsmittels muss zur vollen Überzeugung des Gericht bewiesen werden (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Beschluss vom 30. Oktober 1997 – VII ZB 19/97 – juris, Rn. 6 m.w.N.) Während ein Zustellungsnachweis grundsätzlich über das Ob und das Datum der Zustellung Beweis erbringt, bedeutet dies nicht umgekehrt, dass bei fehlendem Zustellungsnachweis keine richterliche Überzeugung vom Zugang eines Schriftstückes gebildet werden könnte (vgl. Bundesfinanzhof [BFH], Beschluss vom 23. August 2005 – VII B 153/05 – juris, Rn. 4; BFH, Beschluss vom 4. März 2008 – IV B 119/07 – juris, Rn. 6). Das Ausfüllen des Empfangsbekenntnisses ist zudem nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der Zustellung, sondern dient nur dem vereinfachten Nachweis der Zustellung (vgl. BSG, Beschluss vom 7. Oktober 2004 – B 3 KR 14/04 R – juris, Rn. 11).

bb) Dass der Beklagten das Urteil bereits aufgrund des ersten Zustellversuches des SG zugegangen ist, ist unstreitig. Auch die Beklagte räumt dies ein. Sie ist lediglich der (bereits bei Klageerwiderung angekündigten) Auffassung, dass eine Zusendung mit "einfachem" Brief und Empfangsbekenntnis keine ordnungsgemäße Zustellung sei. Dies ist indes unzutreffend, da die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Streitsachen der privaten Pflegeversicherung Zustellungen an private Versicherungsunternehmen gemäß § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. § 174 ZPO auch gegen Empfangsbekenntnis bewirken können (BSG, Beschluss vom 1. Oktober 2009 – B 3 P 13/09 B – juris, Rn. 11; Jung, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 63 Rn. 25; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 63 Rn. 8a). Dass die Beklagte das Empfangsbekenntnis nicht zurückgesandt hat, steht der Wirksamkeit der Zustellung nicht entgegen, da Zustellungsmängel durch den – unstreitig erfolgten – Zugang geheilt werden (§ 63 Abs. 2 SGG i.V.m. § 189 ZPO; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 63 Rn. 21). Soweit die Heilung von Zustellungsmängeln davon abhängig gemacht wird, dass das Gericht mit Zustellungswillen gehandelt hat (siehe die Nachweise bei BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 – VII ZR 186/09 – juris, Rn. 40 ff.), ist auch diese Voraussetzung erfüllt, denn das SG hat gerade mit Empfangsbekenntnis zustellen wollen. Im Übrigen kann sich die Beklagte auf Zustellungsmängeln ohnehin nicht berufen. Denn die Folgen einer fehlerhaften Zustellung entfallen jedenfalls, sobald der in Betracht kommende Rechtsbehelf ohne Rüge des Zustellungsmangels eingelegt wird (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 63 Rn. 21b; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 56 Rn. 8 m.w.N.). Dies ist hier der Fall, da die Beklagte am 29. April 2016 ohne Rüge eines Zustellungsmangels Berufung eingelegt hat, also noch vor der (zweiten) Zustellung durch das SG am 4. Mai 2016. Diese zweite Zustellung war daher auch nicht geeignet, die Frist für die Einlegung der Berufung erneut beginnen zu lassen.

cc) Streitig ist damit allein, wann das Urteil des SG der Beklagten zugegangen ist. Insoweit steht aber zur Überzeugung des Senats fest, dass die Behauptung der Beklagten, das Urteil des SG sei ihr erst am 29. März 2016 zugegangen, nicht zutrifft. Diese Überzeugung stützt sich zum einen darauf, dass das SG das Urteil bereits am 15. März 2016 zu Post gegeben hat. Dem Kläger ist es bereits am Folgetag zustellt worden. Selbst wenn man berücksichtigt, dass der Kläger in Karlsruhe wohnt, während die Zustellung mit Empfangsbekenntnis an die von der Beklagten in der Klageerwiderung angegebene Anschrift in Unterföhring (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 1. Juni 2015, Bl. 32 der SG-Akte) ging, ist es höchst unwahrscheinlich (vgl. BSG, Beschluss vom 1. Oktober 2009 – B 3 P 13/09 B – juris, Rn. 8), dass der Postlauf vierzehn Tage bzw. zehn Werktage (einschließlich zweiter Samstage) gedauert hat. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass § 2 Nr. 3 Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 25. Dezember 1999 (BGBl. I S. 2418) verlangt, dass von den an einem Werktag eingelieferten inländischen Briefsendungen – mit Ausnahme der Sendungen, die eine Mindesteinlieferungsmenge von 50 Stück je Einlieferungsvorgang voraussetzen – im Jahresdurchschnitt mindestens 80 vom Hundert an dem ersten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 95 vom Hundert bis zum zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert werden müssen. Dies rechtfertigt es, bei der Frage, ob prozessuale Fristen eingehalten sind, grundsätzlich – ohne konkrete Anhaltspunkte für längere Postlaufzeiten – auf die Einhaltung der üblichen Postlaufzeiten abzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 – XII ZB 155/07 – juris, Rn. 8 f.). Selbst wenn die Zustellung des Urteils des SG nicht innerhalb von zwei Tagen erfolgt wäre, wäre die Monatsfrist immer noch nicht gewahrt; diese wäre nur gewahrt, wenn das Urteil erst am 29. März 2016 und damit erst am zehnten Werktag (einschließlich zweier Samstage) nach Aufgabe zur Post der Beklagten zugegangen wäre. Es ist zwar gerichtsbekannt, dass Postsendungen ihren Empfänger in – allerdings sehr seltenen Fällen – gar nicht erreichen, sondern verloren gehen. So liegt der Fall hier aber gerade nicht, denn die Beklagte hat die Postsendung unstreitig erhalten. Im Übrigen sind sogar die Schreiben des Senats, die an eine falsche Postanschrift adressiert waren, an die Beklagte gelangt, wenn auch mit Verzögerung. Dass die Urteilszustellung durch das SG an eine unzutreffende Adresse erfolgt sei, hat die Beklagte nicht behauptet. Hierfür ist auch nichts ersichtlich.

Auch das Verhalten der Beklagten führt zu Zweifeln an der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben. Die Beklagte hat mit Berufungseinlegung am 29. April 2016 nicht mitgeteilt, wann ihr das Urteil des SG zugegangen ist. Das angebliche Datum des Zugangs des Urteil hat die Beklagte vielmehr erst auf Nachfrage des Senats mit Schreiben vom 25. August 2016 – beim Senat am Folgetag eingegangen – angegeben, nachdem der Senat der Beklagten mitgeteilt hatte, wann ihre Berufungsschrift beim LSG eingegangen war, so dass der Senat überzeugt ist, dass die Angabe des Zugangsdatums davon geleitet war, sich der Einhaltung der Monatsfrist zu berühmen. Die Beklagte ging zudem bei Einlegung der Berufung ja aufgrund ihrer (irrigen) Auffassung, eine ordnungsgemäße Zustellung sei nicht erfolgt, davon aus, dass eine Berufungsfrist nicht laufe, so dass auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Beklagte die Berufung gerade am 29. April 2016 erhoben hat, um die Monatsfrist zu wahren; dagegen spricht auch, dass die Berufung ausschließlich per Post und nicht vorab per Telefax eingelegt worden ist, die Beklagte also nicht der Auffassung war, einen fristgerechten Zugang sicherstellen zu müssen. Die Beklagte hat schließlich auch auf den Hinweis des Berichterstatters, dass die Verwerfung ihrer Berufung beabsichtigt sei, keinerlei Indizien unterbreitet – etwa die Ausfertigung des Urteils mit einem Eingangsstempel –, die ihre Behauptung stützen könnten.

Der BFH geht im Übrigen davon aus, dass bei fehlender Rücksendung des Empfangsbekenntnisses trotz Erinnerung derjenige Tag als Zustellungstag anzusehen ist, an dem das Urteil nach dem normalen Verlauf der Dinge erstmals in die Hände des Adressaten gelangt ist, und dass die Vermutung gerechtfertigt ist, dass der Zugang spätestens am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post erfolgt ist (BFH, Beschluss vom 23. August 2005 – VII B 153/05 – juris, Rn. 4 m.w.N.; BFH, Beschluss vom 4. März 2008 – IV B 119/07 – juris, Rn. 6 m.w.N.; ebenso W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 56 Rn. 19; a.A. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 63 Rn. 8f). Gründe, warum es im vorliegenden Verfahren zu einer Abweichung vom normalen Verlauf der Dinge gekommen sei, hat die Beklagte nicht vorgebracht. Legt man die Rechtsprechung des BFH zugrunde, ist daher von einer Zustellung des am 15. März 2016 zur Post gegebenen Urteils des SG am 18. März 2016 auszugehen, dass auch insoweit die Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG durch die Berufungseinlegung am 29. April 2016 nicht gewahrt ist.

b) Der Beklagten ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Gemäß § 67 Abs. 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGG). Ist dies geschehen, kann die Wiedereinsetzung nach § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG auch ohne Antrag gewährt werden.

Gründe für eine Wiedereinsetzung sind von der Beklagten nicht behauptet worden und auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere liegt kein Grund für eine Wiedereinsetzung in der zweiten Zustellung des Urteils des SG. Denn die Beklagte hatte bereits zuvor Berufung eingelegt, also die Berufung gerade nicht im Vertrauen darauf eingelegt, dass für den Beginn der Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG der Zeitpunkt der zweiten Zustellung maßgeblich sei.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

3. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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