L 4 KR 60/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 11 KR 1246/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 60/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. Dezember 2015 wird verworfen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung und -übernahme podologischer Behandlungen.

Die Klägerin ist 1956 geboren und bei der Beklagten krankenversichert. Sie beantragte am 10. Februar 2014 durch Vorlage einer entsprechenden Verordnung des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. K. vom 4. Februar 2014 eine podologische Behandlung bei Postpoliomyelitissyndrom des rechten Beins mit Sprunggelenksvertiefung.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 21. Februar 2014 nach Einholung eines Gutachtens von Dr. M. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) ab. Den hiergegen von der Klägerin mit Schreiben vom 24. Februar 2014 erhobenen Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2014 nach Einholung eines kurzen sozialmedizinischen Gutachtens des Dr. B. vom MDK zurück.

Hiergegen erhob die Klägerin am 16. Mai 2014 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG). Sie vertrat die Auffassung, die krankheitsbedingten häufigen Einwachsungen müssten von einer Fachkraft für Fußpflege durchgeführt werden, und verwies auf verschiedene sozialgerichtliche Urteile.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid sowie auf die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinie) entgegen. Die von der Klägerin angeführten Urteile gäben für den vorliegenden Sachverhalt nichts her.

Das SG hob, nachdem es behandelnde Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt hatte, mit Urteil vom 9. Dezember 2015 den Bescheid der Beklagten vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2014 auf und verurteilte die Beklagte, die Kosten für die podologische Behandlung der Klägerin als langfristige Heilmittelgewährung "für ein Jahr ab Mai 2015" zu übernehmen. Die Heilmittel-Richtlinie begrenze podologische Leistungen zwar auf dem Ausnahmefall des diabetischen Fußsyndroms. Mit der Ablehnung podologischer Leistungen im Falle der Klägerin liege eine unsachgemäße Differenzierung vor, nachdem die Klägerin ohne die podologische Behandlung unter erheblichen Folgeschäden im Bereich des rechten Fußes, nämlich unter Hautschädigungen und Entzündungen sowie Einwachsen im Bereich der Nägel leiden würde. Der Klägerin sei unstreitig die Selbstversorgung des rechten Fußes nicht möglich. Der Fuß könne aufgrund der Sprunggelenksarthrose nicht gekippt werden. Das Schneiden der Nägel und die Beseitigung der Hornhaut könne die Klägerin nicht selbst ausführen. Eine weitere Selbstversorgung, zuletzt unsachgemäß mit langer Schere ausgeführt, gehe mit der Gefahr der Selbstschädigung einher und sei der Klägerin praktisch unmöglich. Dies habe sie in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargetan. Das Risiko unbemerkter Verletzungen sei höher, nachdem die Klägerin den Fuß nicht selbst pflegen könne. Antibiotische Behandlung habe bereits mehrfach erfolgen müssen. Unter dem Gesichtspunkt des Abwendens der Gefahr von Hautschädigungen und Fußerkrankungen sei hiernach die podologische Fachpflege des rechten Fußes erforderlich. Die Fußpflege sei im Rahmen der langfristigen Heilmittelbehandlung nur für die Dauer eines Jahres zu gewähren (Hinweis auf § 8 Abs. 5 Heilmittel-Richtlinie).

Gegen das ihr am 22. Dezember 2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Januar 2016 Berufung eingelegt. Es läge weder eine der Sache dem diabetischen Fußsyndrom vergleichbare Krankheit vor noch sei eine Fehlerhaftigkeit der Heilmittel-Richtlinien nachvollziehbar begründet. Die podologische Behandlung sei nach den Ausführungen des SG nicht auf Grund krankhafter Veränderungen an den Fußzehen/Zehennägel erforderlich, sondern weil die Klägerin die Verrichtung der Fußpflege auf Grund von Bewegungseinschränkungen nicht mehr selbst vornehmen könne. Die erforderliche Fußpflege sei insofern der Körperpflege und damit der Grundpflege und dem Verantwortungsbereich der Klägerin zuzuordnen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, wie das SG zu der Feststellung komme, dass eine generelle Fehlerhaftigkeit der Heilmittel-Richtlinie bezüglich der Leistungsbeschränkung von podologischer Therapie bei einem diabetischen Fußsyndrom vorliege. Das SG habe keinerlei Feststellungen bezüglich einer möglichen Fehleinschätzung des GBA getroffen. Das SG gehe auch ohne Begründung davon aus, dass es sich bei der Fußpflege um eine langfristige Heilmittelbehandlung im Sinne des § 8 Abs. 5 der Heilmittel-Richtlinien handle. Das SG gehe auf Grund einer Poliomyelitiserkrankung von einer funktionellen Schädigung aus. Eine medizinische Begründung dazu werde jedoch nicht benannt. Auch sei die Diagnose Poliomyelitis nicht in der Liste der Diagnosen mit langfristigem Heilmittelbedarf des GBA enthalten. Die Klägerin habe im Übrigen auch keinen Antrag auf eine langfristige Genehmigung gestellt und dies sei auch nicht Gegenstand ihrer Entscheidung gewesen sei.

Die Beklagte beantragt (sachgerecht gefasst),

1. das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. Dezember 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen, 2. die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt (sachgerecht gefasst),

1. die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. Dezember 2015 zurückzuweisen, 2. die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Reutlingen vom 9. Dezember 2015 zu verurteilen, die Kosten für die podologische Behandlung als langfristige Heilmittelgewährung ab Mai 2015 ohne zeitliche Befristung zu gewähren.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 23. Dezember 2015 zugestellte Urteil am 20. Juni 2016 Anschlussberufung eingelegt. Da ihr Antrag nicht auf eine bestimmte Zahl von Behandlungen eingeschränkt gewesen sei und mit ärztlichem Attest des Prof. Dr. K. vom 6. Februar 2014 Kostenübernahme für regelmäßige podologische Behandlungen beantragt worden sei, sei davon auszugehen, dass eine langfristige Heilmittelbehandlung beantragt gewesen sei. Für die podologische Behandlung sei in der Heilmittel-Richtlinie keine Gesamtverordnungsmenge des Regelfalls wie bei anderen Heilmitteln vorgesehen. Zwischen dem 13. Mai 2015 und dem 1. Juni 2016 seien ihr für sieben podologische Komplexbehandlungen (am 13. Mai, 17. Juni und am 5. August 2015 sowie am 4. Januar, 17. Februar, 13. April und 1. Juni 2016) Kosten in Höhe von je EUR 31,50, insgesamt also von EUR 220,50 entstanden (vorgelegte Jahresrechnung 2015/2015 des Podologen G. vom 20. Juli 2016).

Der Berichterstatter hat die Beteiligten auf die Absicht des Senats, die Berufung zu verwerfen, hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Beteiligten haben sich nicht geäußert.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtzüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

II.

1. Die Berufung der Beklagten ist unzulässig und daher gemäß § 158 Sätze 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen, nachdem die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.

a) Die Berufung bedarf gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes (1.) bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, EUR 750,00 oder (2.) bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden EUR 10.000,00 nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

b) Diese Voraussetzungen für eine zulassungsfreie Berufung liegen hier nicht vor. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt einen Betrag von EUR 750,00 nicht, denn für die vom Urteil des SG umfassten podologischen Behandlungen zwischen dem 1. Mai 2015 und dem 30. April 2016 sind lediglich Kosten in Höhe von EUR 189,00 entstanden; dies ergibt sich aus der von der Klägerin vorgelegten Jahresrechnung 2015/2016 des Podologen G. von 20. Juli 2016. Die podologische Behandlung vom 1. Juni 2016 liegt außerhalb des von SG ausgeurteilten Zeitraums.

Auch § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG greift nicht ein. Das SG hat die Beklagte in dem angegriffenen Urteil zur Leistungsgewährung "für ein Jahr ab Mai 2015", also für die Zeit vom 1. Mai 2015 bis zum 30. April 2016, verurteilt, also gerade nicht für Leistungen für mehr als ein Jahr.

Die Berufung ist auch vom SG nicht zugelassen worden. Eine solche Zulassung ist weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils erfolgt. Die dem angegriffenen Urteil beigefügte (und unzutreffende) Rechtsmittelbelehrung, nach der das Urteil mit der Berufung angefochten werden könne, stellt keine Berufungszulassung dar (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 6. Oktober 2011 – B 9 SB 45/11 B – juris, Rn. 12).

Ob die Berufung auf eine noch zu erhebende Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung, für die aufgrund der unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung des SG die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG gilt, zuzulassen wäre, kann hier nicht entschieden werden. Insbesondere kann die Berufung der Beklagten nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde umgedeutet werden (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 4 R 19/06 R – juris, Rn. 21 f.; BSG, Urteil vom 20. Mai 2003 – B 1 KR 25/01 R – juris, Rn. 18 ff.).

2. Die Anschlussberufung der Klägerin verliert durch die Verwerfung der Berufung der Beklagten gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 524 Abs. 4 Zivilprozessordnung ihre Wirkung. Eines (deklaratorischen) Ausspruchs hierüber bedarf es nicht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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