L 11 R 4182/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 3259/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4182/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden die Bescheide der Beklagten vom 22.11.2011 und 19.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2012 abgeändert, der Bescheid vom 26.03.2014 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.04.2014 bis 30.04.2039 zu gewähren.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Tatbestand:

Der Kläger macht einen Anspruch auf Gewährung (Verlängerung) einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit ab 01.04.2014 geltend.

Der 972 geb Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde in L. geboren und verbrachte dort einen Teil seiner Kindheit. Vom sechsten bis zum fünfzehnten Lebensjahr wohnte er in I. bei seinen Großeltern. Im März 1988 kam er dann wieder nach Deutschland. Hier war er als Montagearbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Am 25.08.1995 erlitt er bei einem Verkehrsunfall mehrere Frakturen beider Unterschenkel. Die Unfallkasse Baden-Württemberg anerkannte den Unfall mit Bescheid vom 16.05.2006 als Arbeitsunfall und gewährte dem Kläger bis zum 20.02.1997 Verletztengeld und ab 21.02.1997 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Zwischenzeitlich beträgt die MdE aufgrund der Unfallfolgen 60 vH. Vom 01.06.1996 bis zum 31.12.1999 und vom 01.11.2002 bis zum 31.03.2014 bezog der Kläger vom beklagten Rentenversicherungsträger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Während die Beklagte dem Kläger inzwischen eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch für die Zeit ab 01.04.2014 bis zum 30.04.2039 (Monat des Erreichens der Regelaltersgrenze) zugesprochen hat (Bescheid vom 26.11.2014), lehnt sie es ab, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 31.03.2014 hinaus zu gewähren. In einem Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg (L 7 R 3083/04) hatte sich die Beklagte bereit erklärt, einen vom Kläger gestellten Rehabilitationsantrag vom 26.04.2002 als Rentenantrag zu werten und hierüber zu entscheiden. Diesen Rentenantrag lehnte sie zunächst mit Bescheid vom 12.04.2006 und Widerspruchsbescheid vom 28.08.2008 ab, gewährte schließlich dem Kläger aber nach Abgabe eines Anerkenntnisses in einem weiteren Berufungsverfahren vor dem LSG (L 5 R 2245/10) Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.11.2002 bis 31.10.2011 (Ausführungsbescheid vom 16.6.2011). Mit den Bescheiden vom 22.11.2011 (Rente verlängert bis 31.01.2012) und 19.03.2012 gewährte sie dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung bis einschließlich 31.03.2014. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.09.2012 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten die Widersprüche des Klägers gegen die Bescheide vom 22.11.2011 und 19.03.2012 als unbegründet zurück.

Am 04.10.2012 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und die Auffassung vertreten, dass er vor allem wegen der Folgen des Arbeitsunfalls nicht nur Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, sondern auf Rente wegen voller Erwerbsminderung habe, und zwar nicht nur befristet, sondern auf unbestimmte Zeit.

Während des Klageverfahrens hat die Beklagte den Antrag des Klägers auf Weiterzahlung der Rente für die Zeit ab 01.04.2014 mit Bescheid vom 26.03.2014 abgelehnt.

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers, ua den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L., befragt. Dieser hat mitgeteilt, der Kläger befinde sich seit August 2004 in seiner Behandlung. Anlass hierfür sei ein chronifiziertes Schmerzsyndrom und eine chronische Depression. Durch die anhaltenden Schmerzen sei der Kläger zu einer Dauerbehandlung mit Schmerzmitteln gezwungen. Er nehme Valoron in erheblichen Dosen, so dass er mittlerweile opiatabhängig sei. Mit diesem Medikament behandle der Kläger auch seine Depression (Schreiben vom 16.04.2013).

Das SG hat ferner Dr. H., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Forensische Psychiatrie und Chefarzt der Klinik für Suchttherapie im Klinikum a. W., mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 14.02.2014 zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit noch mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne. Gegen das Gutachten hat der Kläger mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 18.03.2014 (Bl 78 ff der SG-Akte S 4 R 3259/12) Einwände erhoben. Hierzu hat sich der Sachverständige in einer Stellungnahme vom 27.03.2014 geäußert; er ist bei seiner im Gutachten niedergelegten Auffassung geblieben. Anschließend hat das SG das fachorthopädische Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. T. vom 14.05.2014 eingeholt. Dieser hat ebenfalls die Auffassung vertreten, dass dem Kläger noch leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich zumutbar seien. Auch hiergegen hat der Kläger Einwände vorgebracht (Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 25.06.2014 (Bl 145 ff der SG-Akte)). Der Sachverständige hat hierzu unter dem Datum vom 14.07.2014 ergänzend Stellung genommen und mitgeteilt, dass er an seiner sozialmedizinischen Beurteilung festhalte.

Mit Gerichtsbescheid vom 22.08.2014, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 28.08.2014, hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei ab 01.04.2014 nach Überzeugung des SG in der Lage, eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dies ergebe sich aus den Gutachten des Dr. H. und des Dr. T ...

Mit einem am 23.09.2014 beim SG eingegangenen Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten hat der Kläger Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG eingelegt. Aufgrund der Unfallfolgen und einer Depression sei er nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Arbeitsmarkt sei ihm verschlossen. Er könne über längere Zeit weder gehen noch stehen oder sitzen. Nur aufgrund seines geringen Gewichts sei er überhaupt in der Lage zu gehen.

Der Kläger beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 22.11.2011 und 19.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2012 abzuändern, den Bescheid vom 26.03.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.04.2014 bis 30.04.2039 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 22.08.2014 zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für richtig.

Der Senat hat zunächst die behandelnde Fachärztin für Orthopädie Dr. Sch.-W. als sachverständige Zeugin befragt. Diese hat mitgeteilt, dass sich der Kläger einmal am 08.04.2015 in ihrer Praxis "zur Bestandsaufnahme aufgrund eines Verschlechterungsantrags beim Landratsamt L." vorgestellt habe. Er habe über erhebliche Schmerzen in den Beinen sowie über Problem beim Gehen geklagt. Hinsichtlich der erhobenen Befunde hat sie auf ihren Arztbrief vom 09.05.2014 verwiesen, den sie ihrer Auskunft beigefügt hat.

Anschließend hat der Senat von Amts wegen den Oberarzt des M.hospitals S. Dr. D. mit der Erstattung eines unfallchirurgisch-orthopädischen Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 17.03.2014 hat der Sachverständige ua ausgeführt, beide unteren Extremitäten seien gekennzeichnet durch die Verletzungsfolgen der im Jahre 1995 erlittenen offenen Unterschenkelbrüche. Daraus ergäben sich auch Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit, allerdings nicht in zeitlicher Hinsicht. Der Kläger sei unter der Voraussetzung des selbstgewählten Wechsels zwischen Gehen, Stehen und Sitzen noch in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche auszuüben. Hiergegen hat der Kläger Einwände vorgebracht (Schriftsatz vom 12.04.2016, Bl 202 ff der LSG-Akte), auf die der Sachverständige mit Datum vom 09.05.2016 geantwortet hat.

Schließlich hat der Senat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. B. gutachtlich gehört. In seinem Gutachten vom 12.09.2016 hat Prof. Dr. B. beim Kläger eine depressive Erkrankung diagnostiziert, wobei das Ausmaß der Erkrankung Schwankungen unterliege. Derzeit bestehe eine mittelgradige depressive Episode. Ferner leide der Kläger an einer Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Das Leistungsvermögen des Klägers sei schon vor langer Zeit auf ein Minimum abgesunken. Zu diesem Gutachten hat die Beklagte die sozialmedizinische Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. E.-De. vom 17.10.2016 vorgelegt. Darin wird ausgeführt, weshalb dem Gutachten des Prof. Dr. B. nicht gefolgt werden könne.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakten, die Vorakten und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers hat Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.04.2014.

Streitgegenstand des Verfahrens ist die Verlängerung einer bis zum 31.03.2014 befristet gewährten Rente wegen voller Erwerbsminderung. Nicht mehr streitig ist, ob (zumindest auch) Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung besteht; eine solche Rente wird dem Kläger bereits auf Dauer bzw bis zum Monat des Erreichens der Regelaltersgrenze gewährt.

Befristete Renten wegen Erwerbsminderung können verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn nach § 102 Abs 2 Satz 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Mit dieser durch Art 1 Nr 32 Buchst a) Doppelbuchst aa) RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554) mit Wirkung ab 01.05.2007 (Art 27 Abs 7 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) eingefügten Regelung wird bestimmt, dass lediglich eine Verlängerung der anfänglichen Befristung erfolgt, es beim ursprünglichen Rentenbeginn verbleibt und eine Folgerente ohne Neuberechnung im Umfang der bisherigen Rente weiterzuzahlen ist (BT-Drucks 16/3794 S 37).

Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie ua voll erwerbsgemindert sind (Nr 1). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Der Kläger ist in diesem Sinne voll erwerbsgemindert. Allerdings ist der Kläger zur Überzeugung des Senats noch in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten jedenfalls sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Zu vermeiden sind Arbeiten mit häufigem Stehen oder Gehen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten, die ein In die tiefe Hocke-Gehen erfordern. Eine Überforderung durch Akkordarbeit, Nachtarbeit oder durch Arbeiten unter besonderem Zeitdruck muss ebenso vermieden werden wie Arbeiten mit besonders hohen Ansprüchen an Auffassung und Konzentration. Auch Arbeiten, die mit einer besonders hohen Verantwortung und einer besonderen geistigen Beanspruchung verbunden sind, können vom Kläger nicht mehr verlangt werden. Darüber hinaus muss dem Kläger nach eineinhalb Stunden Sitzen ermöglicht werden, die Beine in Hüfthöhe hochlegen zu können. Dies entnimmt der Senat den Gutachten des Dr. H., des Dr. T. und des Dr. D.

Der Kläger ist in körperlicher Hinsicht besonders von den Folgen eines als Arbeitsunfall anerkannten Verkehrsunfalls betroffen. Neben Weichsteilveränderungen im Sinne von Narbenbildungen und Weichteildefekten, insbesondere am kniegelenksnahen streckseitigen und innen gelegenen Unterschenkel nach mehrfachen zweit- bis drittgradig offenen Unterschenkelbrüchen beidseits im Jahre 1995 besteht auch eine Schwellneigung beider Unterschenkel sowie eine Muskelminderung beider Unterschenkel, links mehr als rechts. Am rechten Fuß ist die Streckung im oberen Sprunggelenk endgradig eingeschränkt. Links besteht ein endgradiges Streckdefizit im linken oberen Sprunggelenk und eine eingeschränkte Beweglichkeit im linken unteren Sprunggelenk sowie in den linkseitigen Zehen wegen unfallbedingter Verletzung des Wadenbeinnervs. Dies alles ergibt sich für den Senat aus dem Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme des Dr. D., der die Unfallfolgen präzise beschrieben hat. Ob sich allerdings, wie Dr. D. meint, der Gesundheitszustand des Klägers im Vergleich zu einer im Jahr 2005 im M.hospital vorgenommenen Untersuchung verbessert hat, weil dem Kläger jetzt wieder ein regelrecht durchführbarer einbeiniger Zehenstand sowie ein regelrechter Zehengang möglich sei, hält der Senat für fraglich. Immerhin wurde die MdE für die anerkannten Unfallfolgen von 50 vH auf 60 vH angehoben, weshalb davon auszugehen ist, dass sich die Unfallfolgen nicht gebessert, sondern verschlimmert haben.

Der gerichtliche Sachverständige hat für den Senat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass der Kläger damit Arbeiten mit häufigem Stehen oder Gehen und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten, die ein In die tiefe Hocke-Gehen erfordern, nicht mehr bewältigen kann, dass ihm im Übrigen aber leichte körperliche Arbeiten unter der Voraussetzung des selbstgewählten Stellungswechsels zwischen Gehen, Stehen und Sitzen jedoch vorwiegend im Sitzen, sechs Stunden an Fünf Tagen in der Woche noch möglich sind. Die Leistungsbeurteilung von Dr. D. stimmt mit derjenigen von Dr. T., der den Kläger im Klageverfahren untersucht hat, überein. Der Kläger kann trotz der aus diesen Gesundheitsstörungen resultierenden Einschränkungen noch selbst ein Kraftfahrzeug führen und – zumindest mit Hilfe von Gehstöcken - noch eine Wegstrecke von 500 Meter in 20 Minuten zurücklegen. Auch dies entnimmt der Senat dem Gutachten von Dr. D ...

Auf neurologischem Fachgebiet liegt eine komplette Peronaeusparese vor. Diese führt zu einer Plegie (Lähmung) der Fuß- und Zehenheber links. Das Gangbild ist jedoch zumindest mit Peronaeusschiene kompensiert. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Dr. H. Der Kläger bestreitet zwar ein flüssiges Gangbild, doch hält der Senat die Feststellungen des vom SG gehörten Sachverständigen für erwiesen. Auch Dr. T. beschrieb in seinem Gutachten ein flüssiges Gangbild des Klägers. Ebenso Dr. D ... Bei dessen Untersuchung zeigte sich beim Barfußgang auf ebenem Boden als Folge der Fußheberparese links ein sog Steppergang. Mit angelegter Peronaeusschiene war das Gangbild sicher und flüssig, es zeigte sich nur ein leichtes Schonhinken links (Gutachten Dr. D., Bl 178 der LSG-Akte).

Auf psychiatrischem Fachgebiet hält der Senat das Vorliegen einer depressiven Erkrankung, welche die Leistungsfähigkeit des Klägers zusätzlich beeinträchtigt, nicht für erwiesen. Ob in der Vergangenheit depressive Episoden ohne Auswirkungen auf die berufliche Leistungsfähigkeit vorgelegen haben, kann offen bleiben. Darauf kommt es nicht an. Dr. H. konnte in seinem für das SG erstatteten Gutachten keine Zeichen einer depressiven Entwicklung feststellen. Der Senat hält diese Einschätzung für zutreffend und legt sie seiner Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers zugrunde. Aus dem Gutachten des Dr. H. ergibt sich, dass die Auffassung und die Konzentration beim Kläger nicht eingeschränkt sind. Auch Störungen der Merkfähigkeit ließen sich nicht nachweisen. Antriebsstörungen konnte Dr. H. beim Kläger nicht feststellen. Die Stimmungslage schwankte beim Kläger zwar, die affektive Schwingungsfähigkeit war jedoch noch gut erhalten. Der gerichtliche Sachverständige hat daraus nachvollziehbar den Schluss gezogen, dass keine Zeichen einer depressiven Erkrankung vorhanden sind.

Der Leistungsbeurteilung durch Prof. Dr. B., wonach der Kläger zu keinerlei Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr fähig sei, schließt sich der Senat nicht an. In psychiatrischer Hinsicht geht er von einer depressiven Entwicklung aus, zum Untersuchungszeitpunkt diagnostizierte er eine mittelgradige depressive Episode. Er macht – insoweit fachfremd – zunächst umfangreiche Ausführungen zu den orthopädischen und chirurgischen Gesundheitsstörungen und begründet dann die Diagnose einer depressiven Erkrankung ausschließlich mit den Angaben des Klägers. So gibt er auf Seite 25 seines Gutachtens die Angaben des Klägers wieder, ohne darauf einzugehen, dass diese Angaben teilweise mit seinen eigenen Befunden nicht in Einklang zu bringen sind. So führt Prof. Dr. B. zB aus, der Kläger gebe an, "dass sein Denkvermögen nachgelassen habe." Er habe überdies davon gesprochen, "sich nur noch schlecht auf irgend¬etwas konzentrieren zu können." Unter den Angaben zum psychischen Befund führt Prof. Dr. B. dagegen aus, dass sämtliche Gedächtnisleistungen und die Aufmerksamkeit beim Kläger unbeeinträchtigt gewesen seien, das Auffassungsvermögen mit der intellektuellen Strukturierung korreliere und weder Störungen des Gedankenganges noch Auffälligkeiten des Gedankeninhalts zu eruieren gewesen seien. Auch ist der Sachverständige nicht näher darauf eingegangen, dass die Ergebnisse der testpsychologischen Untersuchungen unterschiedlich ausgefallen sind. Während ein Selbstbeurteilungsverfahren eine schwere Depression ergab, sprach das Ergebnis eines Fremdbeurteilungsverfahrens nur für eine leichte Depression. Der Sachverständige ging in seinem umfangreichen Gutachten auch nicht darauf ein, ob der Kläger eine dem Ausmaß seiner psychischen Beschwerden entsprechenden therapeutischen Hilfe in Anspruch genommen hat. Dies hätte den Sachverständigen zu einer eingehenden Konsistenzprüfung veranlassen müssen, die jedoch unterblieben ist.

Der Rentenanspruch des Klägers ergibt sich jedoch aus den von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Grundsätzen zur Berücksichtigung einer schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine volle Erwerbsminderung ausnahmsweise selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit vor, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist. Dem liegt zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten (BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110). Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist bei Versicherten mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. Eine Verweisungstätigkeit braucht erst dann benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Hinsichtlich der vorhandenen qualitativen Beschränkungen hängt das Bestehen einer Benennungspflicht im Übrigen daher entscheidend von deren Anzahl, Art und Umfang ab, wobei zweckmäßigerweise in zwei Schritten - einerseits unter Beachtung der beim Restleistungsvermögen noch vorhandenen Tätigkeitsfelder, andererseits unter Prüfung der "Qualität" der Einschränkungen (Anzahl, Art und Umfang) - zu klären ist, ob hieraus eine deutliche Verengung des Arbeitsmarktes resultiert (vgl BSG 20.08.1997, 13 RJ 39/96, SozR 3-2600 § 43 Nr 17; 11.05.1999, B 13 RJ 71/97 R, SozR 3-2600 § 43 Nr 21; 09.09.1998, B 13 RJ 35/97 R).

Eine spezifische Leistungseinschränkung liegt zur Überzeugung des Senats hier vor, weil der Kläger auch Arbeiten im Sitzen, die er ja vorwiegend ausüben sollte, nur dann noch verrichten kann, wenn ihm die Möglichkeit gegeben ist, alle eineinhalb Stunden die Beine in Hüfthöhe hochzulegen. Diese Einschränkung ergibt sich ebenfalls aus den Ausführungen des Dr. D. und beruht auf der Schwellneigung beider Unterschenkel. Da eine Arbeit unter betriebsüblichen Bedingungen während dieser Zeit praktisch nicht möglich ist, weil dieser Zustand einem Liegen gleichkommt, handelt es sich um zusätzliche Pausen, deren Dauer davon abhängt, ob und wann sich eine Schwellung wieder zurückbildet. Eine mindestens sechsstündige Arbeit ist unter diesen Bedingungen nur noch theoretisch möglich. Der Senat wertet diese Einschränkung aufgrund der Besonderheiten des konkreten Falles als spezifische Leistungseinschränkung. Die Beine des Klägers sind durch die erheblichen Unfallfolgen ohnehin in ihrer Funktionsfähigkeit stark eingeschränkt. So hat der Kläger bei der Untersuchung durch Dr. D. angegeben, dass die Schwellung nicht rückläufig sei, wenn er aufstehe und gehe. Der Sachverständige hat diese Angaben des Klägers nicht in Zweifel gezogen. Eine Schwellneigung bei ansonsten gesunden Beinen, mit denen auch ein längeres Arbeiten im Gehen oder Stehen möglich wäre, hätte deshalb nicht diese spezifische Einschränkung zur Folge.

Zusätzlich - wenn auch für sich genommen nicht ausschlaggebend - kommt noch eine Schmerzstörung hinzu, die nicht nur von Prof. Dr. B., sondern im Ergebnis auch von Dr. T. beschrieben wurde. Nach dem Gutachten des Dr. T. wird beim Kläger eine Schmerztherapie der Therapiestufe 2 gemäß den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführt. Der Kläger nimmt täglich vier bis sechsmal Valoron ein.

Da dem Kläger nach Auffassung des Senats eine zumutbare Verweisungstätigkeit nicht benannt werden kann, besteht der Anspruch auf Rente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Nach § 102 Abs 2 Satz 4 SGB VI werden Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Unwahrscheinlich iSv § 102 Abs 2 Satz 4 SGB VI ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine - rentenrechtlich relevante - Besserungsaussicht sprechen müssen, so dass ein Dauerzustand vorliegt. Ein derartiger Fall liegt hier vor, denn hinsichtlich der Unfallfolgen ist nach Einschätzung aller Sachverständigen eine Besserung ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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