Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
49
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 49 SO 911/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 293/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. November 2016 geändert und insoweit aufgehoben, als der Beigeladene zur Zahlung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) verpflichtet worden und soweit der Antrag gegen den Antragsgegner in vollem Umfang abgelehnt worden ist. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 817,00 Euro monatlich für die Zeit vom 20. Juni 2016 bis zum 31. Dezember 2016, längstens bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache oder dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), das am 1. Dezember 2016 im Bundestag verabschiedet wurde, zu zahlen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren L 15 SO 293/16 B ER Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab dem 8. November 2016 bewilligt und Rechtsanwältin L H, Hstraße, B, beigeordnet.
Gründe:
Die Beschwerde des beigeladenen Jobcenters gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. November 2016, mit dem dieses den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, dem Antragsteller vorläufige Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II für den Zeitraum vom 20. Juni 2016 bis zum 31. März 2017, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu bewilligen, ist zulässig und begründet. Der Antragsteller hat keinen Anspruch gegen den Beigeladenen, sondern gegen den Antragsgegner, und zwar in dem sich aus der Beschlussformel ergebenden Umfang. Der Senat ist zu einer Verpflichtung des Antragsgegners auch befugt. Wird die Klage - hier der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – gegen den Beklagten - hier den Antragsgegner - abgewiesen und der Beigeladene verurteilt und legt nur dieser Rechtsmittel eine, muss das Rechtsmittelgericht über alle in Frage kommenden Ansprüche, also auch über den Anspruch entscheiden, der gegen den Beklagten - hier den Antragsgegner - gerichtet war (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz - SGG -, 11. Auflage, § 75 Rn. 18b mit Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - ).
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist.
Der Antragsteller, der bulgarischer Staatsangehöriger ist, unterliegt dem Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen vom Leistungsbezug ausgenommen.
Der Antragsteller hat nach Aktenlage kein Recht auf Aufenthalt mehr, auch nicht aus dem Zweck der Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a) des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU 2004). Er hält sich seit 2009, durchgehend ab dem 23. Mai 2011, also mehr als sechs Monate, in der Bundesrepublik Deutschland auf und hatte seit der Entlassung aus der Haft im November 2014 kein Beschäftigungsverhältnis inne. Insofern besteht auch keine begründete Aussicht für ihn, eingestellt zu werden. Nach der Rechtsprechung der beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG sind - über den Wortlaut des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinaus - auch diejenigen Unionsbürger "erst-recht" von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgenommen, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht (mehr) verfügen. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S 2 SGB II ist insoweit planwidrig lückenhaft, als sie nicht ausdrücklich den Ausschluss auch derjenigen normiert, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, weil sie einen Leistungsausschluss schon für solche Ausländer anordnet, die sich auf eine solche materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU berufen können (vgl. ausführlich Urteil des BSG vom 3. Dezember 2015, Az. B 4 AS 44/15 R, dokumentiert in juris, Rn. 19 ff, und in SozR 4-4200 § 7 Nr. 43; BSG, Urteil vom 16. Dezember 2015, Az. B 14 AS 15/14 R, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 20. Januar 2016, Az. B 14 AS 35/15 R, juris Rn. 24; BSG, Urteil vom 17. März 2016, Az. B 4 AS 32/15 R, juris Rn. 15).
Auch ein Aufenthaltsrecht aus einem anderen Grund ist nicht ersichtlich. Der Antragsteller hält sich zwar länger als fünf Jahre ununterbrochen in Deutschland auf, ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU hat er jedoch nicht erworben, weil Zeiten der Haft, die der Antragsteller von Juni 2013 bis November 2014 verbüßt hat, die Kontinuität des Aufenthalts unterbrechen, der maßgebende Fünfjahreszeitraum beginnt erst wieder mit der Haftentlassung (Oberhäuser in Hofmann [Hrsg.], Kommentar zum Ausländerrecht, § 4a FreizügG/EU, Rn. 6 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [EuGH]).
Ein Anordnungsanspruch gegen den Beigeladenen folgt entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Berlin auch nicht aus § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II in der Fassung vom 26. Juli 2016 im Hinblick darauf, dass das Sozialgericht Mainz mit Beschluss vom 18. April 2016, Az. S 3 AS 149/16, dokumentiert in juris, die Frage der Verfassungsgemäßheit des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Bundesverfassungsgericht (dortiges Az.: 1 BvL 4/16) vorgelegt hat.
Nach § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II kann über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift dieses Buches, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gerichtshof der Europäischen Union ist oder eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung Gegenstand eines Verfahrens beim Bundessozialgericht ist.
Ein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Beigeladenen auf Grund dieser Vorschrift besteht nicht, weil die Verurteilung - hier Verpflichtung - des Beigeladenen subsidiär ist und erst in Betracht kommt, wenn die Klage - hier der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - gegen den Beklagten - hier den Antragsgegner - keinen Erfolg haben kann (vgl. Urteil des BSG vom 15. November 1979, Az. 11 RA 9/79, juris Rn. 12 = SozR 5090 § 6 Nr. 4; Groß in Lüdtke, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 75 Rn. 16; Leitherer, aaO., § 75 Rn. 18 mit weiteren Nachweisen auch zur Rechtsprechung des BSG). § 75 Abs. 5 SGG gibt den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit aus prozessökonomischen Gründen die Befugnis, in Fällen, in denen der Kläger einen nicht leistungspflichtigen Versicherungsträger verklagt, den in Wirklichkeit leistungspflichtigen Versicherungsträger nach Beiladung zu verurteilen, um einen neuen Rechtsstreit und die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden. Demnach kommt eine Verurteilung des Beigeladenen nur subsidiär in Betracht; sie darf erst stattfinden, wenn (soweit) die Klage gegen den Beklagten keinen Erfolg haben kann (BSG, Urteil vom 15. November 1979, aaO.). D.h., der streitige Anspruch gegen den Beklagten bzw. Beigeladenen muss in Wechselwirkung stehen (Ausschließlichkeitsverhältnis, vgl. Leitherer, aaO.). Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen diese Grundsätze nicht auch für das einstweilige Anordnungsverfahren gelten sollten.
Die genannten Voraussetzungen (Ausschließlichkeit) für eine Verpflichtung des Beigeladenen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Antragsteller hat einen Anspruch gegen den Antragsgegner auf Leistungen der Sicherung zum Lebensunterhalt gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII glaubhaft gemacht. Nach der Rechtsprechung des BSG ergibt sich dieser aus dem garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gemäß Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. hierzu auch die Urteile des 14. und des 4. Senats des BSG vom 16. Dezember 2015, Az. B 14 AS 15/14 R , B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R und vom 17. März 2016, Az. B 4 AS 32/15 R, alle dokumentiert in juris). Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die Gründe des oben zitierten Urteils des BSG vom 3. Dezember 2015, Az. B 4 AS 44/15 R, a.a.O., verwiesen. Der Senat berücksichtigt diese Rechtsprechung zumindest für die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. den Beschluss vom 13. April 2016, Az. L 15 SO 53/16 B ER; so auch Beschluss des Landessozialgerichts - LSG - Berlin-Brandenburg vom 13. April 2016, Az. L 23 SO 46/16 B ER, beide dokumentiert in juris und zu finden unter www.sozialgerichtsbarkeit.de).
Das Sozialgericht muss nur deshalb auf § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II zurückgreifen und dort von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehen, weil es der oben genannten Rechtsprechung des BSG nicht folgt. Folgt man dieser Rechtsprechung jedoch, ist die Existenz des Antragstellers hier anderweitig, und zwar durch den Antragsgegner, gesichert. Dieser Anspruch ist auch nicht "nachrangig" gegenüber einem etwaigen Anspruch aus § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II, bzw. nur dann gegebenenfalls, wenn man von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überzeugt ist. Auch ist der Anspruch gemäß § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II nicht leichter durchzusetzen, bei beiden Vorschriften handelt es sich um Ermessensnormen. Es spricht zurzeit sehr viel mehr dafür, dass im Hauptsacheverfahren ein Anspruch gegen den Antragsgegner bestätigt wird, als gegen den Beigeladenen. Sämtliche der zuständigen Senate des BSG, einschließlich des für die Sozialhilfe zuständigen 8. Senats, sehen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger und nicht gegen den Träger der SGB-II-Leistungen in Fällen wie dem des Antragstellers als gegeben an. Dies bedeutet auch, dass das BSG, und damit das zuständige oberste Bundesgericht, von der vom Sozialgericht Mainz angenommenen Verfassungswidrigkeit des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht überzeugt ist. Dies hat, zumindest für das einstweilige Anordnungsverfahren, eine große Indizwirkung.
Die Einwendungen des Sozialgerichts und des Antragsgegners gegen die Urteile des BSG sind hier - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - nicht geeignet, einen Anordnungsanspruch zu verneinen und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber dem Antragsgegner abzulehnen. Der für die Sozialhilfe zuständige 8. Senat des BSG hat bereits entschieden, dass auch einem Ausländer, der dem Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 erste oder zweite Alternative SGB XII unterfällt, vom Träger der Sozialhilfe Leistungen in Ausübung von Ermessen gewährt werden können, soweit es im Einzelfall gerechtfertigt ist (vgl. Urteil des BSG vom 18. November 2014, Az. B 8 SO 9/13 R, juris Rn. 28 = SozR 4- 3500 § 25 Nr. 5). Mit den Einwendungen des Sozialgerichts und des Antragsgegners gegenüber der Rechtsprechung der mit den Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II befassten Senate des BSG wird sich ggf. im Hauptsacheverfahren auseinanderzusetzen sein.
Der Senat hat eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt jedoch nur bis zum 31. Dezember 2016 ausgesprochen, da eine Verpflichtung nur für sechs Monate nach Antragseingang beantragt ist.
Die Zahlung von Leistungen ist begrenzt bis zur Bestandskraft in der Hauptsache bzw. bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, das am 1. Dezember 2016 im Bundestag verabschiedet wurde. Dieses Gesetz ist zustimmungspflichtig durch den Bundesrat, es wird gemäß seines Artikels 5 am Tag nach seiner Verkündung in Kraft treten (vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/10211.
Die Höhe der Leistung folgt aus den §§ 27 ff SGB XII. Der Betrag von 817,00 Euro monatlich setzt sich zusammen aus dem Regelsatz von 404,00 Euro und den Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 413,00 Euro.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG analog.
Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten gemäß § 73 a SGG i.V.m. 119 Abs. 1 Satz ZPO zu gewähren, da der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Mit diesem Beschluss erledigt sich auch der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gemäß § 199 SGG.
Gründe:
Die Beschwerde des beigeladenen Jobcenters gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. November 2016, mit dem dieses den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, dem Antragsteller vorläufige Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II für den Zeitraum vom 20. Juni 2016 bis zum 31. März 2017, längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu bewilligen, ist zulässig und begründet. Der Antragsteller hat keinen Anspruch gegen den Beigeladenen, sondern gegen den Antragsgegner, und zwar in dem sich aus der Beschlussformel ergebenden Umfang. Der Senat ist zu einer Verpflichtung des Antragsgegners auch befugt. Wird die Klage - hier der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – gegen den Beklagten - hier den Antragsgegner - abgewiesen und der Beigeladene verurteilt und legt nur dieser Rechtsmittel eine, muss das Rechtsmittelgericht über alle in Frage kommenden Ansprüche, also auch über den Anspruch entscheiden, der gegen den Beklagten - hier den Antragsgegner - gerichtet war (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz - SGG -, 11. Auflage, § 75 Rn. 18b mit Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - ).
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. ein materieller Leistungsanspruch, als auch ein Anordnungsgrund, d.h. eine Eilbedürftigkeit, gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht ist.
Der Antragsteller, der bulgarischer Staatsangehöriger ist, unterliegt dem Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen vom Leistungsbezug ausgenommen.
Der Antragsteller hat nach Aktenlage kein Recht auf Aufenthalt mehr, auch nicht aus dem Zweck der Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a) des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU 2004). Er hält sich seit 2009, durchgehend ab dem 23. Mai 2011, also mehr als sechs Monate, in der Bundesrepublik Deutschland auf und hatte seit der Entlassung aus der Haft im November 2014 kein Beschäftigungsverhältnis inne. Insofern besteht auch keine begründete Aussicht für ihn, eingestellt zu werden. Nach der Rechtsprechung der beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG sind - über den Wortlaut des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinaus - auch diejenigen Unionsbürger "erst-recht" von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgenommen, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht (mehr) verfügen. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S 2 SGB II ist insoweit planwidrig lückenhaft, als sie nicht ausdrücklich den Ausschluss auch derjenigen normiert, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht verfügen, weil sie einen Leistungsausschluss schon für solche Ausländer anordnet, die sich auf eine solche materielle Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des FreizügG/EU berufen können (vgl. ausführlich Urteil des BSG vom 3. Dezember 2015, Az. B 4 AS 44/15 R, dokumentiert in juris, Rn. 19 ff, und in SozR 4-4200 § 7 Nr. 43; BSG, Urteil vom 16. Dezember 2015, Az. B 14 AS 15/14 R, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 20. Januar 2016, Az. B 14 AS 35/15 R, juris Rn. 24; BSG, Urteil vom 17. März 2016, Az. B 4 AS 32/15 R, juris Rn. 15).
Auch ein Aufenthaltsrecht aus einem anderen Grund ist nicht ersichtlich. Der Antragsteller hält sich zwar länger als fünf Jahre ununterbrochen in Deutschland auf, ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU hat er jedoch nicht erworben, weil Zeiten der Haft, die der Antragsteller von Juni 2013 bis November 2014 verbüßt hat, die Kontinuität des Aufenthalts unterbrechen, der maßgebende Fünfjahreszeitraum beginnt erst wieder mit der Haftentlassung (Oberhäuser in Hofmann [Hrsg.], Kommentar zum Ausländerrecht, § 4a FreizügG/EU, Rn. 6 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [EuGH]).
Ein Anordnungsanspruch gegen den Beigeladenen folgt entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Berlin auch nicht aus § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II in der Fassung vom 26. Juli 2016 im Hinblick darauf, dass das Sozialgericht Mainz mit Beschluss vom 18. April 2016, Az. S 3 AS 149/16, dokumentiert in juris, die Frage der Verfassungsgemäßheit des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Bundesverfassungsgericht (dortiges Az.: 1 BvL 4/16) vorgelegt hat.
Nach § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II kann über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift dieses Buches, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gerichtshof der Europäischen Union ist oder eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung Gegenstand eines Verfahrens beim Bundessozialgericht ist.
Ein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Beigeladenen auf Grund dieser Vorschrift besteht nicht, weil die Verurteilung - hier Verpflichtung - des Beigeladenen subsidiär ist und erst in Betracht kommt, wenn die Klage - hier der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - gegen den Beklagten - hier den Antragsgegner - keinen Erfolg haben kann (vgl. Urteil des BSG vom 15. November 1979, Az. 11 RA 9/79, juris Rn. 12 = SozR 5090 § 6 Nr. 4; Groß in Lüdtke, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 75 Rn. 16; Leitherer, aaO., § 75 Rn. 18 mit weiteren Nachweisen auch zur Rechtsprechung des BSG). § 75 Abs. 5 SGG gibt den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit aus prozessökonomischen Gründen die Befugnis, in Fällen, in denen der Kläger einen nicht leistungspflichtigen Versicherungsträger verklagt, den in Wirklichkeit leistungspflichtigen Versicherungsträger nach Beiladung zu verurteilen, um einen neuen Rechtsstreit und die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden. Demnach kommt eine Verurteilung des Beigeladenen nur subsidiär in Betracht; sie darf erst stattfinden, wenn (soweit) die Klage gegen den Beklagten keinen Erfolg haben kann (BSG, Urteil vom 15. November 1979, aaO.). D.h., der streitige Anspruch gegen den Beklagten bzw. Beigeladenen muss in Wechselwirkung stehen (Ausschließlichkeitsverhältnis, vgl. Leitherer, aaO.). Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen diese Grundsätze nicht auch für das einstweilige Anordnungsverfahren gelten sollten.
Die genannten Voraussetzungen (Ausschließlichkeit) für eine Verpflichtung des Beigeladenen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Antragsteller hat einen Anspruch gegen den Antragsgegner auf Leistungen der Sicherung zum Lebensunterhalt gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII glaubhaft gemacht. Nach der Rechtsprechung des BSG ergibt sich dieser aus dem garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gemäß Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. hierzu auch die Urteile des 14. und des 4. Senats des BSG vom 16. Dezember 2015, Az. B 14 AS 15/14 R , B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R und vom 17. März 2016, Az. B 4 AS 32/15 R, alle dokumentiert in juris). Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die Gründe des oben zitierten Urteils des BSG vom 3. Dezember 2015, Az. B 4 AS 44/15 R, a.a.O., verwiesen. Der Senat berücksichtigt diese Rechtsprechung zumindest für die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. den Beschluss vom 13. April 2016, Az. L 15 SO 53/16 B ER; so auch Beschluss des Landessozialgerichts - LSG - Berlin-Brandenburg vom 13. April 2016, Az. L 23 SO 46/16 B ER, beide dokumentiert in juris und zu finden unter www.sozialgerichtsbarkeit.de).
Das Sozialgericht muss nur deshalb auf § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II zurückgreifen und dort von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehen, weil es der oben genannten Rechtsprechung des BSG nicht folgt. Folgt man dieser Rechtsprechung jedoch, ist die Existenz des Antragstellers hier anderweitig, und zwar durch den Antragsgegner, gesichert. Dieser Anspruch ist auch nicht "nachrangig" gegenüber einem etwaigen Anspruch aus § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II, bzw. nur dann gegebenenfalls, wenn man von der Verfassungswidrigkeit des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überzeugt ist. Auch ist der Anspruch gemäß § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II nicht leichter durchzusetzen, bei beiden Vorschriften handelt es sich um Ermessensnormen. Es spricht zurzeit sehr viel mehr dafür, dass im Hauptsacheverfahren ein Anspruch gegen den Antragsgegner bestätigt wird, als gegen den Beigeladenen. Sämtliche der zuständigen Senate des BSG, einschließlich des für die Sozialhilfe zuständigen 8. Senats, sehen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger und nicht gegen den Träger der SGB-II-Leistungen in Fällen wie dem des Antragstellers als gegeben an. Dies bedeutet auch, dass das BSG, und damit das zuständige oberste Bundesgericht, von der vom Sozialgericht Mainz angenommenen Verfassungswidrigkeit des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht überzeugt ist. Dies hat, zumindest für das einstweilige Anordnungsverfahren, eine große Indizwirkung.
Die Einwendungen des Sozialgerichts und des Antragsgegners gegen die Urteile des BSG sind hier - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - nicht geeignet, einen Anordnungsanspruch zu verneinen und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber dem Antragsgegner abzulehnen. Der für die Sozialhilfe zuständige 8. Senat des BSG hat bereits entschieden, dass auch einem Ausländer, der dem Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 erste oder zweite Alternative SGB XII unterfällt, vom Träger der Sozialhilfe Leistungen in Ausübung von Ermessen gewährt werden können, soweit es im Einzelfall gerechtfertigt ist (vgl. Urteil des BSG vom 18. November 2014, Az. B 8 SO 9/13 R, juris Rn. 28 = SozR 4- 3500 § 25 Nr. 5). Mit den Einwendungen des Sozialgerichts und des Antragsgegners gegenüber der Rechtsprechung der mit den Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II befassten Senate des BSG wird sich ggf. im Hauptsacheverfahren auseinanderzusetzen sein.
Der Senat hat eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt jedoch nur bis zum 31. Dezember 2016 ausgesprochen, da eine Verpflichtung nur für sechs Monate nach Antragseingang beantragt ist.
Die Zahlung von Leistungen ist begrenzt bis zur Bestandskraft in der Hauptsache bzw. bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, das am 1. Dezember 2016 im Bundestag verabschiedet wurde. Dieses Gesetz ist zustimmungspflichtig durch den Bundesrat, es wird gemäß seines Artikels 5 am Tag nach seiner Verkündung in Kraft treten (vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 18/10211.
Die Höhe der Leistung folgt aus den §§ 27 ff SGB XII. Der Betrag von 817,00 Euro monatlich setzt sich zusammen aus dem Regelsatz von 404,00 Euro und den Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 413,00 Euro.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG analog.
Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten gemäß § 73 a SGG i.V.m. 119 Abs. 1 Satz ZPO zu gewähren, da der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Mit diesem Beschluss erledigt sich auch der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gemäß § 199 SGG.
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