L 3 AS 959/11

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 31 AS 3411/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 959/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Regelung in § 12a Satz 1 SGB II über die allgemeine Pflicht, nach näherer Maßgabe Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist insbesondere verhältnismäßig.
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 29. September 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten hat der Beklagte der Klägerin nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der an die Klägerin ergangenen Aufforderung der Beklagten, einen Weiterbewilligungsantrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zu stellen.

Die 1968 geborene Klägerin bezog vom 1. Januar 2006 bis zum 31. März 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund einer schizophrenen Erkrankung mit anhaltender wahnhafter Störung.

Am 4. März 2011 beantragte sie beim Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).

Mit Bescheid vom 23. März 2011 wurden ihr Leistungen für die Zeit vom 1. April 2011 bis zum 30. September 2011 zur Sicherung des Lebensunterhaltes sowie Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt.

Mit Schreiben vom 16. Mai 2011 forderte der Beklagte die Klägerin auf, beim zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf Weiterzahlung der Erwerbsminderungsrente zu stellen und die Antragstellung nachzuweisen.

Dagegen richtet sich ihr Widerspruch. Eine Erwerbsminderung liege nicht vor. Die Aufforderung sei gesetzes- und verfassungswidrig, denn sie könne sehr wohl in das Arbeits-leben integriert werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2011 wurde der Widerspruch als unzulässig verworfen, da das Schreiben vom 16. Mai 2011 kein Verwaltungsakt im Sinne von § 31 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) darstelle.

Dagegen hat die Klägerin am 21. Juli 2011 Klage erhoben, welche mit Gerichtsbescheid vom 29. September 2011 abgewiesen worden ist. Es könne dahinstehen, ob die mit Schreiben vom 16. Mai 2011 verbundene Aufforderung einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zu stellen, einen Verwaltungsakte im Sinne von § 31 SGB X oder lediglich ein rein vorbereitendes schlichtes Verwaltungshandeln darstelle. Jedenfalls habe der Beklagte die Klägerin gemäß § 5 Abs. 3 SGB II zur Stellung des Antrages auffordern können.

Hiergegen hat die Klägerin am 4. November 2011 Berufung eingelegt. Die Entscheidung des Sozialgerichts sei gesetzeswidrig.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 29. September 1011 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. Mai 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2011 aufzuheben, soweit dieser die Auf-forderung zur Stellung eines Antrages auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente enthält.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 29. September 2011 die Klage abgewiesen, weil der Bescheid des Beklagten vom 16. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2011 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (vgl. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Bei der Aufforderung des Beklagten vom 16. Mai 2011 an die Klägerin, beim zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf Weitergewährung ihrer bis zum 31. März 2011 bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung zu stellen, handelt es sich um einen Verwaltungsakt gemäß § 31 SGB X. Danach ist Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist geklärt, dass die Aufforderung des Grundsicherungsträgers an den Leistungsberechtigten, einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung zu stellen, ein Verwaltungsakt in diesem Sinne ist (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Dezember 2011 – B 14 AS 138/11 B – JURIS-Dokument Rdnr. 5, m. w. N. zur vergleichbaren Aufforderungen im früheren Recht der Arbeitslosenhilfe; vgl. auch Striebinger, in: Gagel, SGB II/SGB III [54. Erg.-Lfg., 2014], § 12a Rdnr. 13a, m. w. N.).

Die Aufforderung des Beklagten zur Beantragung eine Rente ist auch rechtmäßig.

Die Rechtsgrundlage für die Aufforderung, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen, findet sich in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II i. V. m. § 12a Satz 1 SGB II (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Mai 2013 – L 19 AS 291/13 B ER – FEVS 65, 235 = JURIS-Dokument Rdnr. 19; vgl. auch Knickrehm/Hahn, in: Eicher, SGB II [3. Aufl., 2013], § 12a Rdnr. 9). Gemäß § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II können die Leistungsträger nach dem SGB II, sofern Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen, nach diesem Buch den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Die Aufforderung, entsprechend der Verpflichtung aus § 12 SGB II einen Antrag zu stellen, ist somit tatbestandliche Voraussetzung für die Handlungsoption nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II.

Die in § 12a Satz 1 SGB II geforderten Voraussetzungen für die Pflichtenstellung der Klägerin sind gegeben. Zahlungen aus einer Erwerbsminderungsrente sind Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Dieses Einkommen ist gemäß § 19 Abs. 3 Satz 2 SGB II auf die Bedarfe anzurechnen ist. Damit kann die Hilfebedürftigkeit – je nach Höhe der Rentenzahlungen – vermindern oder gänzlich beseitigen werden.

Sonderregelungen, die eine Ausnahme von der Pflicht, einen Antrag auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente zu stellen, oder eine Modifikation dieser Pflicht vorsehen, gibt es nicht. Die Ausnahmeregelungen in § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II und in der Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung – UnbilligkeitsV) vom 14. April 2008 (BGBl. I S. 734) betreffen nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nur die "Rente wegen Alters" und nicht sämtliche Rentenarten. Die weitere Ausnahmeregelung in § 12a Satz 2 Nr. 2 SGB II hat nur die Pflicht, Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz oder Kinderzuschlag nach dem Bundeskindergeldgesetz in Anspruch zu nehmen, zum Gegenstand.

Die Regelung in § 12a Satz 1 SGB II über die allgemeine Pflicht, nach näherer Maßgabe Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist insbesondere verhältnismäßig. Nach § 1 Abs. 1 SGB II soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst unter anderem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB II). Gemäß § 3 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB II dürfen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann. Damit hat sich der Gesetzgeber im Rahmen des ihm bei der Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips aus Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und der Ausgestaltung von Sozialleistungen zustehenden Gestaltungsspielraumes (vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Sächs. LSG, Urteil vom 24. Mai 2012 – L 3 AS 208/11 – JURIS-Dokument Rdnr. 40) für den Grundsatz der Subsidiarität staatlicher Hilfeleistungen zur Sicherung des Existenzminimums (vgl. hierzu: BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09BVerfGE 125, 175 ff. = JURIS-Dokument Rdnr. 147) entschieden. Diesem Subsidiaritätsgrundsatz steht die Pflichtenregelung in § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB II gegenüber, wonach erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen haben, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten. Diese Regelung steht im Zusammenhang mit der in § 9 Abs. 1 SGB II. Danach ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Zu den Möglichkeiten im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB II zählt somit auch, Sozialleistungen anderer Träger, hier den im Laufe des Erwerbslebens erarbeiteten Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente, in Anspruch zu nehmen.

Die Pflicht, Ansprüche gegen Dritte durchzusetzen und zu verfolgen, findet auf Grund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings dort seine Grenzen, wo der erwerbsfähige Hilfebedürftige nicht mehr zumutbar auf die Selbsthilfe verwiesen werden kann. Eine Selbsthilfe ist in diesem Sinne unzumutbar, wenn die Rechtsverfolgung offensichtlich aussichtslos ist oder für den Leistungsberechtigten mit einem übermäßigen Aufwand oder Risiko verbunden ist (vgl. Berlit, in: Münder [Hrsg.], SGB II [5. Aufl., 2013], § 2 Rdnr. 19).

Dies war hier nicht der Fall. Im Hinblick darauf, dass der Klägerin aufgrund ihres Krankheitsbildes bereits vom 1. Januar 2006 bis zum 31. März 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt wurde, bestand hinreichend Grund für die Annahme, die Klägerin werde weiterhin eine Erwerbsminderungsrente erhalten. Dass diese Annahme berechtigt war, wird dadurch bestätigt, dass der Klägerin auf den Antrag des Beklagten vom 22. September 2013 hin nunmehr erneut eine Erwerbsminderungsrente bis Dezember 2016 bewilligt worden ist. Die Geltendmachung eines Anspruches auf Erwerbsminderungsrente im Sozialverwaltungsverfahren war für die Klägerin mit keinem Risiko verbunden. Insbesondere war dieses Verfahren nach Maßgabe von § 64 SGB X kostenfrei.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

III. Gründe für die Zulassung der Revision (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved