L 16 R 355/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 29 R 155/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 355/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2015 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Streitig ist die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM), hilfsweise wegen teilweiser EM für die Zeit ab 1. Juni 2011.

Der 1960 geborene Kläger hatte Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum 7. November 2005 und – nach einer Strafhaft vom 8. November 2005 bis 25. April 2008 – vom 26. April 2008 bis 31. Dezember 2010 wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II zurückgelegt (Versicherungsverlauf vom 4. November 2011).

Im Juni 2011 beantragte der Kläger wegen einer von dem ihn seit 19. April 2010 behandelnden Neurologen und Psychiater Dr. G diagnostizierten bipolaren Störung EM-Rente. Nach Einholung eines Befundberichts dieses Arztes vom 15. August 2011 und eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens (Arzt Pagel vom 7. Oktober 2011; Untersuchung am 30. September 2011), welches dem Kläger ein aufgehobenes Leistungsvermögen attestierte, sowie Vorlage eines beratungsärztlichen Votums des Allgemeinmediziners N vom 25. Oktober 2011 lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 4. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2011 ab mit der Begründung, ausgehend von einem Eintritt voller EM am 30. September 2011 seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (sog Drei-Fünftel-Belegung) im maßgebenden Fünfjahreszeitraum vom 1. Januar 2006 bis 29. September 2011 nicht erfüllt; der Kläger habe insoweit nur 33 Monate mit Pflichtbeiträgen.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) B Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie die Behandlungsunterlagen der Justizvollzugsanstalt des Offenen Vollzuges B, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, eingeholt. Es hat sodann den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie R als Sachverständigen eingesetzt. Dieser Arzt hat (nach Untersuchung des Klägers am 2. Juni 2014) in seinem Gutachten vom 28. August 2014, auf das hinsichtlich der Einzelheiten ebenfalls Bezug genommen wird, wegen einer bipolaren affektiven Störung ein aufgehobenes Leistungsvermögen des Klägers "jedenfalls seit 2010" festgestellt. Es sei "nachvollziehbar" und entspreche dem "tatsächlichen Erwerbsverlauf", dass dieser Zustand bereits "fortdauernd seit spätestens 31.10.2007" vorliege. Zum Eintritt der EM hat sich der Sachverständige nach Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme der Beklagten vom 7. Oktober 2014 (Dr. AL) ergänzend geäußert; hierauf wird verwiesen (Stellungnahme vom 9. Dezember 2014), ebenso auf die erneute beratungsärztliche Äußerung der Beklagten vom 4. März 2015.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 19. November 2015 antragsgemäß verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab 1. Juni 2011 Rente wegen voller EM zu gewähren. Zur Begründung ist ausgeführt: Der Kläger habe für die Zeit ab 1. Juni 2011 einen Anspruch auf Rente wegen voller EM auf Dauer. Er sei, wie aus dem überzeugenden Gutachten des Arztes R erhelle, spätestens seit Januar 2007 außerstande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Mit ihrer Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil. Sie trägt unter Bezugnahme auf beratungsärztliche Stellungnahmen (Dr. A/L) vom 12. Mai 2016 und 31. Oktober 2016 vor: Der Eintritt voller EM bereits im Januar 2007 bzw vor Beginn der fachärztlichen Behandlung am 19. April 2010 sei konkret nicht zu belegen und spekulativ. Aussagekräftige ärztliche Unterlagen lägen insoweit nicht vor. Auch aus den Entlassungsberichten der Jahre 2001, 2003 und 2004 ließen sich Feststellungen zu einer bipolaren Störung nicht entnehmen. Nach 2004 sei eine fachärztliche Behandlung des psychischen Leidens bis 2010 nicht erfolgt. Den vagen Angaben des Klägers könne nicht gefolgt werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

II.

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung der Beklagten durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat der erhobenen und statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage zu Recht und mit zutreffender Begründung stattgegeben. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 4. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat für die Zeit ab 1. Juni 2011 (Rentenantragsmonat, vgl § 99 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – SGB VI) einen Anspruch auf Rente wegen voller EM (§ 43 Abs. 2 SGB VI) auf Dauer.

§ 43 SGB VI setzt zunächst die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (vgl §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI) sowie das Vorhandensein von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EM voraus (vgl § 43 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3, Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB VI SGB VI). Diese – versicherungsrechtlichen – Voraussetzungen erfüllte der Kläger – was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist und aus dem Versicherungsverlauf vom 4. November 2011 erhellt – (noch) im Januar 2007, dh bei Eintritt der EM bis spätestens 31. Januar 2007.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht zur Überzeugung des Senats auch fest, dass bei dem Kläger volle EM (vgl § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) spätestens seit 31. Januar 2007 vorliegt. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Dies war und ist bei dem Kläger jedenfalls seit dem genannten Zeitpunkt der Fall.

Der Senat stützt sich – wie das SG – bei seiner Beurteilung im Wesentlichen auf das umfassende und in jeder Hinsicht plausible Gutachten des Gerichtssachverständigen R, der eingehend die schwierige Diagnosestellung bei einer bipolaren Störung erläutert und ausgehend von der Erwerbsbiographie, den – bei einer umfassenden persönlichen Untersuchung detailliert und plastisch erfragten - anamnestischen Angaben des Klägers sowie den Vorbefunden und ärztlichen Unterlagen schlüssig und damit überzeugend dargelegt hat, weshalb im vorliegenden Falle trotz des Fehlens einschlägiger aussagekräftiger ärztlicher Befunde zu einer bipolaren Störung aus der Zeit vor dem 19. April 2010 (Beginn der Behandlung bei Dr. G) im Hinblick auf die in der Zeit davor erfolgte falsche diagnostische Zuordnung der schweren psychotischen Störung und der hieraus resultierenden Fehlbehandlung von einem aufgehobenen Leistungsvermögen jedenfalls seit 31. Januar 2007 (die zunächst erfolgte Datierung auf den 31. Oktober 2007 war durch die – später korrigierte – irrtümliche Fragestellung des SG im Gutachtenauftrag bedingt) auszugehen ist. Gerade bipolare Störungen werden häufig nicht erkannt und es dauert durchschnittlich zehn Jahre zwischen Beginn und Diagnose (vgl Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. – http://dgbs.de/bipolare-stoerung/diagnose/). Insoweit hatte bereits der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren herangezogene Sachverständige P, der im Übrigen nicht ausdrücklich nach einer retrospektiven Einschätzung des (auch) von ihm angenommenen aufgehobenen Leistungsvermögens des Klägers gefragt worden war, bereits anlässlich seiner Untersuchung des Klägers am 30. September 2011 festgestellt, dass "seit Jahren" ein Rückzugsverhalten des Klägers zu erkennen und auch "in der Zwischenzeit" ein Arbeitsversuch nicht möglich gewesen seien, somit mithin "weiterhin auf Dauer" eine Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben nicht gegeben sei. Der behandelnde Neurologe Dr. G datiert den Beginn der bipolaren Störung bereits auf 1998 und hat weiter ausgeführt, dass die "über Jahre unbehandelte" bipolare Störung keine adäquate Erwerbstätigkeit des Klägers ermögliche (vgl Behandlungsbericht vom 15. August 2011). Demgegenüber vermag die – im Übrigen fachfremd – nach Aktenlage abgegebene beratungsärztliche Beurteilung der Beklagten keine Tatsachen zu benennen, die geeignet wären, die Beurteilung des Sachverständigen R auch zum Eintritt der Leistungsminderung stichhaltig zu entkräften.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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