Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 1295/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 35/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 2015 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für keinen der Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand:
Das beklagte Land wendet sich mit seiner Berufung gegen seine Verurteilung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs (Merkzeichens) "RF" (Ermäßigung der Rundfunkbeiträge).
Die 1953 geborene Klägerin stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Sie lebt seit ihrem 23. Lebensjahr in Deutschland und ist deutsche Staatsangehörige. Nach ihren Angaben während späterer Behandlungen und Rehabilitationen erinnert sie sich an eine schlimme Kindheit mit Gewalterfahrung und sexuellem Missbrauch. Sie hat mehrere Suizidversuche unternommen. Sie war dreimal verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Aktuell lebt sie allein (Anamnese in dem Bericht der Schussental-Klinik vom 20. Januar 2016). Sie bezieht seit dem Jahre 2000 eine Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit (Rentenbescheid vom 28. Mai 2001).
Der Beklagte hatte erstmals mit Bescheid vom 4. November 1983 einen Grad der Behinderung (GdB, damals noch: Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 30 wegen Beeinträchtigungen des rechten Kniegelenks festgestellt. Zuletzt vor dem jetzigen Verfahren hatte er mit Bescheid vom 13. Januar 2006 einen GdB von 100 sowie – erstmals - die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" (gehbehindert) anerkannt. Ausweislich einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 9. November 2005 lagen dem eine Depression und Persönlichkeitsstörung (Teil-GdB 50), Funktionsbehinderungen beider Knie- und Sprunggelenke und eine Gebrauchseinschränkung des linken Beins (50), ein Diabetes mellitus, mit Diät und Insulin einstellbar (40), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen (20), eine Schwerhörigkeit beidseits (20), Hirndurchblutungsstörungen (20), eine chronisch-venöse Insuffizienz beidseits (10), der Verlust von Gebärmutter und Eierstöcken (10) und unwillkürlicher Harnabgang (10) zu Grunde. Wegen des Merkzeichens "G" erhielt die Klägerin statt der zunächst gewährten Ermäßigung der Kfz-Steuer ab Februar 2006 Wertmarken für Freifahrten im Öffentlichen Nahverkehr.
Am 24. Mai 2013 beantragte die Klägerin auch die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" ("Park-erleichterung" bei außergewöhnlicher Gehbehinderung) und "RF" (Formantrag vom 28. Juni 2013 und telefonische Ergänzung vom 4. Juli 2013). Sie trug vor, Inkontinenz und Depressionen hätten sich verschlimmert. Sie legte Arztbriefe der Ärztinnen A. vom 25. Juni 2010 und L.-A. (Psychiatrische Institutsambulanz Reutlingen) vom 16. Juli 2013 vor, in denen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bzw. eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung und rezidivierende depressive Störungen diagnostiziert wurden. Danach nahm die Klägerin seit 2009 an einer ambulanten Gruppentherapie für traumatisierte Frauen teil. Im Sommer 2012 sei es zu vermehrter depressiver Symptomatik und zu Suizidgedanken gekommen. Mitgeteilt wurde auch, es habe mehr als 30 "kleine Schlaganfälle" gegeben und der Diabetes sei mehrfach entgleist. Die Klägerin wisse, dass sie nicht mehr lange leben werde und habe die Psychopharmaka (bis auf Tavor 0,5 ca. dreimal im Jahr) abgesetzt. Sie habe sehr viele Arzttermine.
Der Beklagte holte weitere Befundscheine ein. Dr. A., Kreiskliniken Reutlingen, berichtete von einem Sturz auf feuchtem Boden vor einer Gaststätte am 30. März 2012 ohne Dauerfolgen. Prof. Dr. F., Universitätskrankenhaus Tübingen, gab in dem Arztbrief vom 25. April 2012 unter anderem eine "ausgeprägte Rosazea" (Hauterkrankung) an. Der Radiologe Dr. Sp. bekundete nach einer MRT-Untersuchung der Klägerin am 11. Oktober 2012 eine Nierenzyste rechts und eine ausgeprägte Steatosis hepatis Grad 3 (Lebererkrankung). Urologin Dr. M. teilte unter dem 29. August 2013 mit, die Miktion liege bei 15-mal täglich, Harndrang und Harninkontinenz seien stabil. Der Allgemeinmediziner Dr. M.-E. berichtete im November 2013, der Diabetes werde mit Metformin und Insulin behandelt, es beständen ferner eine Adipositas mit einem BMI (Body-Mass-Index) von 33 sowie eine – nicht näher beschriebene – ausgeprägte Rosazea.
In Auswertung dieser Unterlagen schlug der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten am 3. Februar 2014 vor, den Diabetes nunmehr mit einem Teil-GdB von 30 und außerdem eine Rosazea (ebenfalls 30) zu berücksichtigen, wodurch sich der Gesamt-GdB von 100 nicht verändere, aber die begehrten Merkzeichen "aG" und "RF" nicht anzuerkennen, weil ihre Voraussetzungen nicht vorlägen. Gestützt hierauf lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 2014 die Feststellung dieser beiden Merkzeichen ab.
Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, insbesondere die Inkontinenz und die Depression machten es ihr unmöglich, unter Menschen zu sein. Sie begehrte weiterhin – lediglich noch – das Merkzeichen "RF". Der Beklagte erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 23. April 2014. Er führte aus, die Klägerin sei nicht ständig außerstande, an öffentlichen Veranstaltungen jedweder Art teilzunehmen.
Hiergegen hat die Klägerin am 23. Mai 2014 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Sie hat vorgetragen, sie könne wegen ihrer Depression und der Persönlichkeitsstörung ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Ohne inhaltlichen Vortrag zu weiteren Behinderungen hat sie ferner angeregt, ihre behandelnde Urologin zu vernehmen. Im weiteren Verfahren hat sie sich auch auf das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) vom 19. Dezember 2013 (L 6 SB 1463/13) berufen.
Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Ärztin A. hat ausgeführt, die Klägerin sei auf Grund einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, die seit 2014 aus finanziellen Gründen nicht mehr gruppentherapeutisch behandelt werde, massiv in ihrer Alltagsbewältigung eingeschränkt und leide unter einem extremen sozialen Rückzug. Dr. M.-E. hat bekundet, die Klägerin suche ihn drei- bis viermal im Quartal auf, im Vordergrund ständen der schlecht einstellbare Diabetes mit Phasen erheblicher Tagesmüdigkeit sowie die psychischen Erkrankungen. Auch die Rosazea schränke die Klägerin ein. Durch eine teilstationäre psychiatrische Behandlung in der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 7. April bis 28. Mai 2014 sei allenfalls eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau eingetreten. Die Klägerin könne wegen ihrer ausgeprägten Polymorbidität an öffentlichen Veranstaltungen überwiegend nicht teilnehmen. Auf urologischem Gebiet hat Dr. M. angegeben, insbesondere die Urge-Inkontinenz, die durch den nicht gut einstellbaren Diabetes verschlimmert werde, schränke die Klägerin deutlich ein, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Sie habe Angst, nicht rechtzeitig eine Toilette aufsuchen zu können. Das SG hat sodann noch den Entlassungsbericht der Tagesklinik O. in Reutlingen vom 23. Juli 2014 über die erwähnte teilstationäre Behandlung der Klägerin beigezogen. Hieraus ergab sich unter anderem, dass sie an den Wochenenden in der Zentrale eines Sicherheitsunternehmens arbeitete.
Nachdem die Klägerin eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und einen weiteren gescheiterten Suizidversuch mitgeteilt hatte, hat das SG erneut Frau A. vernommen. Diese hat bekundet, die Gesprächstherapie sei nach einer Kostenzusage der Krankenkasse im Oktober 2014 wieder aufgenommen worden, es bestehe eine latente Suizidalität, die Klägerin könne sich lediglich in kleineren Gruppen, die sie kenne und die sie jederzeit verlassen könne, aufhalten.
Zu der mündlichen Verhandlung beim SG am 4. Dezember 2015 war die Klägerin nicht persönlich geladen und ist auch nicht erschienen. Ihr Prozessbevollmächtigter hat dort vorgetragen, sie habe telefonisch mitgeteilt, auch nicht in sein Büro kommen und das Haus nur für nötige Besorgungen und Arztbesuche verlassen zu können. Ferner habe sich die Klägerin vom 12. August bis 30. September 2015 zu einer erneuten stationären Behandlung in der Schussental-Klinik Bad Aulendorf aufgehalten.
Mit Urteil vom selben Tage hat das SG unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. April 2014 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin ab dem 7. April 2014 die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" festzustellen, und die Klage im Übrigen – hinsichtlich der beantragten Feststellung dieses Merkzeichens schon ab dem 24. Mai 2013 – abgewiesen. Das SG hat ausgeführt, sie sei zwar weder stark seh- oder hörbehindert. Jedoch verfüge sie über einen GdB von 100 und könne wegen ihres Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Nach dem Urteil des LSG vom 19. Dezember 2013 könne eine solche Beeinträchtigung auch aus psychischen Erkrankungen folgen. Nach den Ausführungen von Frau A. könne die Klägerin nur an kleineren Veranstaltungen mit bekanntem Teilnehmerkreis teilnehmen. Dies sei jedoch nur ein nicht nennenswerter Anteil der Gesamtheit öffentlicher Veranstaltungen. Zu dem Beginn des Anspruchs auf das Merkzeichen "RF" am 7. April 2014 hat das SG ausgeführt, zu jenem Tag sei die Klägerin nach einer längeren stabilen Phase wegen einer erheblichen Verschlechterung in die Tagesklinik O. aufgenommen worden, seitdem habe sie wieder engmaschig ambulant und zuletzt auch wieder stationär behandelt werden müssen.
Gegen dieses Urteil, das ihm am 10. Dezember 2015 zugestellt worden ist, hat der Beklagte am 5. Januar 2016 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhoben. Er trägt vor, ein Diabetes oder eine Harninkontinenz führten generell nicht zu einem Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen. Insofern könne das Argument der Multimorbidität nicht greifen. Es blieben nur die generalisierte Angststörung und die depressive Erkrankung. Jedoch könne den Unterlagen nicht entnommen werden, dass diese Erkrankungen derart ausgeprägt seien, dass die Klägerin ständig an öffentlichen Veranstaltungen, auch im Freien, nicht teilnehmen könne. Dass eine Teilnahme zumindest zeitweise und bei bestimmten Veranstaltungen möglich sei, ergebe sich auch aus den Befunden in dem Entlassungsbericht der Tagesklinik O ...
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 2015 aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die psychische Situation habe sich weiter verschlechtert, weswegen sie auch in der Schussental-Klinik gewesen sei.
Der Senat hat den bereits erwähnten Entlassungsbericht der Schussental-Klinik, Dr. R., vom 20. Januar 2016 beigezogen. Darin werden als psychiatrische Diagnosen eine gegenwärtig mittelgradige Episode der rezidivierenden depressiven Störung (F33.1 nach der ICD-10 GM), eine PTBS (F43.1), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.40) und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung vom Typ F61 genannt. Die Klägerin hat dort unter anderem von Panikattacken, Furcht auf Straßen und in Menschenansammlungen und Schwindelattacken berichtet. Die depressiven Erkrankungen hätten sich auf Grund des Medikaments, das sie wegen der Rosazea nehme, verschlechtert. Die Harninkontinenz sei schwankend. Bei Entlassung habe sich der Zustand gut stabilisiert, prognostisch sei eine vorsichtig optimistische Haltung einzunehmen, jedoch ergäben sich im Alltag immer wieder neue Spannungsfelder, die zu erneuten Dekompensationen führen könnten. Die Klägerin habe sich in ausreichendem Allgemeinzustand befunden, Extremitäten und Gelenke seien frei beweglich, das Gangbild wie die Muskulatur unauffällig gewesen.
Der Berichterstatter des Senats hat die Klägerin persönlich angehört. Sie war in Begleitung ihres Prozessbevollmächtigten erschienen und mit dem Taxi gekommen. Sie hat angegeben, sie gehe noch einkaufen und nehme Arzttermine wahr, aber an manchen Tagen schaffe sie auch dies nicht. Wenn sie einmal Bus fahre, könne es sein, dass sie einen "Black-out" habe und nicht wisse, wo sie sei. Der "Nebenjob" in der Sicherheitsfirma sei möglich gewesen, weil sie in einem geschützten Raum habe arbeiten und sich die Arbeitszeit frei habe einteilen können. Der Arbeitsplatz sei verlorengegangen, nachdem das Unternehmen im Februar 2015 geschlossen habe. Befragt zu dem Bezug existenzsichernder Leistungen, die möglicherweise zu einer vollständigen Befreiung von den Rundfunkbeiträgen führen könnten, hat die Klägerin angegeben, sie beziehe eine Erwerbsminderungsrente von EUR 994,00 und eine Betriebsrente von EUR 33,00. Wohngeld sei abgelehnt worden. Zur aktuellen Medikation hat sie angegeben, sie nehme nunmehr wieder Citalopram 30 mg täglich. Hinsichtlich der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen hat die Klägerin vor allem auf Ängste und die Gefahr von "Black-outs" verwiesen.
In dem Erörterungstermin haben sich beide Beteiligte mit einer Entscheidung des Senats im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), ist nach § 143 SGG statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, weil der Beklagte nicht zu einer Geld-, Sach- oder Dienstleistung, sondern zu einer behördlichen Feststellung verurteilt worden ist. Sie ist A. im Übrigen zulässig, vor allem hat sie der Beklagte form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verurteilung des Beklagten zur Zuerkennung des Merkzeichens "RF" ab dem 7. April 2014. Den weiteren ursprünglichen Antrag wegen des Merkzeichens "aG" hat die Klägerin schon vor dem SG nicht weiterverfolgt. Und soweit das SG die Klage wegen des Merkzeichens "RF" für die Zeit vor dem 7. April 2014 abgewiesen hat, hat die Klägerin weder Berufung noch Anschlussberufung erhoben.
Mit dieser Maßgabe ist die Berufung auch begründet. Anders als das SG kommt der Senat im Rahmen des § 128 Abs. 1 SGG zu der Einschätzung, dass der Klägerin A. in der Zeit ab dem 7. April 2014 kein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" zusteht.
Die Feststellung von Merkzeichen richtet sich nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX). Unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" besteht, ergibt sich aus § 69 Abs. 4 SGB IX in der noch bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (vgl. Art. 1, Art. 2 und Art. 26 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen [Bundesteilhabegesetz - BTHG] vom 23. Dezember 2016, BGBl I S. 3234) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV), einer Regelung, die A. nach der Reform des Schwerbehindertenrechts ab 2017 unverändert fortgilt (vgl. Art. 18 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 20 BTHG). Hiernach ist auf das jeweilige Landesrecht über die "Befreiung" von der Rundfunkgebührenpflicht abzustellen. Dieser Verweis ist dynamisch zu verstehen, sodass er A. die heute geltenden rundfunkrechtlichen Regelungen erfasst, die nur noch eine Ermäßigung des inzwischen statt der Rundfunkgebühren eingeführten Rundfunkbeitrags vorsehen. In Baden-Württemberg gilt insoweit seit dem 1. Januar 2013 der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21. Dezember 2010, den der Beklagte mit dem Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Än¬derung medienrechtlicher Vorschriften vom 18. Oktober 2011 (GBl S. 477 ff.) zum 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt hat (vgl. zu allem Urteil vom 19. Dezember 2013 – L 6 SB 1436/13 –, juris, Rz. 34). Da die Klägerin hier ihren Antrag erst im Jahre 2013 gestellt hat, ist allein auf das neue Rundfunkbeitragsrecht abzustellen.
Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen haben sich im Vergleich zu den Regelungen des früher geltenden Rundfunkgebührenstaatsvertrags (§ 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 RGebStV) jedoch nicht geändert. So besteht nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 RBStV ein Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "RF" für blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von (wenigstens) 60 allein wegen der Sehbehinderung, nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 RBStV für hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist und nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV für behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Die Klägerin ist nicht blind und die vorliegende Hörbehinderung (Teil-GdB 20) stellt keine Gehörlosigkeit dar. Entsprechend sind die Merkzeichen "Bl" oder "Gl" nicht anerkannt.
Auch die Voraussetzungen aus § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV liegen zur Überzeugung des Senats bei der Klägerin nicht vor. Bei ihr ist zwar ein GdB von wenigstens 80, nämlich 100, anerkannt. Aber sie war und ist nicht wegen ihrer Leiden ständig nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen ist; er muss praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (BSG, Urteil vom 11. Januar 1991 - 9a/9 RVs 15/89 -, juris, Rz. 12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9. Mai 2011 - L 8 SB 2294/10 -, juris, Rz. 35 ff.). Dies ist auch dann der Fall, wenn der behinderte Mensch nur noch Veranstaltungen mit wenigen Teilnehmern besuchen kann und lediglich größere Menschenansammlungen meiden muss, weil es eine nennenswerte Anzahl öffentlicher Veranstaltungen mit wenigen Teilnehmern gibt (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Februar 2014 – L 3 SB 266/11 –, juris, Rz. 34, zu Fußballspielen in unteren Ligen). Allerdings schließt es die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht aus, wenn ein Antragsteller noch Ärzte aufsuchen, Einkäufe erledigen und an einer Gesprächstherapie teilnehmen kann (Urteil des Senats vom 19. Dezember 2013 – L 6 SB 1436/13 –, juris, Rz. 38). Hierbei handelt es sich nicht um öffentliche Veranstaltungen wie Kundgebungen, Gottesdienste, Informationsveranstaltungen, die üblicherweise unter anderem dadurch gekennzeichnet sind, dass viele und auch dem Einzelnen unbekannte Besucher erscheinen. Veranstaltungen mit einem zuvor bekannten, ggfs. kleineren Teilnehmerkreis, sind keine öffentlichen, sondern allenfalls private Veranstaltungen.
Vor diesem Hintergrund würde es, wie es auch das SG ausgeführt hat, allenfalls dann zu einem Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" führen, wenn die Klägerin, wie sie zuletzt geschildert hat, tatsächlich nur noch ihre Ärzte und die wieder begonnene Therapie bei Frau A. aufsuchen könnte. Als medizinischer Grund für diese Unfähigkeit wäre insoweit die behauptete Angsterkrankung anzuschuldigen. Psychische Erkrankungen sind zwar nicht generell geeignet, die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" auszulösen, aber soweit diese Erkrankung mit Angst vor der Öffentlichkeit, vor Menschenansammlungen oder Ähnlichem wie z.B. großen offenen Plätzen im öffentlichen Raum einhergeht, kommen sie als Grundlage des Merkzeichens "RF" in Betracht, allerdings muss es sich in diesen Fällen um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation handeln (BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 – B 9 SB 2/11 R –, juris, Rz. 24).
Der Senat ist jedoch nicht davon überzeugt, dass der Klägerin tatsächlich nur noch diese Besuche beim Arzt und der Einzeltherapie sowie das Einkaufen möglich sind. Ebenso ist der Senat nicht davon überzeugt, dass bei ihr eine psychische Erkrankung vorliegt, die mit erheblicher Angst vor der Öffentlichkeit bzw. größeren Menschengruppen oder vor großen offenen Bereichen wie Plätzen oder Straßen (vgl. F40.0, F40.1, F41.0 ff. oder ggfs. F60.6 ICD-10 GM) vorliegt.
Dies gilt zunächst für die Zeit ab April 2014, für die das SG das Merkzeichen "RF" zugesprochen hat. Der Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Klägerin auch in dem Entlassungsbericht der Tagesklinik O. vom 23. Juli 2014 als zunächst verschlossen, dann aber im Kontakt als sehr offen und mitteilungsbedürftig beschrieben wurde, dass sie sich rasch in den Stationsalltag integrierte und vor allem an Gruppentherapien verschiedener Art teilnehmen konnte, wobei sie sich zumeist co-therapeutisch und sehr therapieerfahren bzw. "übertherapiert" zeigte. Diese Umstände sprechen nicht für die Unfähigkeit, Veranstaltungen mit anderen Menschen zu besuchen. Entsprechend wurden in dem Bericht auch keine Angsterkrankung und auch keine Erkrankung mit einer Angstkomponente (und sei es nur nach F41.2 ICD-10 GM) diagnostiziert. Auch hatte die Klägerin dort, soweit sie Angst thematisiert hat, nur ausgeführt, sie habe Angst um ihren (körperlichen) Gesundheitszustand (insbesondere den Diabetes) und Angst vor der Dunkelheit. Angst vor vielen Menschen oder dem öffentlichen Raum hat sie nicht angegeben. Vor allem aber war die Klägerin damals und auch nach ihrem Aufenthalt in der Klinik O. berufstätig, nämlich am Wochenende in der Zentrale einer Sicherheitsfirma. Selbst wenn sie diese Berufstätigkeit in dem Erörterungstermin am 1. Juni 2016 als eine Art Schonarbeitsplatz geschildert hat, so spricht dies nach Ansicht des Senats doch dagegen, dass öffentliche Veranstaltungen nicht mehr aufgesucht werden können.
Auch in der Zeit danach bis jetzt ist die Klägerin nach Ansicht des Senats nicht ständig, sondern allenfalls zeitweise nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Sie hat zwar nach ihren Angaben in dem Erörterungstermin ihre Berufstätigkeit aufgegeben, jedoch nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern weil das Unternehmen geschlossen worden ist. Der nunmehr vorliegende Entlassungsbericht aus der Schussental-Klinik führt nicht zu einer grundlegend veränderten Einschätzung. Nach wie vor ist keine Erkrankung mit Angstkomponente diagnostiziert. Dies gilt auch für die "kombinierte Persönlichkeitsstörung" nach F61 ICD-10 GM. Hierbei handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung mit Merkmalen aus verschiedenen der unter F60 aufgeführten Störungen, jedoch ohne ein vorherrschendes Symptombild. Es kann daher nicht angenommen werden, dass bei der Klägerin Symptome einer solchen Persönlichkeitsstörung im Vordergrund stehen, die zu der Unfähigkeit zum Besuch öffentlicher Veranstaltungen führen würde (F60.6 ICD-10 GM). Soweit sie nunmehr - eigenanamnestisch - auch eine Angst auf der Straße und vor Menschenansammlungen geäußert hat, führt dies nicht zu einer anderen Einschätzung des Senats, nachdem entsprechende Symptome - im Rahmen einer Fremdanamnese oder der Befunderhebung - nicht untermauert worden sind. Ferner wird die Klägerin bei ihrem Aufenthalt in der Schussental-Klinik weiterhin als bewusstseinsklar, allseits orientiert, mit intakter Auffassungsgabe, gehobener Stimmung, fluktuierendem Antrieb, als "im Verhalten sicher", als "gewandt", sicher, vertrauensvoll und kooperativ im Kontakt beschrieben. Die weiteren, pathologischen Symptome (die Klägerin war beunruhigt, gespannt, nervös, latent suizidal) traten dagegen zurück und berühren auch nicht den Besuch öffentlicher Veranstaltungen. Sie konnte wiederum erfolgreich die Therapie absolvieren, Auch die psychodynamisch inter-aktionelle Gruppentherapie und die Schmerz-Info-Gruppe. Als Ausdauertraining betrieb sie Nordic Walking, was z.B. für die Fähigkeit zur Teilnahme an Sportveranstaltungen spricht. Auch ihr Allgemeinzustand wie der fehlende Muskelschwund dokumentieren, dass sie sich regelmäßig sportlich betätigt, aber auch ihre Wohnung verlässt. In diese Richtung deutet auch, dass die Klägerin auf Grund des zuerkannten Merkzeichens "G" die Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr gewählt hat.
Auch die organischen Erkrankungen der Klägerin sind nicht derart ausgeprägt, dass sie ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könnte. Eine Harninkontinenz, wie sie bei der Klägerin vorliegt, kann die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht rechtfertigen, weil es dem behinderten Menschen zumutbar ist, Einmalwindeln bzw. Windelhosen zu benutzen (BSG, Urteil vom 9. August 1995 - 9 RVs 3/95 -, juris, Rz. 11 f.). Außerdem wird die Harninkontinenz nicht als überaus ausgeprägt beschrieben, sondern als "stabil" (so Dr. M.) bzw. "schwankend" (so die Angaben der Klägerin selbst bei der Reha in der Schussental-Klinik). Sie erreicht daher sicher nicht ein Ausmaß, das dazu führen würde, dass quasi ständig in unmittelbarer Nähe eine Toilette vorhanden sein muss (vgl. dazu - allerdings im Hinblick auf eine Darminkontinenz - LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Januar 2013 – L 3 SB 3862/12 –, juris, Rz. 25). Die Gefahr von "Black-outs", wie sie die Klägerin schildert, die eventuell auf dem schlecht einzustellenden Diabetes oder dem Bluthochdruck beruht, kann das Merkzeichen "RF" nicht begründen, da es sich nicht um Anfälle oder ähnliche Vorkommnisse handelt, die bei dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen andere in unzumutbarer Weise stören würden (vgl. hierzu LSG Hamburg, Urteil vom 1. November 2011 – L 4 SB 20/10 –, juris, Rz. 13). Die Rosazea wird in den ärztlichen Berichten nur am Rande erwähnt, und auch bei dem Erörterungstermin am 1. Juni 2016 war keine entstellende bzw. abstoßende Wirkung auf andere festzustellen, die eventuell das Merkzeichen "RF" begründen könnte (vgl. dazu LSG Hamburg, Urteil vom 1. November 2011 – L 4 SB 20/10 –, juris, Rz. 13).
Die Entscheidung über die Kosten beider Instanzen beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Außergerichtliche Kosten sind für keinen der Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand:
Das beklagte Land wendet sich mit seiner Berufung gegen seine Verurteilung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs (Merkzeichens) "RF" (Ermäßigung der Rundfunkbeiträge).
Die 1953 geborene Klägerin stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Sie lebt seit ihrem 23. Lebensjahr in Deutschland und ist deutsche Staatsangehörige. Nach ihren Angaben während späterer Behandlungen und Rehabilitationen erinnert sie sich an eine schlimme Kindheit mit Gewalterfahrung und sexuellem Missbrauch. Sie hat mehrere Suizidversuche unternommen. Sie war dreimal verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Aktuell lebt sie allein (Anamnese in dem Bericht der Schussental-Klinik vom 20. Januar 2016). Sie bezieht seit dem Jahre 2000 eine Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit (Rentenbescheid vom 28. Mai 2001).
Der Beklagte hatte erstmals mit Bescheid vom 4. November 1983 einen Grad der Behinderung (GdB, damals noch: Minderung der Erwerbsfähigkeit) von 30 wegen Beeinträchtigungen des rechten Kniegelenks festgestellt. Zuletzt vor dem jetzigen Verfahren hatte er mit Bescheid vom 13. Januar 2006 einen GdB von 100 sowie – erstmals - die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" (gehbehindert) anerkannt. Ausweislich einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 9. November 2005 lagen dem eine Depression und Persönlichkeitsstörung (Teil-GdB 50), Funktionsbehinderungen beider Knie- und Sprunggelenke und eine Gebrauchseinschränkung des linken Beins (50), ein Diabetes mellitus, mit Diät und Insulin einstellbar (40), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen (20), eine Schwerhörigkeit beidseits (20), Hirndurchblutungsstörungen (20), eine chronisch-venöse Insuffizienz beidseits (10), der Verlust von Gebärmutter und Eierstöcken (10) und unwillkürlicher Harnabgang (10) zu Grunde. Wegen des Merkzeichens "G" erhielt die Klägerin statt der zunächst gewährten Ermäßigung der Kfz-Steuer ab Februar 2006 Wertmarken für Freifahrten im Öffentlichen Nahverkehr.
Am 24. Mai 2013 beantragte die Klägerin auch die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" ("Park-erleichterung" bei außergewöhnlicher Gehbehinderung) und "RF" (Formantrag vom 28. Juni 2013 und telefonische Ergänzung vom 4. Juli 2013). Sie trug vor, Inkontinenz und Depressionen hätten sich verschlimmert. Sie legte Arztbriefe der Ärztinnen A. vom 25. Juni 2010 und L.-A. (Psychiatrische Institutsambulanz Reutlingen) vom 16. Juli 2013 vor, in denen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bzw. eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung und rezidivierende depressive Störungen diagnostiziert wurden. Danach nahm die Klägerin seit 2009 an einer ambulanten Gruppentherapie für traumatisierte Frauen teil. Im Sommer 2012 sei es zu vermehrter depressiver Symptomatik und zu Suizidgedanken gekommen. Mitgeteilt wurde auch, es habe mehr als 30 "kleine Schlaganfälle" gegeben und der Diabetes sei mehrfach entgleist. Die Klägerin wisse, dass sie nicht mehr lange leben werde und habe die Psychopharmaka (bis auf Tavor 0,5 ca. dreimal im Jahr) abgesetzt. Sie habe sehr viele Arzttermine.
Der Beklagte holte weitere Befundscheine ein. Dr. A., Kreiskliniken Reutlingen, berichtete von einem Sturz auf feuchtem Boden vor einer Gaststätte am 30. März 2012 ohne Dauerfolgen. Prof. Dr. F., Universitätskrankenhaus Tübingen, gab in dem Arztbrief vom 25. April 2012 unter anderem eine "ausgeprägte Rosazea" (Hauterkrankung) an. Der Radiologe Dr. Sp. bekundete nach einer MRT-Untersuchung der Klägerin am 11. Oktober 2012 eine Nierenzyste rechts und eine ausgeprägte Steatosis hepatis Grad 3 (Lebererkrankung). Urologin Dr. M. teilte unter dem 29. August 2013 mit, die Miktion liege bei 15-mal täglich, Harndrang und Harninkontinenz seien stabil. Der Allgemeinmediziner Dr. M.-E. berichtete im November 2013, der Diabetes werde mit Metformin und Insulin behandelt, es beständen ferner eine Adipositas mit einem BMI (Body-Mass-Index) von 33 sowie eine – nicht näher beschriebene – ausgeprägte Rosazea.
In Auswertung dieser Unterlagen schlug der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten am 3. Februar 2014 vor, den Diabetes nunmehr mit einem Teil-GdB von 30 und außerdem eine Rosazea (ebenfalls 30) zu berücksichtigen, wodurch sich der Gesamt-GdB von 100 nicht verändere, aber die begehrten Merkzeichen "aG" und "RF" nicht anzuerkennen, weil ihre Voraussetzungen nicht vorlägen. Gestützt hierauf lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Februar 2014 die Feststellung dieser beiden Merkzeichen ab.
Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, insbesondere die Inkontinenz und die Depression machten es ihr unmöglich, unter Menschen zu sein. Sie begehrte weiterhin – lediglich noch – das Merkzeichen "RF". Der Beklagte erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 23. April 2014. Er führte aus, die Klägerin sei nicht ständig außerstande, an öffentlichen Veranstaltungen jedweder Art teilzunehmen.
Hiergegen hat die Klägerin am 23. Mai 2014 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Sie hat vorgetragen, sie könne wegen ihrer Depression und der Persönlichkeitsstörung ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Ohne inhaltlichen Vortrag zu weiteren Behinderungen hat sie ferner angeregt, ihre behandelnde Urologin zu vernehmen. Im weiteren Verfahren hat sie sich auch auf das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) vom 19. Dezember 2013 (L 6 SB 1463/13) berufen.
Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Ärztin A. hat ausgeführt, die Klägerin sei auf Grund einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, die seit 2014 aus finanziellen Gründen nicht mehr gruppentherapeutisch behandelt werde, massiv in ihrer Alltagsbewältigung eingeschränkt und leide unter einem extremen sozialen Rückzug. Dr. M.-E. hat bekundet, die Klägerin suche ihn drei- bis viermal im Quartal auf, im Vordergrund ständen der schlecht einstellbare Diabetes mit Phasen erheblicher Tagesmüdigkeit sowie die psychischen Erkrankungen. Auch die Rosazea schränke die Klägerin ein. Durch eine teilstationäre psychiatrische Behandlung in der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 7. April bis 28. Mai 2014 sei allenfalls eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau eingetreten. Die Klägerin könne wegen ihrer ausgeprägten Polymorbidität an öffentlichen Veranstaltungen überwiegend nicht teilnehmen. Auf urologischem Gebiet hat Dr. M. angegeben, insbesondere die Urge-Inkontinenz, die durch den nicht gut einstellbaren Diabetes verschlimmert werde, schränke die Klägerin deutlich ein, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Sie habe Angst, nicht rechtzeitig eine Toilette aufsuchen zu können. Das SG hat sodann noch den Entlassungsbericht der Tagesklinik O. in Reutlingen vom 23. Juli 2014 über die erwähnte teilstationäre Behandlung der Klägerin beigezogen. Hieraus ergab sich unter anderem, dass sie an den Wochenenden in der Zentrale eines Sicherheitsunternehmens arbeitete.
Nachdem die Klägerin eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und einen weiteren gescheiterten Suizidversuch mitgeteilt hatte, hat das SG erneut Frau A. vernommen. Diese hat bekundet, die Gesprächstherapie sei nach einer Kostenzusage der Krankenkasse im Oktober 2014 wieder aufgenommen worden, es bestehe eine latente Suizidalität, die Klägerin könne sich lediglich in kleineren Gruppen, die sie kenne und die sie jederzeit verlassen könne, aufhalten.
Zu der mündlichen Verhandlung beim SG am 4. Dezember 2015 war die Klägerin nicht persönlich geladen und ist auch nicht erschienen. Ihr Prozessbevollmächtigter hat dort vorgetragen, sie habe telefonisch mitgeteilt, auch nicht in sein Büro kommen und das Haus nur für nötige Besorgungen und Arztbesuche verlassen zu können. Ferner habe sich die Klägerin vom 12. August bis 30. September 2015 zu einer erneuten stationären Behandlung in der Schussental-Klinik Bad Aulendorf aufgehalten.
Mit Urteil vom selben Tage hat das SG unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. April 2014 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin ab dem 7. April 2014 die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" festzustellen, und die Klage im Übrigen – hinsichtlich der beantragten Feststellung dieses Merkzeichens schon ab dem 24. Mai 2013 – abgewiesen. Das SG hat ausgeführt, sie sei zwar weder stark seh- oder hörbehindert. Jedoch verfüge sie über einen GdB von 100 und könne wegen ihres Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Nach dem Urteil des LSG vom 19. Dezember 2013 könne eine solche Beeinträchtigung auch aus psychischen Erkrankungen folgen. Nach den Ausführungen von Frau A. könne die Klägerin nur an kleineren Veranstaltungen mit bekanntem Teilnehmerkreis teilnehmen. Dies sei jedoch nur ein nicht nennenswerter Anteil der Gesamtheit öffentlicher Veranstaltungen. Zu dem Beginn des Anspruchs auf das Merkzeichen "RF" am 7. April 2014 hat das SG ausgeführt, zu jenem Tag sei die Klägerin nach einer längeren stabilen Phase wegen einer erheblichen Verschlechterung in die Tagesklinik O. aufgenommen worden, seitdem habe sie wieder engmaschig ambulant und zuletzt auch wieder stationär behandelt werden müssen.
Gegen dieses Urteil, das ihm am 10. Dezember 2015 zugestellt worden ist, hat der Beklagte am 5. Januar 2016 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhoben. Er trägt vor, ein Diabetes oder eine Harninkontinenz führten generell nicht zu einem Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen. Insofern könne das Argument der Multimorbidität nicht greifen. Es blieben nur die generalisierte Angststörung und die depressive Erkrankung. Jedoch könne den Unterlagen nicht entnommen werden, dass diese Erkrankungen derart ausgeprägt seien, dass die Klägerin ständig an öffentlichen Veranstaltungen, auch im Freien, nicht teilnehmen könne. Dass eine Teilnahme zumindest zeitweise und bei bestimmten Veranstaltungen möglich sei, ergebe sich auch aus den Befunden in dem Entlassungsbericht der Tagesklinik O ...
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 4. Dezember 2015 aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die psychische Situation habe sich weiter verschlechtert, weswegen sie auch in der Schussental-Klinik gewesen sei.
Der Senat hat den bereits erwähnten Entlassungsbericht der Schussental-Klinik, Dr. R., vom 20. Januar 2016 beigezogen. Darin werden als psychiatrische Diagnosen eine gegenwärtig mittelgradige Episode der rezidivierenden depressiven Störung (F33.1 nach der ICD-10 GM), eine PTBS (F43.1), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.40) und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung vom Typ F61 genannt. Die Klägerin hat dort unter anderem von Panikattacken, Furcht auf Straßen und in Menschenansammlungen und Schwindelattacken berichtet. Die depressiven Erkrankungen hätten sich auf Grund des Medikaments, das sie wegen der Rosazea nehme, verschlechtert. Die Harninkontinenz sei schwankend. Bei Entlassung habe sich der Zustand gut stabilisiert, prognostisch sei eine vorsichtig optimistische Haltung einzunehmen, jedoch ergäben sich im Alltag immer wieder neue Spannungsfelder, die zu erneuten Dekompensationen führen könnten. Die Klägerin habe sich in ausreichendem Allgemeinzustand befunden, Extremitäten und Gelenke seien frei beweglich, das Gangbild wie die Muskulatur unauffällig gewesen.
Der Berichterstatter des Senats hat die Klägerin persönlich angehört. Sie war in Begleitung ihres Prozessbevollmächtigten erschienen und mit dem Taxi gekommen. Sie hat angegeben, sie gehe noch einkaufen und nehme Arzttermine wahr, aber an manchen Tagen schaffe sie auch dies nicht. Wenn sie einmal Bus fahre, könne es sein, dass sie einen "Black-out" habe und nicht wisse, wo sie sei. Der "Nebenjob" in der Sicherheitsfirma sei möglich gewesen, weil sie in einem geschützten Raum habe arbeiten und sich die Arbeitszeit frei habe einteilen können. Der Arbeitsplatz sei verlorengegangen, nachdem das Unternehmen im Februar 2015 geschlossen habe. Befragt zu dem Bezug existenzsichernder Leistungen, die möglicherweise zu einer vollständigen Befreiung von den Rundfunkbeiträgen führen könnten, hat die Klägerin angegeben, sie beziehe eine Erwerbsminderungsrente von EUR 994,00 und eine Betriebsrente von EUR 33,00. Wohngeld sei abgelehnt worden. Zur aktuellen Medikation hat sie angegeben, sie nehme nunmehr wieder Citalopram 30 mg täglich. Hinsichtlich der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen hat die Klägerin vor allem auf Ängste und die Gefahr von "Black-outs" verwiesen.
In dem Erörterungstermin haben sich beide Beteiligte mit einer Entscheidung des Senats im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), ist nach § 143 SGG statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, weil der Beklagte nicht zu einer Geld-, Sach- oder Dienstleistung, sondern zu einer behördlichen Feststellung verurteilt worden ist. Sie ist A. im Übrigen zulässig, vor allem hat sie der Beklagte form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist nur noch die Verurteilung des Beklagten zur Zuerkennung des Merkzeichens "RF" ab dem 7. April 2014. Den weiteren ursprünglichen Antrag wegen des Merkzeichens "aG" hat die Klägerin schon vor dem SG nicht weiterverfolgt. Und soweit das SG die Klage wegen des Merkzeichens "RF" für die Zeit vor dem 7. April 2014 abgewiesen hat, hat die Klägerin weder Berufung noch Anschlussberufung erhoben.
Mit dieser Maßgabe ist die Berufung auch begründet. Anders als das SG kommt der Senat im Rahmen des § 128 Abs. 1 SGG zu der Einschätzung, dass der Klägerin A. in der Zeit ab dem 7. April 2014 kein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" zusteht.
Die Feststellung von Merkzeichen richtet sich nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX). Unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" besteht, ergibt sich aus § 69 Abs. 4 SGB IX in der noch bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (vgl. Art. 1, Art. 2 und Art. 26 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen [Bundesteilhabegesetz - BTHG] vom 23. Dezember 2016, BGBl I S. 3234) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV), einer Regelung, die A. nach der Reform des Schwerbehindertenrechts ab 2017 unverändert fortgilt (vgl. Art. 18 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 20 BTHG). Hiernach ist auf das jeweilige Landesrecht über die "Befreiung" von der Rundfunkgebührenpflicht abzustellen. Dieser Verweis ist dynamisch zu verstehen, sodass er A. die heute geltenden rundfunkrechtlichen Regelungen erfasst, die nur noch eine Ermäßigung des inzwischen statt der Rundfunkgebühren eingeführten Rundfunkbeitrags vorsehen. In Baden-Württemberg gilt insoweit seit dem 1. Januar 2013 der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21. Dezember 2010, den der Beklagte mit dem Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Än¬derung medienrechtlicher Vorschriften vom 18. Oktober 2011 (GBl S. 477 ff.) zum 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt hat (vgl. zu allem Urteil vom 19. Dezember 2013 – L 6 SB 1436/13 –, juris, Rz. 34). Da die Klägerin hier ihren Antrag erst im Jahre 2013 gestellt hat, ist allein auf das neue Rundfunkbeitragsrecht abzustellen.
Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen haben sich im Vergleich zu den Regelungen des früher geltenden Rundfunkgebührenstaatsvertrags (§ 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 RGebStV) jedoch nicht geändert. So besteht nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 RBStV ein Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "RF" für blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von (wenigstens) 60 allein wegen der Sehbehinderung, nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 RBStV für hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist und nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV für behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Die Klägerin ist nicht blind und die vorliegende Hörbehinderung (Teil-GdB 20) stellt keine Gehörlosigkeit dar. Entsprechend sind die Merkzeichen "Bl" oder "Gl" nicht anerkannt.
Auch die Voraussetzungen aus § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV liegen zur Überzeugung des Senats bei der Klägerin nicht vor. Bei ihr ist zwar ein GdB von wenigstens 80, nämlich 100, anerkannt. Aber sie war und ist nicht wegen ihrer Leiden ständig nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen ist; er muss praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (BSG, Urteil vom 11. Januar 1991 - 9a/9 RVs 15/89 -, juris, Rz. 12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 9. Mai 2011 - L 8 SB 2294/10 -, juris, Rz. 35 ff.). Dies ist auch dann der Fall, wenn der behinderte Mensch nur noch Veranstaltungen mit wenigen Teilnehmern besuchen kann und lediglich größere Menschenansammlungen meiden muss, weil es eine nennenswerte Anzahl öffentlicher Veranstaltungen mit wenigen Teilnehmern gibt (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Februar 2014 – L 3 SB 266/11 –, juris, Rz. 34, zu Fußballspielen in unteren Ligen). Allerdings schließt es die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht aus, wenn ein Antragsteller noch Ärzte aufsuchen, Einkäufe erledigen und an einer Gesprächstherapie teilnehmen kann (Urteil des Senats vom 19. Dezember 2013 – L 6 SB 1436/13 –, juris, Rz. 38). Hierbei handelt es sich nicht um öffentliche Veranstaltungen wie Kundgebungen, Gottesdienste, Informationsveranstaltungen, die üblicherweise unter anderem dadurch gekennzeichnet sind, dass viele und auch dem Einzelnen unbekannte Besucher erscheinen. Veranstaltungen mit einem zuvor bekannten, ggfs. kleineren Teilnehmerkreis, sind keine öffentlichen, sondern allenfalls private Veranstaltungen.
Vor diesem Hintergrund würde es, wie es auch das SG ausgeführt hat, allenfalls dann zu einem Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" führen, wenn die Klägerin, wie sie zuletzt geschildert hat, tatsächlich nur noch ihre Ärzte und die wieder begonnene Therapie bei Frau A. aufsuchen könnte. Als medizinischer Grund für diese Unfähigkeit wäre insoweit die behauptete Angsterkrankung anzuschuldigen. Psychische Erkrankungen sind zwar nicht generell geeignet, die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" auszulösen, aber soweit diese Erkrankung mit Angst vor der Öffentlichkeit, vor Menschenansammlungen oder Ähnlichem wie z.B. großen offenen Plätzen im öffentlichen Raum einhergeht, kommen sie als Grundlage des Merkzeichens "RF" in Betracht, allerdings muss es sich in diesen Fällen um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation handeln (BSG, Urteil vom 16. Februar 2012 – B 9 SB 2/11 R –, juris, Rz. 24).
Der Senat ist jedoch nicht davon überzeugt, dass der Klägerin tatsächlich nur noch diese Besuche beim Arzt und der Einzeltherapie sowie das Einkaufen möglich sind. Ebenso ist der Senat nicht davon überzeugt, dass bei ihr eine psychische Erkrankung vorliegt, die mit erheblicher Angst vor der Öffentlichkeit bzw. größeren Menschengruppen oder vor großen offenen Bereichen wie Plätzen oder Straßen (vgl. F40.0, F40.1, F41.0 ff. oder ggfs. F60.6 ICD-10 GM) vorliegt.
Dies gilt zunächst für die Zeit ab April 2014, für die das SG das Merkzeichen "RF" zugesprochen hat. Der Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Klägerin auch in dem Entlassungsbericht der Tagesklinik O. vom 23. Juli 2014 als zunächst verschlossen, dann aber im Kontakt als sehr offen und mitteilungsbedürftig beschrieben wurde, dass sie sich rasch in den Stationsalltag integrierte und vor allem an Gruppentherapien verschiedener Art teilnehmen konnte, wobei sie sich zumeist co-therapeutisch und sehr therapieerfahren bzw. "übertherapiert" zeigte. Diese Umstände sprechen nicht für die Unfähigkeit, Veranstaltungen mit anderen Menschen zu besuchen. Entsprechend wurden in dem Bericht auch keine Angsterkrankung und auch keine Erkrankung mit einer Angstkomponente (und sei es nur nach F41.2 ICD-10 GM) diagnostiziert. Auch hatte die Klägerin dort, soweit sie Angst thematisiert hat, nur ausgeführt, sie habe Angst um ihren (körperlichen) Gesundheitszustand (insbesondere den Diabetes) und Angst vor der Dunkelheit. Angst vor vielen Menschen oder dem öffentlichen Raum hat sie nicht angegeben. Vor allem aber war die Klägerin damals und auch nach ihrem Aufenthalt in der Klinik O. berufstätig, nämlich am Wochenende in der Zentrale einer Sicherheitsfirma. Selbst wenn sie diese Berufstätigkeit in dem Erörterungstermin am 1. Juni 2016 als eine Art Schonarbeitsplatz geschildert hat, so spricht dies nach Ansicht des Senats doch dagegen, dass öffentliche Veranstaltungen nicht mehr aufgesucht werden können.
Auch in der Zeit danach bis jetzt ist die Klägerin nach Ansicht des Senats nicht ständig, sondern allenfalls zeitweise nicht in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Sie hat zwar nach ihren Angaben in dem Erörterungstermin ihre Berufstätigkeit aufgegeben, jedoch nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern weil das Unternehmen geschlossen worden ist. Der nunmehr vorliegende Entlassungsbericht aus der Schussental-Klinik führt nicht zu einer grundlegend veränderten Einschätzung. Nach wie vor ist keine Erkrankung mit Angstkomponente diagnostiziert. Dies gilt auch für die "kombinierte Persönlichkeitsstörung" nach F61 ICD-10 GM. Hierbei handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung mit Merkmalen aus verschiedenen der unter F60 aufgeführten Störungen, jedoch ohne ein vorherrschendes Symptombild. Es kann daher nicht angenommen werden, dass bei der Klägerin Symptome einer solchen Persönlichkeitsstörung im Vordergrund stehen, die zu der Unfähigkeit zum Besuch öffentlicher Veranstaltungen führen würde (F60.6 ICD-10 GM). Soweit sie nunmehr - eigenanamnestisch - auch eine Angst auf der Straße und vor Menschenansammlungen geäußert hat, führt dies nicht zu einer anderen Einschätzung des Senats, nachdem entsprechende Symptome - im Rahmen einer Fremdanamnese oder der Befunderhebung - nicht untermauert worden sind. Ferner wird die Klägerin bei ihrem Aufenthalt in der Schussental-Klinik weiterhin als bewusstseinsklar, allseits orientiert, mit intakter Auffassungsgabe, gehobener Stimmung, fluktuierendem Antrieb, als "im Verhalten sicher", als "gewandt", sicher, vertrauensvoll und kooperativ im Kontakt beschrieben. Die weiteren, pathologischen Symptome (die Klägerin war beunruhigt, gespannt, nervös, latent suizidal) traten dagegen zurück und berühren auch nicht den Besuch öffentlicher Veranstaltungen. Sie konnte wiederum erfolgreich die Therapie absolvieren, Auch die psychodynamisch inter-aktionelle Gruppentherapie und die Schmerz-Info-Gruppe. Als Ausdauertraining betrieb sie Nordic Walking, was z.B. für die Fähigkeit zur Teilnahme an Sportveranstaltungen spricht. Auch ihr Allgemeinzustand wie der fehlende Muskelschwund dokumentieren, dass sie sich regelmäßig sportlich betätigt, aber auch ihre Wohnung verlässt. In diese Richtung deutet auch, dass die Klägerin auf Grund des zuerkannten Merkzeichens "G" die Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr gewählt hat.
Auch die organischen Erkrankungen der Klägerin sind nicht derart ausgeprägt, dass sie ständig nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könnte. Eine Harninkontinenz, wie sie bei der Klägerin vorliegt, kann die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" nicht rechtfertigen, weil es dem behinderten Menschen zumutbar ist, Einmalwindeln bzw. Windelhosen zu benutzen (BSG, Urteil vom 9. August 1995 - 9 RVs 3/95 -, juris, Rz. 11 f.). Außerdem wird die Harninkontinenz nicht als überaus ausgeprägt beschrieben, sondern als "stabil" (so Dr. M.) bzw. "schwankend" (so die Angaben der Klägerin selbst bei der Reha in der Schussental-Klinik). Sie erreicht daher sicher nicht ein Ausmaß, das dazu führen würde, dass quasi ständig in unmittelbarer Nähe eine Toilette vorhanden sein muss (vgl. dazu - allerdings im Hinblick auf eine Darminkontinenz - LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Januar 2013 – L 3 SB 3862/12 –, juris, Rz. 25). Die Gefahr von "Black-outs", wie sie die Klägerin schildert, die eventuell auf dem schlecht einzustellenden Diabetes oder dem Bluthochdruck beruht, kann das Merkzeichen "RF" nicht begründen, da es sich nicht um Anfälle oder ähnliche Vorkommnisse handelt, die bei dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen andere in unzumutbarer Weise stören würden (vgl. hierzu LSG Hamburg, Urteil vom 1. November 2011 – L 4 SB 20/10 –, juris, Rz. 13). Die Rosazea wird in den ärztlichen Berichten nur am Rande erwähnt, und auch bei dem Erörterungstermin am 1. Juni 2016 war keine entstellende bzw. abstoßende Wirkung auf andere festzustellen, die eventuell das Merkzeichen "RF" begründen könnte (vgl. dazu LSG Hamburg, Urteil vom 1. November 2011 – L 4 SB 20/10 –, juris, Rz. 13).
Die Entscheidung über die Kosten beider Instanzen beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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BWB
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