Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 AS 1/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 365/17 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 19. Januar 2017 aufgehoben, soweit darin die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen den Bescheid vom 8. Dezember 2016 auch für den Bewilligungszeitraum 1. April 2017 bis 30. September 2017 angeordnet wurde.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 8. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Januar 2017 angeordnet wird, soweit der Beklagte darin die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2017 zurückgenommen hat.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern 2/3 der außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs/einer Klage gegen die Zurücknahme eines Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bewilligenden Verwaltungsakts.
Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern mit Bescheid vom 22.09.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.10.2016 bis 30.09.2017 in Höhe von insgesamt 921,00 EUR (Regelbedarf 404,00 EUR, Sozialgeld 237,00 EUR, Kosten der Unterkunft und Heizung 420 EUR abzüglich Kindergeld für den Antragsteller zu 2)) monatlich.
Mit Bescheid vom 08.12.2016 nahm der Antragsgegner diese Bewilligung mit Wirkung ab 01.01.2017 mit der Begründung zurück, die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen lägen nicht vor, weil die Antragstellerin zu 1) lediglich über ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland verfüge. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Der Beklagte stützte die Zurücknahme des Verwaltungsakts auf § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II und 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Für die Vergangenheit gezahlte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts müsse die Antragstellerin zu 1) nicht erstatten. Der Träger der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II sei verpflichtet, wirtschaftlich im Sinne der Bundeshaushaltsordnung zu handeln. Hierzu gehöre – auch im Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler –, bestehende Forderungen vollständig und zeitnah zu erheben sowie diese mit den zur Verfügung stehenden Mitteln beizutreiben. Nach Abwägung mit dem gesetzlichen Zweck zur Ausübung des Ermessens sowie dem öffentlichen Interesse sei die Entscheidung somit in dieser Form zu treffen gewesen.
Hiergegen hat die Antragstellerin zu 1) durch ihren Bevollmächtigten mit Schreiben vom 16.12.2016 Widerspruch eingelegt und am 30.12.2016 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Heilbronn (SG) einen "Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz", gerichtet auf die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab 01.01.2017 für längstens drei Monate, gestellt. Das SG hat diesen Antrag als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgelegt. Dem Widerspruch käme wegen § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung zu. Mit Beschluss vom 19.01.2017 hat es die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16.12.2016 gegen den Bescheid vom 08.12.2016 mit der Begründung angeordnet, die Interessenabwägung falle zugunsten des Aussetzungsinteresses der Antragsteller aus. Eine andere Entscheidung sei dem Gericht angesichts fehlender Verwaltungsakten nicht möglich gewesen. Gegen den dem Antragsgegner am 19.01.2017 zugestellten Beschluss hat dieser am 30.01.2017 Beschwerde eingelegt.
Der Antragsgegner hat eine Ersatzakte vorgelegt und ausgeführt, die Antragstellerin zu 1) sei zuletzt in der Zeit vom 01.04.2014 bis 31.12.2014 beschäftigt gewesen. Den Antragstellern seien vom 15.04.2014 bis 31.12.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II bewilligt worden. Zumindest seit dem 01.01.2017 ergebe sich das Aufenthaltsrecht nur noch aus dem Zweck der Arbeitsuche, weswegen die Antragsteller spätestens ab diesem Zeitpunkt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien.
Unter dem 20.01.2017 hat der Antragsgegner einen Widerspruchsbescheid erlassen, gegen den die Antragsteller am 23.01.2017 Klage zum SG (S 10 AS 222/17) erhoben haben. Mit einem am 25.01.2017 beim SG eingegangenen Fax beantragten die Antragsteller die "Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage" (S 10 AS 242/17 ER).
Am 30.01.2017 hat der Antragsgegner beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Beschwerde gegen den Beschluss des SG eingelegt und beantragt, den Beschluss des SG aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 08.12.2016 abzuweisen.
Die Antragsteller halten daran fest, dass die Rücknahme der Bewilligung rechtswidrig sei. Unter dem 22.02.2017 lässt die Antragstellerin zu 1) mitteilen, dass sie seit diesem Tag einen Minijob für 1 Stunde 45 Minuten täglich bei der Firma W. in B. habe. Der Arbeitsvertrag werde nachgereicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vom SG und dem Antragsgegner vorgelegten Akten sowie auf die Senatsakten verwiesen.
II.
Die form- und fristgerecht eingereichte und auch im Übrigen statthafte Beschwerde hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.
Der im Antragsverfahren vorgelegte Verwaltungsakt unterliegt bereits aus formellen Gründen erheblichen rechtlichen Bedenken. Im Ergebnis zu Recht hat das SG daher die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Verwaltungsakt vom 08.12.2016 angeordnet.
Zu Recht ist das SG auch davon ausgegangen, dass der Antrag der Antragsteller im Sinne eines Anfechtungsbegehrens zu fassen ist und daher (nur) ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Verwaltungsakt vom 08.12.2016 als statthafte Verfahrensart in Betracht kommt. Auf die insoweit zutreffende Begründung im Beschluss des SG vom 19.01.2017 wird verwiesen (§ 136 Abs. 3 SGG).
Das SG ist mit seiner Auslegung und Entscheidung jedoch über das Begehren der Antragsteller hinausgegangen, indem es die zeitliche Reichweite des ursprünglich gestellten, auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteten Antrags nicht berücksichtigt hat. Denn dieser Antrag war (nur) auf die Gewährung von vorläufigen Leistungen ab 01.01.2017 "für längstens drei Monate" gerichtet. Mit der uneingeschränkten Anordnung der aufschiebenden Wirkung geht das SG über diesen Antrag hinaus, da es dem Antragsgegner den Vollzug des Verwaltungsakts vom 08.12.2016 auch über den 31.03.2017 hinaus verwehrt. Entsprechendes haben die Antragsteller jedoch auch im – unzutreffend – gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht begehrt. Dementsprechend war der Beschluss des SG aufzuheben. Der Antragsgegner ist damit zunächst nur gehindert, den Bescheid vom 08.12.2016 auch für den Zeitraum 01.01.2017 bis 31.03.2017 zu vollziehen.
Soweit zwischenzeitlich über den Widerspruch der Antragsteller entschieden wurde (Widerspruchsbescheid vom 20.01.2017) und die Antragsteller hiergegen Klage erhoben haben, bedarf es grundsätzlich keiner (zusätzlichen) Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Denn die Wirkung der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs tritt rückwirkend ab Erlass des mit dem Widerspruch angefochtenen Verwaltungsakts ein und endet in den Fällen, in denen Klage erhoben wird, erst mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Hauptsacheentscheidung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. § 86b, Rdnr. 19, m.w.N.). Der Senat hat dies aufgrund der Notwendigkeit der Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung aber klarstellend im Tenor berücksichtigt und hat diesen neu gefasst. Soweit die Antragsteller beim SG dennoch einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (der aufgrund von § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung zukommt), gestellt haben (S 10 AS 242/17 ER), wird das SG gegebenenfalls hierüber unter Berücksichtigung der weitergehenden Zeiträume zu entscheiden haben.
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs/einer Klage aufgrund von § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die vom BVerfG zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze anzuwenden. Danach sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG]; vergleiche BVerfG vom 25.07.2003 – 2 BvR 1198/03 –, NJW 2003, 2598, 2599 m.w.N.).
Diese Interessenabwägung fällt hier zugunsten der Antragsteller aus.
Der Antragsgegner stützt seine Rücknahmeentscheidung auf § 45 SGB X. Dieser bestimmt in seinem Absatz 1 Folgendes: Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Absatz 2 dieser Vorschrift regelt den zu beachtenden Vertrauensschutz wie folgt: Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit • 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, • 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder • 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Dabei kann es der Senat dahingestellt sein lassen, ob die Antragsteller Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aufgrund der materiellen Rechtslage haben, weil unabhängig davon derzeit nicht erkennbar ist, dass die Rücknahmevoraussetzungen eingehalten sind. Dabei dürfte es nicht allein darauf ankommen, dass die Antragstellerin zu 1) wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sein könnte, solange nicht auch geklärt ist, ob sie sich ausschließlich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhält (zum Erfordernis einer "fiktiven Prüfung" des Grundes bzw. der Gründe der Aufenthaltsberechtigung vgl. Bundessozialgerichts [BSG] Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R –, juris). Nachvollziehbare Feststellungen hierzu fehlen in dem angefochtenen Verwaltungsakt ebenso wie in dem inzwischen vorliegenden Widerspruchsbescheid. Beide Entscheidungen setzen sich zudem nicht oder nur oberflächlich mit dem von § 45 SGB X gewährleisteten Vertrauensschutz auseinander. Es bleibt insoweit völlig unangesprochen, von welchen Rücknahmevoraussetzungen der Antragsgegner ausgeht. Ferner ist die Entscheidung derzeit rechtswidrig, weil der Antragsgegner die Antragsteller vor Erlass des Verwaltungsakts nicht angehört hat und die Ermessenserwägungen einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Gemäß § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte des Betroffenen eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Möglichkeit hat der Antragsgegner den Antragstellern nicht eingeräumt. Ein Telefonat mit einer "Betreuerin" der Sachbearbeiterin des Beklagten dürfte hierfür kaum ausreichend sein, zumal eine gesetzliche und damit rechtlich bedeutsame Betreuung hier ganz offensichtlich nicht besteht und sich aus dem entsprechenden Aktenvermerk auch nicht entnehmen lässt, dass der Antragsgegner den Antragstellern die Möglichkeit eingeräumt hat, zu einer beabsichtigten Zurücknahme der Bewilligung Stellung zu nehmen. Zwar kann der Bescheid durch Nachholen der fehlerhaft unterbliebenen Anhörung geheilt werden, insbesondere grundsätzlich auch durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens, indes wird er dadurch nicht rückwirkend rechtmäßig. Der formelle Fehler wirkt sich lediglich im sich ggf. anschließenden Klageverfahren nicht mehr aus (vgl. BSG, Urteil vom 25.01.1979 – 3 RK 35/77–, SozR 1200 § 34 Nr. 7). Der Bescheid ist dann so anzusehen, als sei er von Anfang an mangelfrei gewesen (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X). Nachdem der Antragsgegner im Bescheid vom 08.12.2016 aber nicht konkret bezeichnet, welche Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X er für erfüllt ansieht, dürfte die erforderliche Anhörung noch nicht nachgeholt sein. Denn eine Heilung des Anhörungsmangels allein durch die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens setzt zumindest voraus, dass der Ausgangsbescheid alle wesentlichen (Haupt-)Tatsachen, d. h. alle Tatsachen, die die Behörde ausgehend von ihrer materiell-rechtlichen Rechtsansicht berücksichtigen muss und kann (vgl. hierzu und zu den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Anhörung oder deren Nachholung BSG, Urteil vom 26.07.2016 – B 4 AS 47/15 R –, juris, m.w.N.), nennt. Vorliegend erschöpfen sich die Ausführungen des Antragsgegners im Bescheid vom 08.12.2016 auf die – auszugsweise – Wiedergabe des Gesetzestextes, des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X; Ausführungen dazu, aus welchem Grund er diese Voraussetzungen für erfüllt ansieht, fehlen, insoweit stellt der Antragsgegner noch nicht einmal dar, dass und warum er tatsächlich von einem fehlenden Vertrauensschutz ausgeht.
Darüber hinaus erweist sich der Bescheid voraussichtlich wegen fehlerhafter Ermessensausübung als rechtswidrig. Denn im angegriffenen Bescheid hat der Antragsgegner nicht im hinreichenden Umfang Ermessen ausgeübt. Die grundsätzliche Verpflichtung, Ermessen auszuüben, wird nicht durch § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch aufgehoben. Bei einer Ermessensentscheidung hat ein Gericht nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BSG, Urteil vom 09.11.2010 – B 2 U 10/10 R –, juris). Ein Ermessensnichtgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung liegt hier nicht vor. Jedoch besteht ein Ermessensfehlgebrauch. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn die Behörde nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falles zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn der Leistungsträger die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat. Des Weiteren kann ein Fehlgebrauch darin liegen, dass er seiner Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Deshalb haben die Tatsacheninstanzen in tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie in ihrer Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat, zutreffend und vollständig ermittelt hat (BSG, Urteil vom 09.11.2010, a.a.O.).
Im Rahmen der Ermessensausübung hat der Leistungsträger die individuellen Verhältnisse des Einzelfalls abzuwägen, d. h., er ist gehalten, auf die für die Ermessensentscheidung relevanten Verhältnisse des Einzelfalls einzugehen. Den für seine Entscheidung benötigten Sachverhalt hat er ggf. von Amts wegen zu ermitteln; er kann sich dabei u. a. der Mitwirkung der Beteiligten bedienen. Vorliegend hat der Antragsgegner seiner Entscheidung einen unvollständig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt und nur Umstände berücksichtigt, die allein die eigenen Interessen an einer Zurücknahme der Leistungsbewilligung rechtfertigen sollen. Dabei beruft er sich auf für den Rechtsstreit unerhebliche Umstände, wenn er ausführt, dass der Träger der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II verpflichtet sei, wirtschaftlich im Sinne der Bundeshaushaltsordnung zu handeln und in diesem Zusammenhang darauf abstellt, dass hierzu gehöre, bestehende Forderungen vollständig und zeitnah zu erheben sowie diese mit den zur Verfügung stehenden Mitteln beizutreiben. Forderungen des Antragsgegners stehen bei der hier erfolgten Zurücknahme für die Zukunft aber weder im Sinne einer Erhebung noch im Sinne einer Beitreibung im Raum. Der Antragsgegner hat zudem keinerlei Umstände der Antragsteller berücksichtigt, nicht einmal solche, die ihm auch ohne die erforderliche Anhörung bekannt gewesen müssten (fehlende Mittel für den Lebensunterhalt schon im Folgemonat, Verpflichtung der Antragsteller, Mietzahlungen zu leisten, Tatsache, dass durch die Entscheidung auch ein zweijähriges Kind betroffen sein wird, kein Hinweis darauf, ob und ggf. wie Antragsteller bei fehlendem Leistungsanspruch nach dem SGB II sonstige Ansprüche geltend machen können, etc.).
Letztlich führen weder der Bescheid vom 08.12.2016 noch der Widerspruchsbescheid aus, ob der Antragsgegner ein Vertrauen der Antragsteller in den Bestand der Bewilligungsentscheidung anerkennt und inwieweit er die Schutzwürdigkeit eines solchen Vertrauens würdigt, also welche Gründe in der Abwägung dazu führen, dass den Interessen der Verwaltung Vorrang eingeräumt wird. Daraus resultiert ein Ermessensfehlgebrauch dergestalt, dass der Antragsgegner die konkreten Auswirkungen seines Bescheides auf die Situation der leistungsberechtigten Antragstellerin nicht angemessen einzelfallbezogen geprüft hat. Der Ermessensfehler führt im Rahmen der Abwägung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG dazu, dass das private Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angegriffenen Bescheids überwiegt. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Antragsgegner möglich ist, unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen die Zurücknahme der Bewilligung auf einer neuen Grundlage zu verfügen.
Soweit der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren eine Kopie des Fachbereichs Jugendhilfe – Soziale Dienste des Landratsamtes L. vom 13.02.2017 vorlegt, in der der Antragstellerin zu 1) bescheinigt wird, dass die Unterbringung des Sohnes gemäß § 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch zum 14.02.2017 ende, ergibt sich hieraus nichts anderes, weil sich dieser Einwand allenfalls auf die materiell-rechtlich zu beantwortende, für die Frage der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs/der Klage aber nicht entscheidende und im Übrigen vom Antragsgegner auch noch nicht vollständig aufgeklärte Frage bezieht, ob und aus welchem Grund den Antragstellern ein materielles Aufenthaltsrecht zukommen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Im Rahmen der Kostenentscheidung hat der Senat berücksichtigt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Wesentlichen auf der Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes beruht und der Erfolg im Beschwerdeverfahren nicht darauf gründet, dass der Antragsgegner sich mit Erfolg auf eine vom SG zu Unrecht angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruches auch über den 01.04.2017 hinaus berufen hätte, sondern dieser an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts festgehalten und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung für ungerechtfertigt gehalten hat. Unter Berücksichtigung dessen hält es der Senat für angemessen, dass der Antragsgegner den Antragstellern 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge erstattet.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 8. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Januar 2017 angeordnet wird, soweit der Beklagte darin die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2017 zurückgenommen hat.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern 2/3 der außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs/einer Klage gegen die Zurücknahme eines Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bewilligenden Verwaltungsakts.
Der Antragsgegner bewilligte den Antragstellern mit Bescheid vom 22.09.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.10.2016 bis 30.09.2017 in Höhe von insgesamt 921,00 EUR (Regelbedarf 404,00 EUR, Sozialgeld 237,00 EUR, Kosten der Unterkunft und Heizung 420 EUR abzüglich Kindergeld für den Antragsteller zu 2)) monatlich.
Mit Bescheid vom 08.12.2016 nahm der Antragsgegner diese Bewilligung mit Wirkung ab 01.01.2017 mit der Begründung zurück, die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen lägen nicht vor, weil die Antragstellerin zu 1) lediglich über ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland verfüge. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Der Beklagte stützte die Zurücknahme des Verwaltungsakts auf § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II und 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Für die Vergangenheit gezahlte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts müsse die Antragstellerin zu 1) nicht erstatten. Der Träger der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II sei verpflichtet, wirtschaftlich im Sinne der Bundeshaushaltsordnung zu handeln. Hierzu gehöre – auch im Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler –, bestehende Forderungen vollständig und zeitnah zu erheben sowie diese mit den zur Verfügung stehenden Mitteln beizutreiben. Nach Abwägung mit dem gesetzlichen Zweck zur Ausübung des Ermessens sowie dem öffentlichen Interesse sei die Entscheidung somit in dieser Form zu treffen gewesen.
Hiergegen hat die Antragstellerin zu 1) durch ihren Bevollmächtigten mit Schreiben vom 16.12.2016 Widerspruch eingelegt und am 30.12.2016 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Heilbronn (SG) einen "Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz", gerichtet auf die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab 01.01.2017 für längstens drei Monate, gestellt. Das SG hat diesen Antrag als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgelegt. Dem Widerspruch käme wegen § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung zu. Mit Beschluss vom 19.01.2017 hat es die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16.12.2016 gegen den Bescheid vom 08.12.2016 mit der Begründung angeordnet, die Interessenabwägung falle zugunsten des Aussetzungsinteresses der Antragsteller aus. Eine andere Entscheidung sei dem Gericht angesichts fehlender Verwaltungsakten nicht möglich gewesen. Gegen den dem Antragsgegner am 19.01.2017 zugestellten Beschluss hat dieser am 30.01.2017 Beschwerde eingelegt.
Der Antragsgegner hat eine Ersatzakte vorgelegt und ausgeführt, die Antragstellerin zu 1) sei zuletzt in der Zeit vom 01.04.2014 bis 31.12.2014 beschäftigt gewesen. Den Antragstellern seien vom 15.04.2014 bis 31.12.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II bewilligt worden. Zumindest seit dem 01.01.2017 ergebe sich das Aufenthaltsrecht nur noch aus dem Zweck der Arbeitsuche, weswegen die Antragsteller spätestens ab diesem Zeitpunkt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien.
Unter dem 20.01.2017 hat der Antragsgegner einen Widerspruchsbescheid erlassen, gegen den die Antragsteller am 23.01.2017 Klage zum SG (S 10 AS 222/17) erhoben haben. Mit einem am 25.01.2017 beim SG eingegangenen Fax beantragten die Antragsteller die "Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage" (S 10 AS 242/17 ER).
Am 30.01.2017 hat der Antragsgegner beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Beschwerde gegen den Beschluss des SG eingelegt und beantragt, den Beschluss des SG aufzuheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 08.12.2016 abzuweisen.
Die Antragsteller halten daran fest, dass die Rücknahme der Bewilligung rechtswidrig sei. Unter dem 22.02.2017 lässt die Antragstellerin zu 1) mitteilen, dass sie seit diesem Tag einen Minijob für 1 Stunde 45 Minuten täglich bei der Firma W. in B. habe. Der Arbeitsvertrag werde nachgereicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vom SG und dem Antragsgegner vorgelegten Akten sowie auf die Senatsakten verwiesen.
II.
Die form- und fristgerecht eingereichte und auch im Übrigen statthafte Beschwerde hat nur im tenorierten Umfang Erfolg.
Der im Antragsverfahren vorgelegte Verwaltungsakt unterliegt bereits aus formellen Gründen erheblichen rechtlichen Bedenken. Im Ergebnis zu Recht hat das SG daher die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Verwaltungsakt vom 08.12.2016 angeordnet.
Zu Recht ist das SG auch davon ausgegangen, dass der Antrag der Antragsteller im Sinne eines Anfechtungsbegehrens zu fassen ist und daher (nur) ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Verwaltungsakt vom 08.12.2016 als statthafte Verfahrensart in Betracht kommt. Auf die insoweit zutreffende Begründung im Beschluss des SG vom 19.01.2017 wird verwiesen (§ 136 Abs. 3 SGG).
Das SG ist mit seiner Auslegung und Entscheidung jedoch über das Begehren der Antragsteller hinausgegangen, indem es die zeitliche Reichweite des ursprünglich gestellten, auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteten Antrags nicht berücksichtigt hat. Denn dieser Antrag war (nur) auf die Gewährung von vorläufigen Leistungen ab 01.01.2017 "für längstens drei Monate" gerichtet. Mit der uneingeschränkten Anordnung der aufschiebenden Wirkung geht das SG über diesen Antrag hinaus, da es dem Antragsgegner den Vollzug des Verwaltungsakts vom 08.12.2016 auch über den 31.03.2017 hinaus verwehrt. Entsprechendes haben die Antragsteller jedoch auch im – unzutreffend – gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht begehrt. Dementsprechend war der Beschluss des SG aufzuheben. Der Antragsgegner ist damit zunächst nur gehindert, den Bescheid vom 08.12.2016 auch für den Zeitraum 01.01.2017 bis 31.03.2017 zu vollziehen.
Soweit zwischenzeitlich über den Widerspruch der Antragsteller entschieden wurde (Widerspruchsbescheid vom 20.01.2017) und die Antragsteller hiergegen Klage erhoben haben, bedarf es grundsätzlich keiner (zusätzlichen) Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Denn die Wirkung der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs tritt rückwirkend ab Erlass des mit dem Widerspruch angefochtenen Verwaltungsakts ein und endet in den Fällen, in denen Klage erhoben wird, erst mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Hauptsacheentscheidung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. § 86b, Rdnr. 19, m.w.N.). Der Senat hat dies aufgrund der Notwendigkeit der Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung aber klarstellend im Tenor berücksichtigt und hat diesen neu gefasst. Soweit die Antragsteller beim SG dennoch einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (der aufgrund von § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung zukommt), gestellt haben (S 10 AS 242/17 ER), wird das SG gegebenenfalls hierüber unter Berücksichtigung der weitergehenden Zeiträume zu entscheiden haben.
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs/einer Klage aufgrund von § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die vom BVerfG zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze anzuwenden. Danach sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG]; vergleiche BVerfG vom 25.07.2003 – 2 BvR 1198/03 –, NJW 2003, 2598, 2599 m.w.N.).
Diese Interessenabwägung fällt hier zugunsten der Antragsteller aus.
Der Antragsgegner stützt seine Rücknahmeentscheidung auf § 45 SGB X. Dieser bestimmt in seinem Absatz 1 Folgendes: Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Absatz 2 dieser Vorschrift regelt den zu beachtenden Vertrauensschutz wie folgt: Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit • 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, • 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder • 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Dabei kann es der Senat dahingestellt sein lassen, ob die Antragsteller Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aufgrund der materiellen Rechtslage haben, weil unabhängig davon derzeit nicht erkennbar ist, dass die Rücknahmevoraussetzungen eingehalten sind. Dabei dürfte es nicht allein darauf ankommen, dass die Antragstellerin zu 1) wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sein könnte, solange nicht auch geklärt ist, ob sie sich ausschließlich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhält (zum Erfordernis einer "fiktiven Prüfung" des Grundes bzw. der Gründe der Aufenthaltsberechtigung vgl. Bundessozialgerichts [BSG] Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R –, juris). Nachvollziehbare Feststellungen hierzu fehlen in dem angefochtenen Verwaltungsakt ebenso wie in dem inzwischen vorliegenden Widerspruchsbescheid. Beide Entscheidungen setzen sich zudem nicht oder nur oberflächlich mit dem von § 45 SGB X gewährleisteten Vertrauensschutz auseinander. Es bleibt insoweit völlig unangesprochen, von welchen Rücknahmevoraussetzungen der Antragsgegner ausgeht. Ferner ist die Entscheidung derzeit rechtswidrig, weil der Antragsgegner die Antragsteller vor Erlass des Verwaltungsakts nicht angehört hat und die Ermessenserwägungen einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Gemäß § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte des Betroffenen eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Möglichkeit hat der Antragsgegner den Antragstellern nicht eingeräumt. Ein Telefonat mit einer "Betreuerin" der Sachbearbeiterin des Beklagten dürfte hierfür kaum ausreichend sein, zumal eine gesetzliche und damit rechtlich bedeutsame Betreuung hier ganz offensichtlich nicht besteht und sich aus dem entsprechenden Aktenvermerk auch nicht entnehmen lässt, dass der Antragsgegner den Antragstellern die Möglichkeit eingeräumt hat, zu einer beabsichtigten Zurücknahme der Bewilligung Stellung zu nehmen. Zwar kann der Bescheid durch Nachholen der fehlerhaft unterbliebenen Anhörung geheilt werden, insbesondere grundsätzlich auch durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens, indes wird er dadurch nicht rückwirkend rechtmäßig. Der formelle Fehler wirkt sich lediglich im sich ggf. anschließenden Klageverfahren nicht mehr aus (vgl. BSG, Urteil vom 25.01.1979 – 3 RK 35/77–, SozR 1200 § 34 Nr. 7). Der Bescheid ist dann so anzusehen, als sei er von Anfang an mangelfrei gewesen (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X). Nachdem der Antragsgegner im Bescheid vom 08.12.2016 aber nicht konkret bezeichnet, welche Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X er für erfüllt ansieht, dürfte die erforderliche Anhörung noch nicht nachgeholt sein. Denn eine Heilung des Anhörungsmangels allein durch die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens setzt zumindest voraus, dass der Ausgangsbescheid alle wesentlichen (Haupt-)Tatsachen, d. h. alle Tatsachen, die die Behörde ausgehend von ihrer materiell-rechtlichen Rechtsansicht berücksichtigen muss und kann (vgl. hierzu und zu den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Anhörung oder deren Nachholung BSG, Urteil vom 26.07.2016 – B 4 AS 47/15 R –, juris, m.w.N.), nennt. Vorliegend erschöpfen sich die Ausführungen des Antragsgegners im Bescheid vom 08.12.2016 auf die – auszugsweise – Wiedergabe des Gesetzestextes, des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X; Ausführungen dazu, aus welchem Grund er diese Voraussetzungen für erfüllt ansieht, fehlen, insoweit stellt der Antragsgegner noch nicht einmal dar, dass und warum er tatsächlich von einem fehlenden Vertrauensschutz ausgeht.
Darüber hinaus erweist sich der Bescheid voraussichtlich wegen fehlerhafter Ermessensausübung als rechtswidrig. Denn im angegriffenen Bescheid hat der Antragsgegner nicht im hinreichenden Umfang Ermessen ausgeübt. Die grundsätzliche Verpflichtung, Ermessen auszuüben, wird nicht durch § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch aufgehoben. Bei einer Ermessensentscheidung hat ein Gericht nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BSG, Urteil vom 09.11.2010 – B 2 U 10/10 R –, juris). Ein Ermessensnichtgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung liegt hier nicht vor. Jedoch besteht ein Ermessensfehlgebrauch. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn die Behörde nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falles zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn der Leistungsträger die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat. Des Weiteren kann ein Fehlgebrauch darin liegen, dass er seiner Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Deshalb haben die Tatsacheninstanzen in tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie in ihrer Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat, zutreffend und vollständig ermittelt hat (BSG, Urteil vom 09.11.2010, a.a.O.).
Im Rahmen der Ermessensausübung hat der Leistungsträger die individuellen Verhältnisse des Einzelfalls abzuwägen, d. h., er ist gehalten, auf die für die Ermessensentscheidung relevanten Verhältnisse des Einzelfalls einzugehen. Den für seine Entscheidung benötigten Sachverhalt hat er ggf. von Amts wegen zu ermitteln; er kann sich dabei u. a. der Mitwirkung der Beteiligten bedienen. Vorliegend hat der Antragsgegner seiner Entscheidung einen unvollständig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt und nur Umstände berücksichtigt, die allein die eigenen Interessen an einer Zurücknahme der Leistungsbewilligung rechtfertigen sollen. Dabei beruft er sich auf für den Rechtsstreit unerhebliche Umstände, wenn er ausführt, dass der Träger der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II verpflichtet sei, wirtschaftlich im Sinne der Bundeshaushaltsordnung zu handeln und in diesem Zusammenhang darauf abstellt, dass hierzu gehöre, bestehende Forderungen vollständig und zeitnah zu erheben sowie diese mit den zur Verfügung stehenden Mitteln beizutreiben. Forderungen des Antragsgegners stehen bei der hier erfolgten Zurücknahme für die Zukunft aber weder im Sinne einer Erhebung noch im Sinne einer Beitreibung im Raum. Der Antragsgegner hat zudem keinerlei Umstände der Antragsteller berücksichtigt, nicht einmal solche, die ihm auch ohne die erforderliche Anhörung bekannt gewesen müssten (fehlende Mittel für den Lebensunterhalt schon im Folgemonat, Verpflichtung der Antragsteller, Mietzahlungen zu leisten, Tatsache, dass durch die Entscheidung auch ein zweijähriges Kind betroffen sein wird, kein Hinweis darauf, ob und ggf. wie Antragsteller bei fehlendem Leistungsanspruch nach dem SGB II sonstige Ansprüche geltend machen können, etc.).
Letztlich führen weder der Bescheid vom 08.12.2016 noch der Widerspruchsbescheid aus, ob der Antragsgegner ein Vertrauen der Antragsteller in den Bestand der Bewilligungsentscheidung anerkennt und inwieweit er die Schutzwürdigkeit eines solchen Vertrauens würdigt, also welche Gründe in der Abwägung dazu führen, dass den Interessen der Verwaltung Vorrang eingeräumt wird. Daraus resultiert ein Ermessensfehlgebrauch dergestalt, dass der Antragsgegner die konkreten Auswirkungen seines Bescheides auf die Situation der leistungsberechtigten Antragstellerin nicht angemessen einzelfallbezogen geprüft hat. Der Ermessensfehler führt im Rahmen der Abwägung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG dazu, dass das private Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angegriffenen Bescheids überwiegt. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Antragsgegner möglich ist, unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen die Zurücknahme der Bewilligung auf einer neuen Grundlage zu verfügen.
Soweit der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren eine Kopie des Fachbereichs Jugendhilfe – Soziale Dienste des Landratsamtes L. vom 13.02.2017 vorlegt, in der der Antragstellerin zu 1) bescheinigt wird, dass die Unterbringung des Sohnes gemäß § 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch zum 14.02.2017 ende, ergibt sich hieraus nichts anderes, weil sich dieser Einwand allenfalls auf die materiell-rechtlich zu beantwortende, für die Frage der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs/der Klage aber nicht entscheidende und im Übrigen vom Antragsgegner auch noch nicht vollständig aufgeklärte Frage bezieht, ob und aus welchem Grund den Antragstellern ein materielles Aufenthaltsrecht zukommen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Im Rahmen der Kostenentscheidung hat der Senat berücksichtigt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Wesentlichen auf der Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes beruht und der Erfolg im Beschwerdeverfahren nicht darauf gründet, dass der Antragsgegner sich mit Erfolg auf eine vom SG zu Unrecht angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruches auch über den 01.04.2017 hinaus berufen hätte, sondern dieser an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts festgehalten und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung für ungerechtfertigt gehalten hat. Unter Berücksichtigung dessen hält es der Senat für angemessen, dass der Antragsgegner den Antragstellern 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge erstattet.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
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