L 7 SO 2387/16 B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SO 2132/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 2387/16 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Juni 2016 aufgehoben.

Der Klägerin wird für das Klageverfahren S 4 SO 2132/16 ab 16. Juni 2016 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung bewilligt und Rechtsanwalt W., F., beigeordnet.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die gemäß § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft, weil die Beschwerdeausschlussgründe des § 172 Abs. 3 SGG, insbesondere Nr. 2 a.a.O., nicht eingreifen; das Sozialgericht (SG) Freiburg hat die Ablehnung der Prozesskostenhilfe (PKH) nicht auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin, sondern auf die fehlende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung gestützt. Die sonach zulässige Beschwerde ist auch begründet. Die Klägerin hat für die Rechtsverfolgung im Klageverfahren S 4 SO 2132/16 Anspruch auf Bewilligung von PKH unter Beiordnung des von ihr benannten Rechtsanwalts.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält PKH, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO verlangt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit; dabei sind freilich keine überspannten Anforderungen zu stellen (ständige Rechtsprechung des Senats unter Hinweis auf Bundesverfassungsgericht (BVerfG) BVerfGE 81, 347, 357). Eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ist regelmäßig zu bejahen, wenn der Ausgang des Verfahrens als offen zu bezeichnen ist. Dies gilt namentlich dann, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von einer schwierigen, bislang höchstrichterlich nicht geklärten Rechtsfrage abhängt und auch angesichts der gesetzlichen Regelung nicht eindeutig beantwortet werden kann (vgl. BVerfG NJW 1997, 2102; NJW 2004, 1789; NVwZ 2006, 1156; BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. Juli 2016 - BvR 1695/15 - (juris Rdnr. 17); Bundessozialgericht (BSG) SozR 4-1500 § 62 Nr. 9) oder eine weitere Sachaufklärung, insbesondere durch Beweisaufnahme, ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BVerfG NZS 2002, 420; info also 2006, 279). Keinesfalls darf die Prüfung der Erfolgsaussichten dazu führen, die Rechtsverfolgung in das summarische Verfahren der PKH zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Bei zweifelhaften Rechtsfragen hat das Gericht demnach regelmäßig PKH zu bewilligen, auch wenn es der Auffassung ist, dass die Rechtsfrage zu Ungunsten des Antragstellers zu entscheiden ist (Bundesgerichtshof NJW 2012, 1964). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussicht sind grundsätzlich die Verhältnisse und der Kenntnisstand im Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Beschwerde (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 26. Oktober 2011 - L 7 SO 2002/11 B - (n.v.) und vom 21. September 2016 - L 7 AS 1415/14 B - (n.v.)). Bezüglich des Zeitpunkts der Erfolgsaussichtenprüfung sind indessen das verfassungsrechtlich verbürgte Gebot der weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten sowie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) zu beachten; danach ist grundsätzlich zu verlangen, dass eine Entscheidung über die Bewilligung von PKH ergeht, sobald hinsichtlich des PKH-Gesuchs die Entscheidungsreife eingetreten ist (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 26. Oktober 2011 und 21. September 2016 a.a.O. im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, z.B. BVerfG NVwZ 2006, 1156).

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH liegen bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung vor. In dem Klageverfahren vor dem SG Freiburg (S 4 SO 2132/16) stellen sich schwierige Fragen im Rechtlichen und Tatsächlichen, die nicht von vornherein klar zu beantworten sind und eine weitere Sachaufklärung erforderlich erscheinen lassen. Ob bei der 1945 geborenen Klägerin, einer r. Staatsangehörigen, Leistungen der Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung nach § 19 Abs. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.V.m. dem Vierten Kapitel oder jedenfalls nachrangig Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 19 Abs. 1 SGB XII i.V.m. mit dem Dritten Kapitel; vgl. hierzu BSGE 104, 207 = SozR 4-3530 § 6 Nr. 1 (jeweils Rdnr. 16); BSG, Urteil vom 25. August 2011 - B 8 SO 19/10 R - (juris Rdnr. 11)) zumindest zeitweise in Betracht kommen, muss beim gegenwärtigen Verfahrensstand als offen bezeichnet werden. Dies reicht für die Bejahung der hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinne des § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO aus, denn das PKH-Verfahren will den Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347 (357); BVerfG NJW-RR 2016, 1264).

Soweit die Beklagte der Klägerin in dem im Klageverfahren vor dem SG Freiburg angefochtenen Bescheid vom 29. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2016 den Ausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII (in der bis 28. Dezember 2016 geltenden Fassung (a.F.); vgl. ferner die mit Wirkung vom 29. Dezember 2016 in Kraft getretene Normfassung des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB XII durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I, S 3155)) entgegengehalten hat, dürften die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss noch weiter, etwa durch persönliche Anhörung der Klägerin und Zeugeneinvernahme von deren Tochter L. E.-C., abzuklären sein. Die Vorschrift verlangt einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe im Sinne eines ziel- und zweckgerichteten Handelns; dieser Zusammenhang liegt vor, wenn der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung war, also nicht nur neben anderen vorrangigen Zwecken billigend in Kauf genommen worden ist (vgl. BSGE 117, 261 = SozR 4-3500 § 25 Nr. 5 (jeweils Rdnr.25); BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 43 (jeweils Rdnr. 45); BSG SozR 4-4200 § 7 Nr. 47 (Rdnr. 38); Coseriu in jurisPK-SGB XII, § 23 Rdnr. 55 (Stand: 23.01.2017); Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 Rdnr. 43 (Stand: 06/2012); Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Auflage 2015,§ 23 Rdnr. 25; ferner zur Vorläuferregelung in § 120 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) schon Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) BVerwGE 90, 212, 214).

Selbst wenn aber bei der Klägerin der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII (a.F.) für die Zeit bis zum 28. Dezember 2016 greifen würde und sie damit in dem genannten Zeitraum von einem Rechtsanspruch auf Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB XII ausgenommen wäre, kämen für sie in dieser Zeit Sozialhilfeleistungen ggf. nach der Ermessensregelung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII in Betracht. Denn auch dem Ausländer, der dem Ausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII (a.F.) unterfällt, kann der Sozialhilfeträger in Ausübung von Ermessen Sozialhilfe gewähren, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (so BSGE 117, 261 = SozR 4-3500 § 25 Nr. 5 (jeweils Rdnr. 28); BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 43 (jeweils Rdnrn. 51 f.); BSG SozR 4-4200 § 7 Nr. 47 (Rdnr. 41); ferner zu § 120 BSHG BVerwGE 78, 314, 317), wobei es auf die Möglichkeit einer Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht ankommt (so BSG SozR 4-4200 § 7 Nr. 47 (Rdnr. 42); Coseriu in jurisPK-SGB XII, a.a.O., Rdnr. 35.7). Darüber, ob der Klägerin für die fragliche Zeit Sozialhilfe gewährt werden kann, hat die Beklagte bisher jedoch nicht entschieden; weder die Begründung des Bescheids vom 29. Februar 2016 noch des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2016 enthält dazu Ausführungen, weil die Beklagte offensichtlich gemeint hat, für eine Ermessensentscheidung sei im Fall des Eingreifens der Ausschlussregelung in § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII (a.F.) kein Raum.

Eine Ermessensentscheidung kommt zwar nach der ab 29. Dezember 2016 geltenden Fassung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII bei ausgeschlossenen Personen nicht mehr in Betracht (vgl. die Gesetzesbegründung, Bundestags-Drucksache 18/10211 S. 16). Die in § 23 Abs. 3 Sätze 3 und 5 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 a.a.O.) vorgesehenen Überbrückungsleistungen dürften - ebenso wie die Härtefallregelung in Satz 6 a.a.O. - nämlich einen eigenständigen Streitgegenstand darstellen (vgl. hierzu Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017 - L 23 SO 30/17 B ER - (juris Rdnrn. 46, 48); SG Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017 - S 62 SO 628/16 ER - (juris Rdnr. 40)). Auf verfassungsrechtliche Fragen zu der gesetzlichen Neuregelung (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017 - a.a.O. (Rdnrn. 40 ff.); Berlit, NDV 2017, 67, 69 ff.) war deshalb hier nicht einzugehen.

Bereits aus den oben genannten Gründen ist eine hinreichende Erfolgsaussicht für die Rechtsverfolgung der Klägerin zu bejahen; unter diesen Umständen erscheint die Klage auch nicht mutwillig. Ferner ist die Bedürftigkeit der Klägerin ab dem 16. Juni 2016 glaubhaft gemacht (§§ 115, 118 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

Die aufgezeigten schwierigen Rechtsfragen sowie der Sachaufklärungsbedarf bedingen, dass die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich ist (vgl. hierzu BVerfG NZS 2002, 420).

Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gemäß § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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