L 3 U 4049/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 4843/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 U 4049/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. August 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 sowie nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - nachfolgend BK 2108 bzw. 2109 - sowie die Gewährung hierauf gestützter Verletztenrenten streitig.

Der 1952 geborene Kläger durchlief nach Abschluss der Schule in Polen zwischen 1966 und 1970 eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker und war in diesem Beruf von 1970 bis zu seiner Übersiedlung ins Bundesgebiet 1981 tätig. In der Bundesrepublik arbeitete der Kläger in den Jahren 1982 und 1983 als Kfz-Mechaniker, bevor er dann ab Dezember 1984 als Maschineneinrichter bei der Firma A. KG, B., Beschäftigung fand. Ab Oktober 2011 wurde er im Rahmen der Altersteilzeit von der Arbeitsleistung freigestellt. Bezüglich der Einzelheiten der verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse des Klägers wird auf seine Angaben gegenüber der Beklagten im Verwaltungsverfahren verwiesen.

Am 17.02.2009 machte der Kläger gegenüber der Beklagten die Anerkennung einer BK 2108 sowie u.a. die Gewährung einer Verletztenrente geltend. Die Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte, radiologische Unterlagen sowie ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse des Klägers bei und holte hierzu eine beratungsärztliche Stellungnahme des Orthopäden Dr. C. ein. Dieser kam, u.a. gestützt auf Röntgenbilder der Lendenwirbelsäule (LWS) vom 17.12.2009 zum Ergebnis, Röntgenbefunde von 58- bis 60-jährigen Patienten würden meist ausgeprägtere degenerative Veränderungen, vor allem im mittleren und unteren Halswirbelsäulen(HWS)-Drittel aufweisen. Auch im Bereich der LWS würden keine wesentlichen Bandscheibenschäden vorliegen; kernspintomographisch würden sich allenfalls angedeutete Bandscheibenprotrusionen L4/5 und L5/S1 feststellen lassen. Insgesamt liege kein belastungskonformes Schadensbild vor und könne eine Berufskrankheit nicht angenommen werden. Mit Bescheid vom 27.03.2012 lehnte die Beklagte daraufhin die Feststellung einer BK 2108 sowie einer BK 2109 wie auch Ansprüche auf Leistungen ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2012 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 02.10.2012 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, mit der er sein Begehren weiter verfolgt hat. Das SG hat zunächst den Orthopäden Dr. D. als sachverständigen Zeugen vernommen. Dieser hat mitgeteilt, er habe den Kläger lediglich zweimal im Jahr 2009 behandelt und sei daher nicht in der Lage, die Fragen zu beantworten. Das SG hat weiterhin eine fachorthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung durch Dr. E., Chefarzt der Schwarzwaldklinik-Orthopädie Bad F., veranlasst. Dieser hat in seinem Gutachten vom 17.12.2012, beruhend auf einer klinischen und radiologischen Untersuchung des Klägers am 13.12.2012 u.a. eine leichte S-förmige Thorakolumbalskoliose, röntgenologisch altersentsprechend erhaltene Bandscheibenräume der gesamten LWS mit Zeichen einer beginnenden bis mäßigen Bandscheibendegeneration in Form von spondylotischen Vorkantenausziehungen geringen Ausmaßes, eine Bandscheibenvorwölbung mit Kontakt zur Wurzel S1 und L5, geringe Bandscheibenvorwölbungen L3/L4 und L4/L5 ohne Nachweis eines Bandscheibenvorfalls bei funktionell endgradig bis mäßig eingeschränkter Beweglichkeit der LWS sowie eine initial beginnende Bandscheibendegeneration im Bereich C5/C6 ohne weitere über die Altersnorm hinausgehende degenerative Veränderungen diagnostiziert. Im Hinblick auf die BK 2109 fehle es an den arbeitstechnischen Voraussetzungen und habe radiologisch kein für diese BK typisches belastungskonformes Schadensbild festgestellt werden können. Im Hinblick auf die BK 2108 sei festzuhalten, dass die im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung vorgenommene Röntgendiagnostik keine altersuntypischen Höhenminderungen in Höhe der lumbalen Wirbelsäulensegmente belegt habe. Der Schweregrad der Bandscheibenhöhenminderung sei für die Segmente L1 bis S1 mit dem Grad 0 bis höchstens I einzuschätzen, womit die Kriterien für das Vorliegen einer altersuntypischen Bandscheibenhöhenminderung nicht erfüllt seien. Hinzu trete eine leichte S-förmige Skoliose als konkurrierende Ursache. Daher sei auch das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen.

Mit Urteil vom 22.08.2013 hat das SG die Klage abgewiesen und, gestützt auf das Gutachten des Dr. E., sowohl die Voraussetzungen für die BK 2108 wie auch die BK 2109 verneint.

Gegen das dem Kläger am 11.09.2013 zugestellte Urteil hat dieser am 17.09.2013 Berufung eingelegt.

Der Senat hat eine Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten zur Arbeitsplatzexposition des Klägers eingeholt, wonach sich für den Kläger für den Zeitraum von Januar 1984 bis einschließlich September 2011 eine berufliche Gesamtdosis in Höhe von 13,7 x 106 Nh errechnet und weder eine besonders intensive Belastung noch Spitzenbelastungen im Sinne der Zusatzkriterien gemäß der Konstellation B2 der "Medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule", so genannte Konsensempfehlungen (veröffentlicht in: Trauma und Berufskrankheit 2005, Seite 211 ff), vorliegt.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat den Arbeits- und Umweltmediziner Prof. Dr. G.-G. mit der Erstattung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens beauftragt und im Vorfeld die von der Praxis Dr. H. und Kollegen gefertigten Röntgen- und CT-Aufnahmen der LWS aus den Jahren 1998 bis 2013, u.a. auch über die am 21.12.2009 stattgehabte kernspintomographische Untersuchung der LWS (mit dem Befund einer geringen Bandscheibenprotrusion bei aufgrund Unruhe des Patienten verwackelter Aufnahme) beigezogen. In einem neurologischen Zusatzgutachten vom 13.11.2014 hat Dr. I. aufgrund Untersuchung des Klägers am 16.10.2014 bei diesem ein sensibles Wurzelsyndrom L4/S1 rechts diagnostiziert. In einem weiteren Zusatzgutachten vom 06.11.2014 hat der Radiologe Dr. J., gestützt auf die beigezogenen Ergebnisse bildgebender Verfahren sowie auf die eigene radiologische Untersuchung am 16.10.2014, u.a. einen altersuntypischen zweitgradigen Prolapsbefund anhand des MRT-Befundes der LWS vom 21.12.2009 mit Erstdiagnose selben Datums angenommen, der sich zwischenzeitlich zu einer Protrusion zurückgebildet habe und den Wurzelabgang S1 rechts tangiere. Eine "black disc" sowie eine Begleitspondylose hat der Sachverständige verneint. Prof. Dr. G.-G. hat dann in seinem Gutachten vom 19.01.2015, gestützt auf eine ambulante Untersuchung gleichfalls am 16.10.2014 sowie die beiden Zusatzgutachten, zunächst die beruflichen Voraussetzungen der BK 2109 verneint, da der Kläger bei keiner seiner beruflichen Tätigkeiten einer Einwirkung durch Tragen von Lasten mit einem Lastgewicht von mindestens 50 kg auf der Schulter ausgesetzt gewesen sei. Dagegen sei eine BK 2108 in der Fallkonstellation B3 der Konsensempfehlungen gegeben. Insbesondere liege beim Kläger ausweislich des Gutachtens des Dr. J. - entgegen der Auffassung von Dr. C. und Dr. E. - ein in der MRT der LWS am 21.12.2009 nachgewiesener altersuntypischer Bandscheibenprolaps L5/S1 mit einem korrespondierenden sensiblen lumbalen Wurzelsyndrom L4/S1 rechts vor.

Die Beklagte hat hierzu die beratungsärztliche Stellungnahme des Radiologen Prof. Dr. K. vom 16.04.2015 vorgelegt, der zum Ergebnis gelangt ist, im Rahmen der MRT-Untersuchung vom 21.12.2009 sei ein Bandscheibenprolaps keineswegs gesichert belegt, sondern es liege mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit eine Summation mehrerer Effekte vor, die weder einzeln noch in der Summe das Maß eines alterstypischen Status überschreiten würden. Im Rahmen einer ergänzenden Stellungnahme vom 09.06.2015 hat Dr. J. sich dieser Beurteilung angeschlossen; aufgrund Bewegungen des Klägers während der Untersuchung sei die Bildqualität eingeschränkt und könne ein altersuntypischer zweitgradiger Prolaps L5/S1 nicht sicher diagnostiziert werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. August 2013 und den Bescheid der Beklagten vom 27. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. September 2012 aufzuheben, eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 und 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung festzustellen sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat sich zur Begründung ihres Antrags auf die Beurteilung durch Prof. Dr. L. und ergänzend Dr. J. gestützt, wonach es am Vollbeweis einer bandscheibenbedingten Erkrankung bei L5/S1 im Sinne der Konsensempfehlungen fehle.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (vgl. § 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig, jedoch unbegründet.

Die hier vorliegende kombinierte Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage ist zulässig. Mit der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG begehrt der Kläger die Aufhebung der die Anerkennung der streitigen BKen sowie die Gewährung einer Rente ablehnenden Verwaltungsentscheidungen. Rechtsgrundlage für das Feststellungsbegehren ist § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Danach kann mit der Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, hier zwischen dem Kläger und der Beklagten als zuständigem Unfallversicherungsträger in Bezug auf die streitige BK (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 46/03, juris). Dem Feststellungsbegehren steht eine etwaige Bindungswirkung des angegriffenen Bescheides nicht entgegen. Zwar hat der Kläger beim SG nur die Zahlung einer Rente beantragt. Da er jedoch ausgeführt hat, diese sei "im Rahmen der Ziffern 2108/2109 der BKVO" zu zahlen, legt der Senat dessen Klageschrift dahingehend aus, dass auch die Feststellung der BKen beantragt worden ist. Zulässigerweise verfolgt der Kläger daneben mit der Leistungsklage die Gewährung von Renten. Zwar hat die Beklagte mit Bescheid vom 27.03.2012 lediglich unspezifisch "Ansprüche auf Leistungen" verneint. Im Widerspruchsbescheid hat die Beklagte dagegen auch die Gewährung einer Rente abgelehnt, weil deren Voraussetzungen nicht vorliegen würden. Bei der gemäß § 95 SGG gebotenen Zusammenschau konnte für einen verständigen Empfänger der Bescheide kein Zweifel bestehen, dass die Beklagte auch über die vom Kläger bereits zuvor beantragten Rentenleistungen entscheiden wollte.

Die Klage ist aber unbegründet. Beim Kläger ist weder eine BK 2108 noch eine BK 2109 festzustellen. Infolgedessen hat er auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente.

Die Voraussetzungen für die Feststellung einer BK 2109 sind nicht gegeben.

Eine BK nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i.V.m. Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV ist eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Folge geltend gemachte Gesundheitsstörung - hier also eine bandscheibenbedingte Erkrankung - erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84, juris). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, a.a.O.); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.1999, B 2 U 47/98 R, juris; Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 16/00 R, juris). Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90, juris).

Für die Feststellung einer BK 2109 liegen bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen (langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter) nicht vor.

Aus dem Wortlaut der BK 2109 ergibt sich weder eine zeitliche Mindestanforderung für die Ausübung der gefährdenden Tätigkeit noch eine Konkretisierung des Begriffs der schweren Last. Bei einer solch unbestimmten Fassung der BK sind die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die Gerichte verpflichtet (vgl. BSG, Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 6/04 R, juris - Lärmschwerhörigkeit -), den Inhalt der BK über deren Wortlaut hinaus nach den allgemein anerkannten juristischen Regeln und Methoden (Wortlaut, Zusammenhang, Historie, Zweck) zu bestimmen, auch vor dem Hintergrund, dass der Verordnungsgeber die BKen zum Teil bewusst offen formuliert, damit Verwaltung und Rechtsprechung die sich ändernden Erkenntnisse berücksichtigen können, ohne dass der Wortlaut der Verordnung geändert werden muss. Dementsprechend fließt auch medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachverstand nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand in die Beurteilung ein (BSG, Urteil vom 27.06.2006, B 2 U 20/04 R, juris). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht. Dazu können einschlägige Publikationen, insbesondere die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums herangezogen werden (BSG a.a.O.).

In der Amtlichen Begründung zum Gesetz gewordenen Entwurf zur Einführung der BK 2109 (BR-Drs. 773/92) wird für Verschleißschäden an der HWS und für HWS-Syndrome durch langjähriges Tragen von Lasten auf Fleischträger in Schlachthäusern als typischer Berufsgruppe mit entsprechender Gefährdung hingewiesen, die Lasten auf der Schulter oder über Kopf unter Zwangshaltung im Bereich der HWS und maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur transportieren. Ähnliche Belastungen treten - so die Amtliche Begründung weiter - beim Tragen von schweren Säcken auf der Schulter (z.B. bei Lastenträgern) auf. Eine nähere Erläuterung ergibt sich aus dem Merkblatt zur BK 2109 (BArbBl. 3/1993, Seite 53). Danach steht unter den beruflichen Faktoren, die bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS verursachen oder verschlimmern können, fortgesetztes Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, einhergehend mit einer statischen Belastung der zervikalen Bewegungssegmente und außergewöhnlicher Zwangshaltung der HWS, im Vordergrund, wie dies z.B. bei Fleischträgern beobachtet wurde, die Tierhälften oder -viertel auf dem Kopf bzw. dem Schultergürtel tragen. Die nach vorn und seitwärts erzwungene Kopfbeugehaltung und das gleichzeitige maximale Anspannen der Nackenmuskulatur führen zu einer Hyperlordosierung und auch zu einer Verdrehung der HWS. Damit wird - so das Merkblatt - eine langjährige (10 Berufsjahre, bei sehr intensiver Belastung auch kürzer) Tätigkeit mit dem Tragen von Lastgewichten von 50 kg und mehr in einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten für erforderlich gehalten. Dies entspricht der - damaligen - tatsächlichen Belastung von Fleisch- und Kohleträgern (s. hierzu Schäfer u.a., Vergleich der Belastungen von Fleisch- und Kohleträgern beim Tragen von Lasten auf der Schulter; Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 2008, Seiten 20 ff.). So wogen Schweinehälften früher 50 bis 60 kg, Rinderviertel etwa 70 bis 80 kg, Kohlesäcke etwas über 50 kg.

Im Hinblick auf die als typisch gefährdet anzusehenden und Anlass für die BK 2109 gebenden Fleischträger ist der Referenzwert somit für ein Objekt in Größe und Form einer Schweinehälfte oder eines Rinderviertels in Übereinstimmung mit dem Merkblatt sowie Literatur und Rechtsprechung mit etwa 50 kg anzunehmen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.05.2003, L 10 U 4524/01; ebenso LSG Berlin, Urteil vom 17.08.2000, L 3 U 81/97 und Urteil vom 25.03.2003, L 2 U 104/01; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.07.1999, L 3 U 202/97; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.11.1998, L 2 U 883/98 - alle in juris; Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheiten-Verordnung, M 2109 Anm. 2).

Diese Auffassung ist in einer neueren Entscheidung des Bundessozialgerichts ausdrücklich bestätigt worden (BSG, Urteil vom 04.07.2013, B 2 U 11/12 R, juris). Danach erfordert die Feststellung der BK 2109 folgende arbeitstechnische Voraussetzungen (BSG a.a.O.):

1. Das Tragen von schweren Lasten auf der Schulter setzt Lastgewichte von 50 kg und mehr voraus.

2. Die Lasten müssen langjährig getragen worden sein. Langjährig bedeutet, dass 10 Berufsjahre als die im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (so wörtlich das Merkblatt 2109, Abschnitt IV Abs. 3). Danach muss die belastende Tätigkeit über einen Zeitraum von etwa 10 Jahren ausgeübt worden sein. Insoweit umschreibt das Merkmal "langjährig" in der Norm nur eine aus Erfahrungswissen gewonnene Dauer der Belastung, die mit "etwa zehn Jahren" angenommen wird. Es handelt sich nicht um eine starre Untergrenze. Geringe Unterschreitungen dieses Wertes schließen die Anwendung des BK-Tatbestands daher nicht von vornherein aus; dies gilt besonders in den Fällen, in denen Versicherte Lasten mit noch höherem Gewicht bewegt haben. Wird allerdings eine Belastungsdauer von 8 Jahren nicht erreicht, ist die BK 2109 ausgeschlossen. Bei Belastungen mit einer Dauer von weniger als 10 Jahren ist aber die haftungsbegründende Kausalität sorgfältig zu prüfen.

3. Erforderlich ist eine Regelmäßigkeit des Tragens schwerer Lasten auf der Schulter, wobei das Tragen schwerer Lasten in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten ausreicht, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann. Wie bei der Belastungsdauer können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden. Insoweit lässt sich dem BK-Tatbestand, der Begründung des Verordnungsgebers und dem Merkblatt nur das Erfordernis eines regelmäßigen Tragens nicht aber eines arbeitstäglichen Tragens von schweren Lasten auf der Schulter entnehmen.

4. Das Tragen schwerer Lasten muss mit einer nach vorn und seitwärts erzwungenen Zwangshaltung einhergehen.

Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 21019 sind vorliegend bereits deshalb zu verneinen, weil der Kläger zu keiner Zeit Lasten mit wenigstens 50 kg auf der Schulter getragen hat, worauf bereits Dr. E. und Prof. Dr. G.-G. zutreffend hingewiesen haben. Ausweislich der vom Kläger gegenüber der Beklagten gemachten Angaben über die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit waren die schwersten von ihm zu tragenden Lasten Gewichte von 35 kg, die er als Maschineneinrichter im Rahmen dieser Tätigkeit angehoben, nicht aber auf der Schulter getragen hat. Auf gezielte Nachfrage von Prof. Dr. G.-G. hat der Kläger dort neuerlich bestätigt, dass er bei keiner seiner beruflichen Tätigkeiten, auch nicht denjenigen in Polen, einer Einwirkung durch Tragen von Lasten mit einem Lastgewicht von mindestens 50 kg auf der Schulter ausgesetzt gewesen war.

Aber auch die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 liegen nicht vor.

Eine BK nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV ist eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Unter Berücksichtigung der bereits oben dargestellten Beweisgrundsätze fehlt es für die Feststellung einer BK 2108 bereits an einer bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne der Konsensempfehlungen.

Eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS im Sinne der BK 2108 liegt vor, wenn neben einem durch Veränderungen an der Bandscheibe verursachten objektivierten Schaden chronische oder chronisch wiederkehrende Beschwerden mit Funktionseinschränkungen gegeben sind (BSG, Urteil vom 31.05.2005, B 2 U 12/04 R, juris). Nach den Konsensempfehlungen (a.a.O., Seite 216 f.) ist Grundvoraussetzung für die Anerkennung eines Ursachenzusammenhangs und damit einer BK 2108 für die (einzig hier in Betracht kommenden) mit dem Buchstaben "B" beginnenden Konstellationen eine nachgewiesene bandscheibenbedingte Erkrankung mit einer altersuntypischen Ausprägung des Bandscheibenschadens: Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall. Eine solche altersuntypische Ausprägung liegt indes beim Kläger nicht vor. So hat bereits Dr. C. anhand der radiologischen Befunde vom 17.12.2009 und vom 21.12.2009 nur diskrete radiologische Zeichen einer beginnenden Degeneration im Bereich der LWS festgestellt und zutreffend darauf verwiesen, dass die Röntgenbefunde von Patienten gleichen Alters zumeist ausgeprägtere degenerative Veränderungen aufweisen würden, als der Kläger. Auch die von Dr. E. im Zuge der Begutachtung am 13.12.2012 erhobenen röntgenmorphologischen und sonstigen radiologischen Befunde wiesen keine altersuntypischen Höhenminderungen der Zwischenwirbelräume im Bereich der LWS und insbesondere im thorakolumbalen Übergangsbereich auf. Die Ausmessung der Röntgenaufnahmen ergab eine nur geringgradige Höhenminderung der lumbalen Bandscheibenräume, die die in den Konsensempfehlungen geforderten Höhenminderungen (vgl. a.a.O., Seite 214) von mehr als einem Drittel bzw. mehr als der Hälfte der normalen Bandscheibenhöhe (bei über 50-Jährigen) nicht erfüllt.

Auch Dr. J. konnte bei der MRT-Untersuchung im Oktober 2014 weder eine altersuntypische Chondrose noch einen altersuntypischen Prolaps feststellen. Soweit Prof. Dr. G.-G., gestützt auf das radiologische Gutachten des Dr. J., seiner Beurteilung einen monosegmentalen Bandscheibenprolaps L5/S1 mit Erstdiagnose 21.12.2009 - zum Zeitpunkt der Begutachtung im Oktober 2014 dann aber nur (noch) als nicht altersuntypische Bandscheibenprotrusion vorhanden - zugrunde gelegt, hiervon ausgehend die Konstellation B3 geprüft und eine BK 2108 bejaht hat, vermag dem der Senat nicht zu folgen. Prof. Dr. G.-G. stützt sich diesbezüglich auf Dr. J., der in seinem radiologischen Zusatzgutachten dem MRT-Befund der Radiologischen Praxis Dr. H. und Kollegen vom 21.12.2009 (zunächst) einen altersuntypischen zweitgradigen Prolaps L5/S1 entnommen hatte, während sich - wie bereits dargelegt - im Rahmen der von ihm selbst veranlassten MRT-Untersuchung im Oktober 2014 nur noch eine nicht mehr altersuntypische erstgradige Protrusion zeigte. Dr. C. und Dr. E. konnten - wie weiterhin bereits dargestellt - dieser Aufnahme schon keine über das alterstypische Maß hinausgehenden Veränderungen entnehmen. Der Radiologe Prof. Dr. L. hat in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme weiterhin auf die eingeschränkte Bildqualität hingewiesen, die bereits der damalige Radiologe in seinem Bericht vom 21.12.2009 thematisiert hat ("Bei Unruhe des Patienten bedauerlicherweise etwas verwackelte Aufnahmen"). Die Aufnahme zeigt, so Prof. Dr. L., mit Wahrscheinlichkeit eine Summation mehrerer Effekte (geringfügige rechtslaterale Protrusion der Bandscheibe, geringe spondylophytäre Ausziehung, geringe Gefügelockerung des Wirbelgelenks mit Listhese), die weder einzeln noch in der Summe die Grenze zur altersuntypischen Veränderung überschreiten. Jedenfalls, so Prof. Dr. L., kann der Aufnahme angesichts der eingeschränkten Bildqualität nicht mit der notwendigen Sicherheit ein altersuntypischer Bandscheibenprolaps entnommen werden. Dieser Beurteilung hat sich auch Dr. J. im Rahmen seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme angeschlossen, indem er dargelegt hat, dass zu seiner gutachterlichen Bewertung eines altersuntypischen zweitgradigen Prolapsbefundes wahrscheinlich die in der axialen Schichtung nachweisbare Formation neben der S1-Wurzel geführt hat und er bei erneuter kritischer Durchsicht der MRT-Aufnahme seine ursprüngliche Bewertung für nicht ausreichend begründbar hält. Deshalb hat sich Dr. J. der Einschätzung von Prof. Dr. L. angeschlossen, dass ein altersuntypischer zweitgradiger Prolaps L5/S1 nicht sicher diagnostiziert werden kann.

Letztendlich kann dahingestellt bleiben, ob mit Dr. C. und Dr. E. mit Sicherheit von einem nicht altersuntypischen Befund auch zum Zeitpunkt der Aufnahme am 21.12.2009 ausgegangen werden kann oder mit Prof. Dr. L. und Dr. J. ein altersuntypischer Befund zwar nicht mit letzter Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, indes keine sichere Diagnose einer altersuntypischen Veränderung möglich ist, sondern vielmehr die größere Wahrscheinlichkeit gegen eine altersuntypische Veränderung spricht. Jedenfalls fehlt es auch für den Zeitpunkt der Aufnahme am 21.12.2009 am erforderlichen Nachweis einer altersuntypischen Bandscheibenerkrankung, womit der Beurteilung des Prof. Dr. G.-G. in seinem Gutachten von vornherein der Boden entzogen ist. Für die Zeit vor dieser Aufnahme wie auch für die Zeit danach steht aufgrund der beigezogenen radiologischen Befundberichte und nicht zuletzt auch aufgrund der von Dr. E. wie auch von Dr. J. erhobenen radiologischen Befunde ohnedies fest, dass die Bandscheibenveränderungen des Klägers nicht das alterstypische Maß überschritten haben.

Fehlt es damit bereits an einer BK, so scheidet der hier weiterhin streitige Anspruch auf Rente wegen einer BK von vornherein aus. Denn nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf eine Rente nur dann, wenn deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist. Vorliegend fehlt es aber bereits an einem Versicherungsfall im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB VII, da - wie oben dargelegt - die BKen 2108 und 2109 nicht gegeben sind.

Soweit der Kläger schriftsätzlich vor der mündlichen Verhandlung den Antrag auf Einholung eines weiteren radiologischen Gutachtens von Amts wegen gestellt hat, kann dahingestellt bleiben, ob dieser Antrag den Anforderungen an einen prozessualen Beweisantrag genügt. Denn ein schon gestellter Beweisantrag muss nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Interesse seiner Warnfunktion in der letzten mündlichen Verhandlung ausdrücklich aufrechterhalten werden, was auch bei unentschuldigtem Ausbleiben in der mündlichen Verhandlung gilt (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 160 Rn. 18c). Dies ist vorliegend nicht geschehen.

Soweit das Vorbringen des Klägers als Beweisanregung zu werten ist, liegen Gründe für die Einholung eines weiteren radiologischen Gutachtens von Amts wegen nicht vor. Soweit klägerseits das Vorliegen einer altersuntypischen Bandscheibenveränderung für die Zeit nach der Aufnahme vom 21.12.2009 geltend gemacht werden sollte, ist der Sachverhalt aufgrund der vorliegenden radiologischen Befunde und insbesondere der im Rahmen der Begutachtung durch Dr. E. und durch Dr. J. durchgeführten radiologischen Untersuchungen zweifelsfrei geklärt. Sowohl Dr. E. als auch der radiologische Zusatzgutachter Dr. J. haben schlüssig und nachvollziehbar für diesen Zeitraum entsprechende Bandscheibenveränderungen verneint. Sofern der Kläger mit einer weiteren radiologischen Begutachtung eine Feststellung des Vorliegens altersuntypischer Bandscheibenveränderungen zum Zeitpunkt der Aufnahme vom 21.12.2009 bezwecken will, ist das Beweismittel ersichtlich ungeeignet. Denn anhand von zum jetzigen Zeitpunkt erstellten Aufnahmen lassen sich keine Aussagen über das Ausmaß der Bandscheibenveränderungen im Jahr 2009 treffen.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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