S 31 KR 780/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 31 KR 780/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 24.07.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2013 ab dem 01.02.2013 in die Familienversicherung aufzunehmen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über eine Wiederaufnahme des Klägers in die Familienversicherung seines Vaters.

Der am 23.09.1985 geborene Kläger ist seit Geburt nahezu vollständig erblindet. Seit dem Wintersemester 2006 studiert der Kläger Jura an der Philipps Universität Marburg. Bis zu seinem 25. Lebensjahr war der Kläger über seinen Vater familienversichert, anschließend wurde er als Student bei der Beklagten kranken- und pflegeversichert.

Mit Antrag vom 04.07.2013, der Beklagten zugegangen am 08.07.2013, begehrte der Kläger die Wiederaufnahme in die Familienversicherung seines Vaters ab Februar 2013. Zur Begründung führte er aus, dass er bisher die Kranken – und Pflege Versicherungsbeiträge aufgrund staatlicher Förderung habe tragen können. Nach Einstellung der BAföG-Leistungen im Januar 2013 verfüge er ausschließlich über Kindergeld und könne somit die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge nicht mehr aufbringen. Der Kläger verweist zur Begründung des verzögerten Studienverlaufs auf seine Behinderung. Er könne die erforderliche Literaturmenge und die im Studium zu erbringenden Leistungsnachweise nicht in demselben Tempo bewältigen wie seine Studienkollegen ohne Beeinträchtigung. Zudem könne er aufgrund seiner hochgradigen Sehbeeinträchtigung keine der typischen studentischen Nebentätigkeiten zur Sicherung seines Lebensunterhaltes ergreifen.

Die Beklagte befragte ihrerseits den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), ob der Kläger außerstande sei sich selbst zu unterhalten. In seiner Stellungnahme vom 09.07.2013 teilte der MDK mit, dass der Kläger nahezu komplett erblindet, die Durchführung einer beruflichen Tätigkeit aber realistisch sei, zumal der Kläger offenbar studiere. Die Beklagte lehnte daraufhin unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des MDK eine Familienversicherung des Klägers mit Bescheid vom 24.07.2013 ab. Mit Schreiben vom 31.07.2013 legte der Kläger Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten ein. Zur weiteren Begründung seines Anspruchs verwies er auf § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V, wonach Kinder ohne Altersgrenze familienversichert sind, wenn sie als behinderte Menschen außerstande sind, sich selbst zu unterhalten. Angesichts seiner Blindheit sei das Tatbestandsmerkmal der Behinderung unproblematisch. Auch sei er nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Zum einen ließe der behinderungsbedingte Mehraufwand für das Studium ihm keine Zeit für eine etwaige Nebentätigkeit. Zum anderen seien typische studentische Nebentätigkeiten wie etwa Zeitungsausgabe, Pizza-Taxi, Regale einräumen im Einzelhandel oder Kellnern nicht möglich. Ergänzend teilte der Kläger mit, dass seine Eltern ohne Unterbrechung für ihn Kindergeld von der Familienkasse bekommen hätten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.08.2013 wies Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Ergänzend zu ihrer bisherigen Begründung im Rahmen des Bescheides vom 24.07.2013 führte die Beklagte aus, dass im Rahmen der Regelung des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V das Kind – vorliegend der Kläger - außerstande sein müsse, sich selbst zu unterhalten. Dies sei der Fall, wenn es seinen eigenen Lebensunterhalt, zu dem auch notwendige Aufwendungen infolge der Behinderung sowie sonstige Ausgaben des täglichen Lebens gehören, nicht bestreiten könne. Dies setze zunächst voraus, dass das Kind infolge der Behinderung nicht in der Lage sei, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, insbesondere eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen; insoweit sei der Begriff des Außerstandeseins mit dem der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB IV vergleichbar. Die Fähigkeit sich selbst zu unterhalten müsse somit für eine unabsehbare Zeit unterbrochen sein. Dies könne bezüglich des Klägers nicht angenommen werden.

Der Kläger hat am 19.09.2013 Klage erhoben. In Ergänzung seiner Ausführungen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, führt der Kläger aus, dass die Ausführungen der Beklagten, behindertengerechte Arbeitsplätze, insbesondere für Sehbehinderte, seien in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst weit verbreitet, zwar zutreffend seien. Dies ändere jedoch nichts an der tatsächlichen Situation des Klägers. Der Kläger habe das Studium der Rechtswissenschaften begonnen, um nach dessen Abschluss in der Lage zu sein, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und somit für seinen eigenen Unterhalt aufkommen zu können. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Schwerbehinderte sei äußerst schwierig und gute Arbeitsplätze würden eine fundierte Ausbildung voraussetzen. Ohne einen Berufsabschluss gebe es für den Kläger so gut wie keine Beschäftigungsmöglichkeit.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.07.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2013 zu verurteilen, den Kläger ab 01.02.2013 in die Familienversicherung aufzunehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, dass in der Anwendung des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB 5 die Behinderung ursächlich dafür sein müsse, dass das Kind sich nicht selbst unterhalten könne. Im vorliegenden Fall sei jedoch nicht die Behinderung die Ursache für fehlende ausreichende Einkünfte, sondern die Tatsache, dass dem Kläger neben dem umfangreichen Studium kein Raum mehr für eine Erwerbstätigkeit bliebe. Der Kläger führe selbst an, dass er das Studium der Rechtswissenschaften angestrebt habe, da er es für realistisch halte, dass er in Zukunft seinen Lebensunterhalt damit bestreiten könne. Er halte also selbst für sich eine Erwerbstätigkeit für möglich und schließe eine solche nicht aufgrund seiner Behinderung aus. Der Kläger sei unabhängig von seiner Studiensituation grundsätzlich in der Lage, eine Erwerbstätigkeit mit dem Ziel der Sicherung des Lebensunterhaltes auszuüben. Behindertengerechte Arbeitsplätze, insbesondere für Sehbehinderte seien in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst weit verbreitet. Aufgrund seiner bisherigen Ausbildung sei davon auszugehen, dass der Kläger eine Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls an einem behindertengerecht ausgestatteten Arbeitsplatz, ausüben könne.

Das Gericht hat zur Frage der Verfügbarkeit von für den Kläger in Betracht kommenden Erwerbsmöglichkeiten eine Stellungnahme von der Bundesagentur für Arbeit eingeholt. Diese teilte in ihrer Stellungnahme vom 12.08.2014, ergänzt durch ihr Schreiben vom 27.08.2014, mit, dass es grundsätzlich keinen eingeschränkten Arbeitsmarkt für blinde bzw. sehbehinderte Menschen gäbe (Stichwort: Inklusion). Der Einstieg in den Arbeitsmarkt für den Kläger mit nicht abgeschlossenem Jurastudium sei lediglich auf Helferniveau möglich. Aufgrund seiner eher kaufmännisch orientierten Kenntnisse sei eine Bürotätigkeit ohne direkten Kundenkontakt möglich, wie sie etwa zum Beispiel in Call– oder Servicecentern angeboten werden. Aktuell seien für Nordrhein-Westfalen über 200 Stellenangebote für Call-Center-Agenten und Telefonisten gemeldet; allein für Duisburg und die nähere Umgebung seien 150 Stellen aufgeführt. Davon seien zwei Stellen speziell für Schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Menschen ausgeschrieben. Aufgrund von hohem Personalbedarf und relativ hoher Fluktuation seien in Call– und Servicecentern die Einstiegschancen für Quereinsteiger sowie für Menschen ohne Berufsabschluss und –erfahrung vergleichsweise gut. Vorauszusetzen seien Kommunikationsstärke, Kundenfreundlichkeit, Serviceorientierung, Grundkenntnisse am PC sowie Belastbarkeit und Lernfähigkeit. Aufgrund der körperlichen Einschränkungen sei für den Kläger zunächst eine dem Leistungsvermögen angepasste Arbeitsplatzausstattung und gegebenenfalls für den beruflichen Einstieg eine blindentechnische Grundausbildung notwendig. Zusammenfassend ist die Bundesagentur für Arbeit der Auffassung, dass der Arbeitsmarkt dem Kläger nicht verschlossen sei. Er sei wahrscheinlich in der Lage, seinen Lebensunterhalt eigenständig sicherzustellen.

Im Anschluss an die Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit hat der Kläger mitgeteilt, dass er keine blindentechnische Grundausbildung mehr benötige. Die blindentechnische Grundausbildung sei eine Maßnahme insbesondere für Menschen, die eine massive Sehbehinderung oder Blindheit kürzlich erworben hätten. Bezüglich einer Beschäftigung in einem Call-Center hat der Kläger ausgeführt, dass es zwar richtig sei, dass im Bereich der telefonischen Dienstleistungen Arbeitsplätze vorhanden seien, allerdings setze deren Besetzung mit einer blinden Person eine fundierte Ausbildung voraus. Voraussetzung der Tätigkeit eines blinden oder sehbehinderten Menschen in diesem Bereich seien – anders als bei sehenden Menschen – nicht nur Grundkenntnisse im Bereich der Computerhandhabung, sondern zudem umfangreiches Spezialwissen für die Anwendung technischer Applikationen, mit denen ein normaler Arbeitsplatz in einem Callcenter erst versehen werden müsse, um behindertengerecht zu werden. Der Kläger hat des Weiteren eine Stellungnahme des stellvertretenden Leiters des BBW Soest, Herrn D., übersandt, welche sich mit der Möglichkeit von Beschäftigung sehbehinderter Menschen in Callcentern intensiv beschäftigt habe. Herr D. hat in seiner mit Schriftsatz vom 25.09.2014 übersandten Stellungnahme folgendes ausgeführt: die Beschäftigung blinder Menschen in Call – oder Servicecentern setze voraus, dass die dort verwendete Software barrierefrei (accessible and usable) sei. Dies sei in den seltensten Fällen gegeben. Die meisten Call– und Servicecenter würden sich dadurch auszeichnen, dass Aufträge und Kampagnen häufig wechselten. Die Mitarbeiter müssten daher häufig mit wechselnden Masken und Gesprächsleitfäden arbeiten, was für blinde Mitarbeiter einen deutlich erhöhten Einarbeitungsaufwand bedeuten würde; dies mache ihren Einsatz in vielen Fällen unwirtschaftlich. Teilweise seien die Arbeitsplätze nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. In der Praxis seien blinde Menschen kaum in Call– und Servicecentern beschäftigt. Selbst die Arbeit sehbehinderter Mitarbeiter im Servicecenter der bundesweit einheitlichen Behördenrufnummer 115 bedürfe umfangreicher technischer Vorkehrungen. Auf Seiten des Bewerbers müssten – abhängig vom Einsatzgebiet – fundierte Kenntnisse für die Nutzung von Telefonsoftware, Infrastruktur sowie weiteren zu bedienenden Programmen (Textverarbeitung, Mailprogramm, Tabellenkalkulation) vorliegen. Diese Kenntnisse und Fertigkeiten würden in der Berufsausbildung zum Fachpraktiker für Bürokommunikation (36 Monate) oder im Rahmen von Umschulungen in Lehrgängen (6-12 Monate) vermittelt. Diese Kenntnisse und Fertigkeiten seien in der Regel erforderlich, da blinde Menschen sich den Gebrauch der an den Arbeitsplätzen eingesetzten Software nicht intuitiv erschließen könnten. Darüber hinaus seien blinde Menschen in Abhängigkeit von der jeweiligen Arbeitsaufgabe gezwungen, andere Arbeitstechniken und – abläufe anzuwenden als ihre sehenden Kolleginnen und Kollegen. Diese Techniken könnten von den sehenden Kolleginnen und Kollegen nicht vermittelt werden. Sie sind Teil der zuvor genannten Qualifizierung. Der Einsatz einer Assistenzkraft sei aller Wahrscheinlichkeit nach unwirtschaftlich.

Der als Stammrechtinhaber zum Verfahren beigeladene Vater des Klägers hat keinen eigenen Antrag gestellt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Alle Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 24.07.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die von ihm beantragte Familienversicherung.

Der Anspruch des Klägers auf Familienversicherung ergibt sich aus § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V, § 25 Abs. 2 Nr. 4 SGB XI. Gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V und der nahezu wortgleichen Regelung des § 25 Abs. 2 Nummer 4 SGB XI sind Kinder in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ohne Altersgrenze familienversichert, wenn sie als behinderte Menschen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind nach Nummer 1, 2 oder 3 versichert waren. Gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 SGB V und § 25 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 SGB IX sind Kinder in der Kranken- und Pflegeversicherung familienversichert bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres wenn sie nicht erwerbstätig sind und bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, wenn sie sich u. a. in Schul– oder Berufsausbildung befinden. Menschen sind behindert im Sinne § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass bei dem Kläger eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu bejahen ist. Der Kläger ist seit seiner Geburt nahezu erblindet. Auch das Vorliegen der Sehbehinderung im Zeitpunkt der Familienversicherung des Klägers bis zu seinem 25. Lebensjahr ist unschwer zu bejahen.

Die Kammer ist darüber hinaus der Überzeugung, dass der Kläger im Sinne des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V als behinderter Mensch außerstande ist, sich aktuell zu unterhalten, denn diese Fähigkeit ist zu messen an den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes.

Wie die Beklagte hält es auch die Kammer zur Ausfüllung der Formulierung "außerstande sein, sich selbst zu unterhalten" für zutreffend, auf den Begriff der Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI zurückzugreifen. Wie zum alten Gesetzeswortlaut vom Bundessozialgericht dargelegt, ist es auch heute das Ziel beider Normen – heute § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V / § 25 Abs. 2 Nummer 4 SGB XI einerseits und § 43 SGB VI andererseits – die jeweiligen Sozialleistung demjenigen oder für denjenigen zu gewähren, der nicht in der Lage ist, durch Arbeit das Existenzminimum zu verdienen (vgl. BSG Urteil vom 14.08.1984, Az. 10 RKg 6/83). Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist teilweise erwerbsgemindert, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Die Kammer verneint die Fähigkeit des Klägers, seinen Lebensunterhalt unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes durch Erwerbstätigkeit in absehbarer Zeit sicher zu stellen. Obwohl die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Schriftsatz vom 12.08.2014 davon ausgeht, dass der Arbeitsmarkt dem Kläger nicht verschlossen ist, sieht die Kammer in der 2. Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit vom 27.08.2014 insbesondere in Zusammenschau mit der Stellungnahme von Herrn D. eine Bestätigung dafür, dass dem Kläger ein Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht möglich ist. Die Bundesagentur für Arbeit hat bestätigt, dass zurzeit dem Kläger ein Einstieg in den Arbeitsmarkt lediglich auf Helferniveau möglich sei und auf eine Tätigkeit in einem Call- oder Servicecenter verwiesen. Des Weiteren hat die Bundesagentur ausgeführt, dass von den insgesamt 150 Stellen im Call- und Servicecenterbereich für Duisburg und die nähere Umgebung lediglich zwei Stellen speziell für Schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Menschen ausgeschrieben sind.

Die Kammer hält selbst bezüglich der zwei für Schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Menschen ausgeschriebenen Stellen eine Vermittlung des nahezu blinden Klägers in eine Call-Centertätigkeit für tatsächlich ausgeschlossen. Gerade für eine Tätigkeit, welche ein zeitgleiches Telefonieren und Datenaufrufen- und eingeben unter Zeitdruck am PC verlangt, erscheint ein nahezu blinder Mitarbeiter selbst bei Einsatz entsprechender Technik als ungeeignet. Angesichts der parallel zu führenden Telefonate, müssen die Mitarbeiter eines Callcenters in der Lage sein, schnell mit dem Computer Daten aufzurufen und abzuspeichern. Das Gericht hat schon deutliche Bedenken, ob ein blinder Mitarbeiter grundsätzlich fähig ist, der Geschwindigkeit eines Telefonats entsprechend und parallel zu diesem mit dem PC zu arbeiten. Nicht nachvollziehbar ist für das Gericht zudem – die erforderliche Arbeitsgeschwindigkeit grundsätzlich unterstellt -, wie ein erblindeter Mitarbeiter in einem Call-Center dies ohne für das Telefonat störende akustische Signale bewältigen soll.

Darüber hinaus hält das Gericht die von Herrn D. geschilderten Umsetzungsprobleme für nachvollziehbar und plausibel. Ein nahezu blinder Mitarbeiter kann sich die in einem Call-Center übliche Software, die zu nutzenden Masken und die anzuwendenden Gesprächsleitfäden durch die übliche visuelle Wahrnehmung nicht erschließen. Da die Eingabemasken und die Gesprächsleitfäden jeweils von dem aktuellen Auftrag abhängen, werden diese häufig wechseln, sodass nicht nur mit einer einmaligen deutlich verlängerten Einarbeitungszeit, sondern mit einem regelmäßigen verlängerten Einarbeiten zu rechnen ist. Anders als ihre sehenden Kollegen können sich blinde Menschen die eingesetzte Software nicht intuitiv anhand der grafischen Benutzeroberfläche erschließen. Darüber hinaus sind blinde Menschen in Abhängigkeit von der jeweiligen Arbeitsaufgabe gezwungen, andere Arbeitstechniken und –abläufe anzuwenden, als ihre sehenden Kollegen. Ihre Kollegen können einem erblindeten Mitarbeiter somit nur sehr begrenzt helfen. Diesbezüglich sieht die Kammer auch in der von Seiten der Bundesagentur für Arbeit erwähnten Fluktuation ein Problem für blinde Call-Centermitarbeiter. Es fehlt in diesem Arbeitsumfeld an Strukturen langfristiger Zusammenarbeit, in deren Rahmen sehende Kollegen den Umgang mit und die Unterstützung des blinden Kollegens erlernen könnten. Letztlich geht das Gericht davon aus, dass in einem Call-Center die PC-Arbeitsplätze der Mitarbeiter im Regelfall wechseln und die Mitarbeiter sich bei Arbeitsantritt jeweils durch ihre Mitarbeiterkennung am PC anmelden. Auch dies wäre für einen erblindeten Mitarbeiter schon angesichts der Notwendigkeit spezieller Software und Technik nicht möglich.

Insgesamt fehlt der Kammer die Vorstellung, dass ein blinder Mensch selbst bei entsprechender Ausbildung und technischer Unterstützung in der Lage sein soll, parallel zu einem Telefonat – d.h. in Sprechgeschwindigkeit und ohne Ablenkung durch oder den Gesprächspartner störende akustische Signale – Daten sicher in wechselnde PC-Masken einzugeben. Selbst wenn man dies jedoch unterstellen würde, stellt sich die Einstellung eines solchen Mitarbeiters für den Arbeitgeber als ausgesprochen unwirtschaftlich da. Der Arbeitgeber müsste einem blinden Mitarbeiter einen für diesen speziell ausgerüsteten PC-Arbeitsplatz zur Verfügung stellen und in Kauf nehmen, dass der Mitarbeiter bei jedem neuen Auftrag erhebliche Zeit für eine erneute Einarbeitung in Maskenanwendung und Gesprächsleitfaden benötigt. Es mag sein, dass vereinzelt auch für schwer sehbehinderte Menschen Arbeitsplätze in Call- und Servicecenter zur Verfügung stehen, diese Arbeitsplätze dürften nach Überzeugung der Kammer jedoch nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, konkret der üblichen Arbeitsbedingungen in Call- und Servicecentern entsprechen. Darüber hinaus ist dem Gericht auch nicht ersichtlich, welche anderweitige Erwerbstätigkeiten dem Kläger ohne Berufsausbildung eine Sicherung seines Unterhaltes ermöglichen könnte (ausführlich zum Thematik der Erwerbsmöglichkeiten von sehbehinderten Menschen vgl. LSG Baden-Württemberg Urteil vom 28.06.2012, AZ.: L 13 KR 1810/11).

Unberücksichtigt gelassen hat das Gericht das Argument des Klägers, er sei durch sein Studium an der Aufnahme einer Tätigkeit gehindert. Das Studium des Klägers ist nach Auffassung des Gerichtes im Rahmen des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V nicht zu berücksichtigen. Entscheidend ist die Ausbildung des Klägers nur insoweit, als eine abgeschlossene Berufsausbildung - welcher Art auch immer - die Chancen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und damit die Chance seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sicher zu stellen deutlich erhöhen dürfte. Soweit Herr D. zudem auf die eingeschränkte Mobilität von Blinden hingewiesen hat, so sieht das Gericht den Kläger auch dadurch nicht an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gehindert; die Bundesagentur für Arbeit hat auf verschiedene Förderleistungen wie etwa auch Fahrdienstleistungen hingewiesen.

Das Gericht sieht zur Zeit keinerlei Möglichkeit für den Kläger, seinen Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit sicher zu stellen. Dabei kann nach Auffassung des Gerichts vorliegend dahinstehen, ob im Rahmen des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V auch das Tatbestandsmerkmal "auf nicht absehbare Zeit" des § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VI zu beachten ist. "Auf nicht absehbare Zeit" wird im Rahmen des § 43 SGB VI mit Blick auf § 101 SGB VI als ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten definiert. Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Kläger auch innerhalb von 6 Monaten nicht in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sicherzustellen. Dass der Kläger zwischenzeitlich aus der Familienversicherung ausgeschieden war, hält das Gericht für unschädlich. Die altersunabhängige Familienversicherung wird durch eine (vorrangige) anderweitige Versicherung nur für deren Dauer überlagert und nicht endgültig beendet (vgl. BSG Urteil vom 18.05.2004, Az.: B 1 KR 24/02 R).

Der Kläger ist dementsprechend wie von ihm beantragt rückwirkend zum 01.02.2013 von der Beklagten über das Stammrecht des beigeladenen Vaters zu versichern. Bezüglich der beantragten Rückwirkung der Änderung des Versicherungsverhältnisses zum 01.02.2013 hat das Gericht mit Blick auf das Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs keinerlei Bedenken. Angesichts der konkreten Situation des Klägers seit 2010 – nahezu erblindeter Versicherter ohne Arbeitseinkommen - wäre es auf Seiten der Beklagten geboten gewesen, den Kläger auf die Möglichkeit einer Familienversicherung entsprechend § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V hinzuweisen. Die Beklagte ist dieser Pflicht nicht nachgekommen, weswegen sich der Kläger in der darauffolgenden Zeit als Student versicherte und entsprechende Beiträge entrichtete. Jedenfalls für den vorliegend begehrten Zeitraum – rückwirkend ab 01.02.2013 – sieht das Gericht die Beklagte in der Verpflichtung, das Versicherungsverhältnis in die begehrte Familienversicherung umzuwandeln.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved