S 1 KR 35/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 1 KR 35/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 371/16
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 21.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.1.2013 die Kosten einer stationären Krankenhausbehandlung zur Liposuktion der Oberschenkel und Oberarme zu übernehmen.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten steht die stationäre Durchführung einer Liposuktion (Fettabsaugung) im Streit.

Die im Jahre 1972 geborene Klägerin beantragte am 22.8.2012 die Durchführung einer Liposuktion. Sie führte zur Begründung aus, dass es sich bei ihr um ein Lipödem handele, das genetisch bedingt sei. Diäten seien bisher zwecklos gewesen. Die Kompressionsstrümpfe, die erhebliche Kosten verursachten, würden keinen Erfolg bringen. Sie fügte ein Attest des Angiologen Dr. W. vom 8.5.2012 bei, der ausführte, dass kein gefäßpathologischer Befund vorliege, sondern ein massives Lipödem an Unter- und Oberschenkel. Die Klägerin wog zum damaligen Zeitpunkt bei einer Körpergröße von 1,61 Meter 118 Kilogramm. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK ein. Dieser führte aus, dass die Klägerin einen Body-Mass-Index (BMI) von 45,9 kg/m² aufweise. Sie müsse erst 30 Kilogramm abnehmen, ansonsten sei mit Wundheilungsstörungen oder postoperativen Formdefiziten zu rechnen.

Mit Bescheid vom 21.9.2012 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab und führte aus, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nicht vorlägen. Dem widersprach die Klägerin am 23.10.2012 und führte aus, dass es sich nicht um eine Schönheitsoperation handele, sondern sie eine Verbesserung der Schmerzsituation erreichen wolle. Es liege eine Fettverteilungserkrankung vor. Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme des MDK ein, der ausführte, dass die Klägerin unter einer extremen Adipositas (Übergewicht) leide. Es bestehe ein Lipödem an den Oberarmen und Oberschenkeln. Es sei ein BMI von 30 kg/m² anzustreben. Mit Bescheid vom 21.1.2013 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch zurück.

Hiergegen richtet sich die am 7.2.2013 bei dem Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Klage. Die Klägerin führt aus, dass sie keine ambulante, sondern eine stationäre Krankenhausbehandlung begehre. Es lägen massive Schmerzschübe vor. Zudem habe sie nunmehr die Empfehlungen des MDK umgesetzt und sich am 17.4.2015 einer Magenverkleinerungsoperation (Schlauchmagen) unterzogen. Wenn die Beklagte diese Operation bezahle, habe sie selber anerkannt, dass sie, die Klägerin, alle Möglichkeiten zur Gewichts- und Schmerzreduktion ausgeschöpft habe. Bei einem Körpergewicht von nunmehr unter 70 Kilogramm und somit einem BMI von 27 kg/m² seien die Forderungen des MDK nunmehr umgesetzt. Im Übrigen hätten beide Sachverständigen die Durchführung der Maßnahme befürwortet. Schließlich habe der Gesetzgeber in § 137 c Abs. 3 SGB V nunmehr eine Regelung geschaffen, die es ermögliche, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung auch Behandlungsmethoden anzuwenden, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) weder abgelehnt noch explizit befürwortet worden seien. Die Maßnahme sei auch wirtschaftlich, da die Beklagte die Kosten für die teuren Kompressionsstrümpfe zukünftig spare.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 21.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.1.2013 die Kosten einer stationären Krankenhausbehandlung zur Liposuktion der Oberschenkel und Oberarme zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte führt aus, dass bisher -bis auf einzelne Ausnahmen- die Sozialgerichte eine Liposuktion als Kassenleistung abgelehnt hätten. Nach Auffassung des MDK in einer weiter eingeholten Stellungnahme diene die Liposuktion der Massenreduktion. Eine Gesamtausprägung lasse sich durch Gewichtsreduktion verbessern. Darüber hinaus seien die konservativen Maßnahmen zur Behandlung der Liposuktion wie Lymphdrainage oder physikalische Kompressionstherapie nicht ausgeschöpft. Es liege kein Systemversagen vor. Ebenso wenig bestehe eine lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1 a SGB V oder gar ein Seltenheitsfall. Bei stationären Leistungen sei die Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nicht Abrechnungsvoraussetzung. Gleichwohl müsse die Methode zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Angesichts des Umstandes, dass auch nach Durchführung einer Liposuktion Kompressionsstrümpfe getragen werden müssten, sei der positive Effekt der Liposuktion nicht erkennbar.

Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen und auf Antrag der Klägerin ein Gutachten bei Dr. C., Markuskrankenhaus Frankfurt, eingeholt, das dieser am 5.11.2014 erstattet hat. Dr. C. diagnostiziert ein Lipödem und führt aus, dass ein stationärer Aufenthalt nötig sei. Diätetische Maßnahmen seien erfolglos gewesen. Aufgrund des Oberschenkelumfanges seien zudem sportliche Tätigkeiten nicht möglich. Darüber hinaus hat das Gericht von Amts wegen ein Sachverständigengutachten bei Dr. D., Frankfurt, eingeholt, das dieser am 18.1.2016 aufgrund Untersuchung der Klägerin im November 2015 und somit ein halbes Jahr nach der Magenbandoperation erstattet hat. Der Gutachter stellt eine eingeschränkte Beweglichkeit der Hüft- und Schultergelenke fest und führt aus, dass bei Durchführung einer Weichteilsonografie die für ein Lipödem charakteristische milchglasartige Vermehrung erkennbar sei. Er führt aus, dass die Klägerin nach einer Magenbandoperation einen massiven Gewichtsverlust erreicht habe. Unverändert lägen hingegen die typischen krankhaften strukturellen Veränderungen eines Lipödems vor. Der Gutachter führt aus, dass bei operativer Behandlung eine stationäre Behandlung erforderlich sei. Der G-BA habe am 22.5.2014 ein Beratungsverfahren zur operativen Behandlung des Lipödems mittels Fettabsaugung eingeleitet. Bislang sei eine positive Empfehlung nicht ausgesprochen worden. Es bestehe aber wissenschaftlicher Konsens, dass die Ursache dieser Erkrankung unbekannt sei. Die bisherigen Erfahrungen sprächen mehr für einen Erfolg. Es liege ein Systemmangel vor, da bisher keine wirksame Behandlungsalternative gegeben sei. Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die Beklagtenakte Bezug genommen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kostenübernahme einer stationären Liposuktionsbehandlung.

Rechtsgrundlage ist § 27 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in Verbindung mit § 39 SGB V. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst unter anderem die ärztliche Behandlung (§ 28 SGB V) und die Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V). Nach § 39 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Behandlung erforderlich ist und nicht durch teilstationäre, vor-/ und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.

Aufgrund der durchgeführten Beweiserhebung steht für das Gericht fest, dass bei der Klägerin eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt, die durch die von ihr gewünschte Liposuktion zu behandeln ist.

Bei der Klägerin besteht eine behandlungsbedürftige Erkrankung im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Die Klägerin leidet – auch nach massivster Gewichtsreduktion – an einem schmerzhaften und ausgeprägten Lipödem beider Oberarme und Oberschenkel. Dies haben sowohl der behandelnde Angiologe als auch beide Gerichtsgutachter ausdrücklich bestätigt. Im Gegensatz zum Lymphödem, bei dem sich Wasser einlagert, handelt es sich beim Lipödem um eine Ansammlung von Fettgewebe, das zu Schmerzen mit Bewegungseinschränkungen führt. Wie insbesondere der Gerichtsgutachter Dr. D. ausführt, liegt bei der Klägerin ein Lipödem im Stadion III vor. Diese Erkrankung hat Dr. D. im Übrigen nach Durchführung einer Weichteilsonografie, die eine massive Anlagerung von Fettgewebe ergeben hat, nachgewiesen. Der Gutachter stellt im Bereich beider Oberschenkel eine wellige Oberflächenkontur fest mit typischen überhängenden Fett-Hautlappen. Bei der Palpation zeigte das subkutane Fettgewebe eine mittelknotige Textur. Sowohl das Betasten der Ober- wie auch der Unterschenkel wird als sehr schmerzhaft beschrieben. Auch die Oberarme weisen nach den Feststellungen des Gutachters typische Ansammlungen von Subkutan-Fett auf. Die Beweglichkeit der Schultergelenke wird als erheblich eingeschränkt beschrieben. Auch passiv ist das Anheben der extrem schweren Arme nach vorn oder seitlich nicht über die Horizontale möglich.

Die in Rede stehende Behandlung ist auch nicht durch § 137 c SGB V bzw. das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 12 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V ausgeschlossen. Im ambulanten Bereich würde es sich, da die Liposuktion nicht über den "Einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen" (EBM) abrechenbar ist, um eine "neue" Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne von § 135 SGB V handeln, die mangels positiver Entscheidung des G-BA nicht als Kassenleistung erbracht werden könnte. Ausschließlich in diesem Kontext besteht eine Ausnahme vom sog. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt in Fällen des sog. Systemversagens. Danach besteht ohne positive Empfehlung des G-BA ein Leistungsanspruch, wenn die fehlende Anerkennung der Methode auf einem Mangel des gesetzlichen Leistungssystems beruht (Urteil BSG vom 16.09.1997- B 1 KR 28/95 R- juris). Dies ist dann der Fall, wenn die fehlende Anerkennung der Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem G-BA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt wurde. Davon kann angesichts des Umstandes, dass sich der G-BA seit dem 22.5.2014 mit der Thematik Liposuktion befasst, erkennbar nicht ausgegangen werden. Im Übrigen begehrt die Klägerin keine ambulante, sondern eine stationäre Behandlung.

Im stationären Bereich gilt indes grundsätzlich die Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt (§ 137 SGB V). Danach können Innovationen im stationären Bereich so lange zulässigerweise zum Einsatz kommen, bis dies durch ein negatives Votum des G-BA ausgeschlossen wird. Dies soll gewährleisten, dass der medizinische Fortschritt in den Krankenhäusern nicht unterlaufen wird (s. BT-Drucks. 14/1245, S. 90 zu § 137c ).

Dem hatte das Bundessozialgericht indes eine Einschränkung hinzugefügt, indem es geurteilt hat, dass auch im stationären Bereich § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V gelte, wonach Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen müssten (vgl. Urteil des BSG vom 21.03.2013 B 3 KR 2/12 R -juris).

Als Konsequenz auf dieses Urteil wurde durch Gesetz vom 16.7.2015 mit Wirkung ab 23.7.2015 die Regelung des § 137 c Abs. 3 SGB V eingefügt. Dieses sieht nunmehr vor, dass Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der Gemeinsame Bundesausschuss bisher keine Entscheidung nach Absatz 1 getroffen hat, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden dürfen, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Dies gilt sowohl für Methoden, für die noch kein Antrag nach Abs. 1 Satz 1 gestellt wurde, als auch für Methoden, deren Bewertung nach Abs. 1 durch den G-BA noch nicht abgeschlossen ist.

Voraussetzung für eine Anwendung der Behandlungsmethode zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist demnach zunächst, dass die Methode das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet. Somit knüpft die Neuregelung die stationäre Anwendbarkeit von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden explizit an das Vorliegen eines Potentials. Diese Neuregelung wurde nach den Ausführungen im Regierungsentwurf erforderlich, weil die Gesetzesauslegung in der jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. etwa BSG Urteil vom 21.3.2013 a.a.O.) mit dem in § 137 c zum Ausdruck gebrachten Regelungsgehalt in einem Wertungswiderspruch steht (BT-Drucks. 18/4095, 121). Was konkreter unter dem Begriff "Potential" zu verstehen ist, ist bisher nicht eindeutig definiert. Nach Auffassung der Kammer beinhaltet der Potentialbegriff nicht, dass ein vollumfänglicher Nutzennachweis der Behandlung erbracht werden muss. Auf der anderen Seite dürfte eine Methode kein Potential haben, wenn sie erwiesenermaßen schädlich oder unwirksam ist (vgl. auch Deister, "Das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative" in NZS 2016, 328 f.). Nach der Regierungsbegründung, die der G-BA inhaltsgleich in seine Verfahrensordnung übernommen hat, kann sich ein Potential etwa daraus ergeben, dass die Methode aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse mit der Erwartung verbunden ist, dass andere aufwändigere, für den Patienten invasivere oder bei bestimmten Patienten nicht erfolgreiche Methoden ersetzt werden können, die Methode weniger Nebenwirkungen hat, sie eine Optimierung der Behandlung bedeutet oder die Methode in sonstiger Weise eine effektivere Behandlung ermöglichen kann (Deister, a.a.O.). Die Liposuktion wird seit ca. 10 Jahren durchgeführt. Es liegen mehrere kleine Studien vor, die eine positive Wirkung gezeigt haben. Damit bestehen nach Überzeugung des Gerichtes ausreichende Anhaltspunkte für einen möglichen Nutzen der Methode (so auch SG Hamburg, Urteil vom 4.9.2015 in S 33 KR 822/13 -juris-).

Die Voraussetzungen für die Durchführung der Liposuktion sind auch individuell bei der Klägerin gegeben. Das Argument der Beklagten, dass eine Behandlung mit konservativen Methoden weiter zu erfolgen habe, weil die Klägerin erst ihr massives Übergewicht ablegen müsse, ist entfallen, nachdem die Klägerin – mithilfe einer zu Lasten der Beklagten durchgeführten Schlauchmagenoperation- inzwischen massivst ihr Körpergewicht reduziert hat von über 110 Kilo auf nunmehr unter 70 Kilo. Bei einem aktuellen BMI von 27 kg/m² und gleichwohl weiter bestehender Schmerzhaftigkeit ist die Gewichtsreduktion jedenfalls nicht geeignet gewesen, auch zu einer Schmerzreduktion zu führen. Wenn die Beklagte sich zunächst auf die diesbezügliche Stellungnahme des MDK bezieht, darüber hinaus eine Magenverkleinerungs-OP finanziert, dann hingegen ausführt, es sei gleichgültig, ob die Klägerin Gewicht verloren habe oder nicht, da eine Liposuktion weder bei normalgewichtigen noch bei übergewichtigen Versicherten in Frage komme, wirkt dies widersprüchlich und zynisch.

Darüber hinaus sind auch die weiteren Behandlungsmethoden nach Auffassung des Gerichtes erschöpft. Insoweit weist insbesondere der gerichtlicherseits bestellte Sachverständige Dr. D. darauf hin, dass die strukturellen Veränderungen sich unter anderem in abnorm geformten und heterogen vergrößerten Fettzellen darstellen, die in derbe und unregelmäßige Bindegewebssepten eingebettet sind, was die Elastizität des Unterhautgewebes erheblich herabsetzt. Insoweit führen diese Veränderungen nach Ausführungen des Gutachters zu einer zunehmenden Brüchigkeit und Durchlässigkeit der Blut- und Lymphgefäßwände, was wiederum zu ständigen Missempfindungen und Schmerzen auch in Ruhe führt. Die Krankheit ist typischerweise geprägt durch einen disproportionales Volumenplus der Beine und Arme im Vergleich zum Rumpf oder Stamm. Der Gutachter führt aus, dass bei der Klägerin die Untersuchung eine krankhafte Stärke des Unterhautfettgewebes zwischen 3,9 und 4,6 Zentimeter ergeben habe. Die Haut stellte sich als grob deformiert und derb dar. In dem Zusammenhang bleibt festzustellen, dass Dr. D. die Klägerin im November 2015 untersucht hat, als diese bereits ca. 40 kg Körpergewicht abgenommen hatte. Der Gutachter gelangt zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein Lipödem im Stadium III besteht. Er weist darauf hin, dass ein wissenschaftlicher Konsens, was Ursache für die Entstehung dieser Erkrankung ist und welche Therapiemöglichkeiten in Frage kommen, bisher nicht besteht. Konservative Behandlungsmöglichkeiten zur spürbaren Verbesserung der Beschwerden sind nach dem aktuellen wissenschaftlich medizinischen Kenntnisstand nicht verfügbar. Bei einer Vollausprägung des Lipödems im fortgeschrittenen Stadium seien die Möglichkeiten einer Bewegungstherapie vor operativer Entfernung des krankhaften Gewebes äußerst eingeschränkt. Diese Erkrankung habe weder mit falscher Ernährung noch mit Bewegungsmangel zu tun. Die lange Jahre etablierte Meinung, die einzig sinnvolle medizinische Behandlung bestehe in der Kombination aus komplexer physikalischer Entstauungstherapie und Kompressionstherapie, gelte seit Jahren als überholt. Insoweit weist der Gutachter darauf hin, dass die Klägerin nicht unter einem Lymphödem leidet, bei dem sich Wasser ansammelt, sondern unter einem Lipödem, das eine strukturelle Veränderung von Fettgewebe mit entsprechender krankhafter Vermehrung aufweist. Eine Entstauungstherapie ist hingegen lediglich bei Wassereinlagerungen sinnvoll. Zwar ist die Liposuktion als Behandlungsmethode nicht anerkannt, gleichwohl hat der G-BA durch Beschluss vom 22.5.2014 entschieden, sich dieser Behandlungsmethode wissenschaftlich zu widmen.

Durch die Regelung des § 137 c Abs. 3 SGB V soll der Wirksamkeitsnachweis im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB V gerade nicht mehr erforderlich sein, sondern für innovative Methoden im Rahmen der Krankenhausbehandlung eine Absenkung des Evidenzniveaus erfolgen mit dem Ziel, den typischerweise schwerer erkrankten Versicherten in der stationären Versorgung mit besonderem Bedarf nach innovativen Behandlungsalternativen vielversprechender Heilungs- und Behandlungschancen weiterhin zeitnah auch außerhalb von Studien zu gewähren, auch wenn deren Nutzen noch nicht auf hohem Evidenzlevel belegt ist (vgl. BT-Drucks. 18/5123, Seite 135).

Insoweit ist das Gericht auch entgegen der Beklagten der Auffassung, dass sich diese "Innovationen" nicht ausschließlich auf schwerstkranke Versicherte beschränken dürfen. Denn insoweit wurde durch Einfügung von § 2 Abs. 1 a SGB V ausdrücklich geregelt, dass Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Abs. 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen können, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Für diesen Personenkreis ist explizit die Forderung des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V ausgenommen, wonach Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Nach Überzeugung der Kammer würde es keinen Sinn machen, die Regelung des § 137 c Abs. 3 SGB V einzufügen, wenn der Gesetzgeber tatsächlich ausschließlich diesen Personenkreis hätte privilegieren wollen.

Dies bedeutet hingegen nicht, dass die in § 137 c Abs. 1 SGB V – im Gegensatz zu § 135 Abs. 1 SGB V – gewählte Regelungstechnik der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt nun ausgehebelt würde insofern, als dass auch im Rahmen einer Krankenhausbehandlung fragwürdige Leistungen zu Lasten der GKV erbracht werden könnten. Denn die Regelung des § 137 Abs. 3 SGB V sieht darüber hinaus vor, dass die Anwendung der Methode nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Die konkrete Behandlung muss also nach fachgerechter ärztlicher Indikationsstellung medizinisch notwendig gemäß § 39 SGB V sein (vgl. auch Ihle, juris-Pk § 137 c SGB V, Randnr. 45).

Diese Voraussetzungen sind im konkreten Fall gegeben. Vorliegend ist das Gericht der Überzeugung, dass den beiden Gerichtsgutachtern zu folgen ist, wonach bei der Klägerin die Liposuktion im Rahmen einer stationären Behandlung zu erfolgen hat. Dr. D. weist darauf hin, dass die Erkrankung "Lipödem" noch nicht umfassend und erschöpfend aufgeklärt ist, weder hinsichtlich ihrer Entstehung noch hinsichtlich etwaiger Therapiemöglichkeiten. Die Klägerin hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Voraussetzungen, die die Beklagte selbst über den MDK verbreitet hat, zu erfüllen. Sie hat massiv an Gewicht verloren. Gleichwohl bestehen die Fettansammlung und die Schmerzhaftigkeit fort. Die Klägerin trägt Kompressionsstrümpfe und hat etliche Behandlungen erfolglos durchgeführt. Insoweit besteht nach Überzeugung des Gerichts auch eine individuelle Indikation für die Liposuktion. Darüber hinaus haben beide Sachverständige ausgeführt, dass grundsätzlich Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit besteht.

Der Umstand, dass derzeit beim ersten Senat des Bundessozialgerichtes die Rechtsfrage anhängig ist, ob das Qualitätsgebot gemäß § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V bei der Anwendung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im stationären Bereich auch nach der Änderung des § 137 c SGB V gilt (s. anhängige Rechtsfragen BSG, 1. Senat, Az. B 1 KR 13/16 R), war nach Überzeugung des Gerichtes nicht abzuwarten. Denn abgesehen davon, dass sich das Sächsische LSG (Urteil L 1 KR 104/15) als Vorinstanz mit der neuen Gesetzeslage selbst nicht auseinandergesetzt hatte, lag im dort zu entscheidenden Fall bei der Klägerin ein massives Übergewicht und insoweit ein divergierender Sachverhalt vor.

Darüber hinaus ist das Gericht nicht der Auffassung des LSG Chemnitz (a.a.O.), dass ein Auseinanderdriften zwischen ambulanter und stationärer Versorgung mit dem Gleichheitsgrundsatz von Artikel 3 Grundgesetz nicht vereinbar sei. Dafür bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Denn es entspricht der Realität, dass Ansprüche zwischen ambulanter und stationärer Versorgung auseinander fallen. So ist beispielsweise die Behandlung von Prostatakarzinomen mittels Brachytherapie mangels positiver Empfehlung des G-BA nicht im Rahmen ambulanter Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zu erbringen. Allerdings hat der G-BA mit Beschluss vom 19.6.2008 die Entscheidung über die Zulassung für die ambulante Behandlung der Protonentherapie bei Prostatakarzinom bis zum 31.12.2018 ausgesetzt. Gleichwohl kann diese Behandlung auf Kosten der Beklagten in Krankenhäusern stationär erbracht werden. Obgleich auch hier kein allgemein anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse auf Basis evidenzbasierter Medizin vorliegt, ist eine Leistungserbringung im Rahmen stationärer Behandlung möglich. Für das Gericht erschließt sich insoweit nicht, warum dies nicht auch im Fall der Liposuktion gelten soll.

Nach alledem war zu entscheiden wie erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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