L 12 AS 1632/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 1250/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 1632/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts R. vom 16.03.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtlichen Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte die Entscheidungen über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II; Arbeitslosengeld [Alg] II) für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2007 aufheben und die den Klägern für diesen Zeitraum gewährten Leistungen in Höhe von insgesamt 22.411,35 EUR zur Erstattung fordern durfte.

Der am 07.10.1967 in G./Polen geborene Kläger zu 1. zog Ende 1987 als Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland zu. Nach Verbüßung einer längeren Haftstrafe zog er 1999 nach R. und war dort zunächst bei der Firma B. beschäftigt. Seit 2003 war er. arbeitslos. Im Dezember 2003 lernte der Kläger zu 1. seine spätere (zweite) Ehefrau J. K. in Polen kennen. Diese ist die Mutter des am 06.08.1999 geborenen K.K ... Im März 2004 mietete das Paar zunächst eine gemeinsame Wohnung in S./Polen an. Im Sommer 2004 kaufte J.K. dann eine Wohnung in D., wobei auch der Kläger zu 1. ins Grundbuch eingetragen wurde. Seine bisherige Wohnung in R. gab der Kläger zu 1. auf. Am 09.10.2004 heirateten J. K. und der Kläger zu 1. in Polen; am 06.01.2005 wurde das gemeinsame Kind N., die Klägerin zu 2., geboren.

Am 21.09.2004 hatte der Kläger zu 1. beim Beklagten einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gestellt. Bei Antragstellung hatte er angegeben, bei seiner Schwester in der Straße in R. zu wohnen. Der Beklagte bewilligte dem Kläger zu 1. daraufhin Alg II für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2005. Am 20.01.2005 sprach der Kläger zu 1. beim Beklagten vor und beantragte die Gewährung von Leistungen für die gesamte Familie. Dabei gab er unter Vorlage entsprechender Meldebescheinigungen an, die Familie sei zum 20.01.2005 in die Mühlstraße zu seinem Schwager S.umgezogen. Mit Bescheid vom 11.03.2005 bewilligte der Beklagte daraufhin rückwirkend ab 01.01.2005 Alg II für die gesamte Bedarfsgemeinschaft. In der Folge bezog die Bedarfsgemeinschaft ohne Unterbrechung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Am 22.01.2008 wurde das gemeinsame Kind K. geboren, das fortan zur Bedarfsgemeinschaft gehörte und für das der Beklagte ebenfalls Leistungen bewilligte. Ende Juni 2010 trennten sich J. K. und der Kläger zu 1.; das Paar ist zwischenzeitlich geschieden.

Im Jahr 2011 wurde dann gegen den Kläger zu 1. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Sozialleistungsbetruges eröffnet. Mit Anklageschrift vom 19.11.2012 (24 Js 3713/12) erhob die Staatsanwaltschaft T. Anklage und beschuldigte den Kläger zu 1., sich durch die beim Beklagten am 17.11.2006, am 10.05.2007, am 21.05.2007, am 22.11.2007, am 15.05.2008, am 11.11.2008, am 18.05.2009, am 17.11.2009 und am 25.05.2010 gestellten Anträge auf Alg II des Betruges in neun Fällen strafbar gemacht zu haben. Der Kläger zu 1. habe in den Anträgen bewusst wahrheitswidrige Angaben gemacht. Die Familie sei erst am 28.06.2007 von Polen nach Deutschland übergesiedelt. Der Kläger zu 1. habe zudem mit der Vermittlung polnischer Pflegekräfte in Deutschland Einkommen erzielt, dieses gegenüber der Beklagen aber nicht angegeben. Überdies sei die Familie regelmäßig durch den englischen Geschäftsmann C. unterstützt worden; dieser habe im Zeitraum vom 24.10.2007 bis 15.07.2012 Zahlungen in Höhe von insgesamt 165.951,00 EUR an die Familie geleistet. Für die Zeit vor Stellung des Fortzahlungsantrags vom 17.11.2006 wurde das Strafverfahren durch Verfügung des Staatsanwaltschaft vom 19.11.2012 wegen Verjährung eingestellt.

Durch rechtskräftigen Sitzungsstrafbefehl vom 28.01.2013 (7 Ds 24 Js 3713/12) wurde der Kläger zu 1. wegen Betruges in fünf besonders schweren Fällen (betreffend die Leistungsanträge vom 17.11.2006, vom 10.05.2007, vom 21.05.2007, vom 22.11.2007 und vom 15.05.2008) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt; die Strafe wurde für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Im Bewährungsbeschluss wurde dem Kläger aufgegeben, sich um Schadenswiedergutmachung zu bemühen, sobald ein bestandskräftiger Rückforderungsbescheid vorliegt.

Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 17.12.2012 nahm der Beklagte die Entscheidungen vom 10.11.2004, vom 11.03.2005, vom 14.06.2005, vom 07.11.2005, vom 22.12.2005, vom 22.02.2006, vom 05.05.2006, vom 22.09.2006, vom 17.11.2006, vom 15.05.2007 und vom 02.06.2007 über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2007 gegenüber dem Kläger zu 1., gegenüber der Klägerin zu 2. und gegenüber zurück und gegenüber K. K. zurück. Vom Kläger zu 1. forderte der Beklagte die Erstattung von insgesamt 17.047,14 EUR, von der Klägerin zu 2. die Erstattung von insgesamt 5.364,21 EUR. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.04.2013 wies der Beklagte den seitens der Klägers gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch zurück.

Gegen diesen Widerspruchsbescheid haben die Kläger am 05.08.2013 Klage beim Sozialgericht R. erhoben. Zur Begründung haben sie unter Vorlage einer Meldebescheinigung vorgetragen, die Familie habe sich seit Anfang 2005 in Deutschland aufgehalten. Mit Beschluss vom 08.12.2014 hat das SG das Verfahren abgetrennt, soweit sich der angegriffene Bescheid an K. K. richtet. Das abgetrennte Verfahren ist unter dem Aktenzeichen S 7 AS 3203/14 geführt worden. Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Das SG hat die Akten des Strafverfahrens beigezogen und mit Gerichtsbescheid vom 16.03.2015 die Klage abgewiesen. Das Gericht sei davon überzeugt, dass die Kläger ihren gewöhnlichen Aufenthalt während der streitgegenständlichen Zeit nicht in Deutschland, sondern in Polen gehabt hätten.

Gegen diesen ihrem Bevollmächtigten gemäß Empfangsbekenntnis am 17.03.2015 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 15.04.2015 schriftlich beim SG eingelegte Berufung der Kläger. Sie tragen vor, der Kläger zu 1. habe dem Sitzungsstrafbefehl in der Strafverhandlung nur zugestimmt um eine Bewährungsstrafe zu erhalten und die Angelegenheit abzuschließen. Der im Strafverfahren unterstellte Sachverhalt entspreche nicht den Tatsachen. Der Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger zu 1. und seine Familie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der streitgegenständlichen Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2007 nicht in Deutschland, sondern in Polen gehabt hätten. Jedenfalls habe sich der Kläger zu 1. dauerhaft in Deutschland und nicht bei seiner Familie in Polen aufgehalten. Er habe sich in Deutschland regelmäßig auf offene Stellen beworben, beim Jobcenter vorgesprochen und an Maßnahmen teilgenommen. Er sei für das Jobcenter in Deutschland jederzeit erreichbar gewesen.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts R. vom 16.03.2015 und den Bescheid des Beklagten vom 17.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2013 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Bescheide für rechtmäßig und die angegriffene Entscheidung des SG für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Kläger hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist statthaft, da Berufungsausschließungsgründe nicht eingreifen (vgl. §§ 143, 144 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch im Übrigen zulässig; insbesondere wurden die maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) beachtet. Die Berufung ist jedoch unbegründet, das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Gegenstand der (isolierten) Anfechtungsklage ist der Bescheid vom 17.12.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2013, soweit sich dieser an die Kläger richtet. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte die Zurücknahme der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und die Pflicht zur Erstattung von in der Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2007 bezogener Leistungen einschließlich der hierauf entrichteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung verfügt hat. Im Fall des Klägers zu 1. Beläuft sich der Erstattungsbetrag auf 17.047,14 EUR, im Fall der Klägerin zu 2. auf 5.364,21 EUR. Dieser Bescheid erweist sich sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach als rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in subjektiven Rechten.

Verfahrensrechtliche Grundlage für die Zurücknahme sämtlicher den Klägern für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2007 Alg II bewilligenden Bescheide ist § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (in der ab 01.01.2005 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er von Anfang an rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Er darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X u. a. nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2). Das Gleiche gilt, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Nr. 3). Liegen die in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vor, ist dieser nach der zwingenden Vorschrift des § 330 Abs. 2 SGB III auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, ohne dass der Beklagten insoweit ein Ermessen eingeräumt wäre. Diese Vorschrift findet gemäß´§ Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Verfahren nach dem SGB II entsprechende Anwendung.

Alle den Klägern für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2007 Alg II bewilligenden Bescheide waren von Anfang an rechtswidrig; dem Kläger standen für diesen Zeitraum keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu, denn die Kläger hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt während der gesamten streitgegenständlichen Zeit nicht in der Bundesrepublik Deutschland und hatten deshalb keinen Anspruch auf Alg II.

Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (in allen im streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Fassungen der Norm) Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, (2.) erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Nach den §§ 19 ff. SGB erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Alg II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Diese Leistungen sind in § 20 (Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts), § 21 (Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt) und § 22 SGB II (Leistungen für Unterkunft und Heizung) näher ausgestaltet. Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden die Leistungen nach dem SGB II (nur) auf Antrag erbracht; bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirkt der Antrag allerdings auf den Ersten des Monats zurück (§ 37 Abs. 2 SGB II).

Der gewöhnliche Aufenthalt ist gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I dort, wo sich die Person unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen setzt voraus, dass dieser in der Bundesrepublik Deutschland besteht. Zweck dieses gesetzlichen Erfordernisses ist es, den Export von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ins Ausland zu verhindern.

Diese Voraussetzung liegt im Fall der Kläger nicht vor, sie hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt während der streitgegenständlichen Zeit nicht in der Bundesrepublik Deutschland sondern in Polen. Dort hat die gesamte Familie gelebt; dort haben der Kläger zu 1. und seine damalige Ehefrau geheiratet und dort wurde auch die Klägerin zu 2. geboren. Der Sohn der damaligen Ehefrau des Klägers zu 1. K. ging in Polen auch bis zu den Sommerferien 2007 zur Schule. Der Kläger zu 1. hatte bereits vor der ersten Antragstellung im September 2004 seinen vorherigen Wohnsitz in R. aufgegeben und war mit seiner damaligen Freundin und späteren Ehefrau in Polen zusammengezogen. Sie hatten darüber hinaus ein Wohnung gekauft; der Kläger zu 1. wurde auch als Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Dass der Kläger zu 1. hiervon abweichend gegenüber dem Beklagten angegeben hat, mit der gesamten Familie in R. zu wohnen, hat der Kläger im Rahmen des Strafverfahrens auch nicht bestritten und den Sitzungsstrafbefehl vom 28.01.2013 akzeptiert. Im Bewährungsbeschluss ist ihm ausdrücklich auferlegt worden, sich um eine Schadenswiedergutmachung zu bemühen, sobald ein bestandskräftiger Rückforderungsbescheid vorliegt. Den (späteren) Vortrag des Klägers, er habe die Vorwürfe im Rahmen des Strafverfahrens nur eingeräumt um eine Bewährungsstrafe zu erhalten, tatsächlich habe sich die Familie jedoch in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten, wertet der Senat als reine Schutzbehauptung. Auch der Vortrag des Klägers, er habe während der streitgegenständlichen Zeit wiederholt beim Beklagten vorgesprochen, sich um eine Arbeit in Deutschland bemüht und sogar an Maßnahmen des Beklagten teilgenommen, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Es kann dahinstehen, ob dieser Vortrag des Klägers zu 1. zutreffend ist; denn angesichts der familiären Gesamtsituation und der Wohnverhältnisse der Familie kann ausgeschlossen werden, dass der Kläger zu 1. gewillt gewesen ist, einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland mit der erforderlichen Stetigkeit und Regelmäßigkeit zu begründen. Sein Lebensmittelpunkt war während der gesamten streitgegenständlichen Zeit in Polen und sollte dort auch bleiben. Die gelegentlichen Vorsprachen beim Beklagten in Deutschland dienten vielmehr nur dem Zweck, hier unrechtmäßig Leistungen nach dem SGB II zu beziehen.

Der Beklagte war auch berechtigt, die Bewilligungsentscheidungen mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben (vgl. § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Die Bewilligungsbescheide beruhten alle auf Angaben, die der Kläger zu 1. vorsätzlich, mindestens aber grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Dessen Verschulden ist der Klägerin zu 2. in entsprechender Anwendung des § 278 Bürgerliches Gesetzbuch zuzurechnen. Der Kläger zu 1. hat in allen Anträgen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Angaben zum gewöhnlichen Aufenthalt der Familie gemacht, die objektiv falsch waren. Durch diese unrichtigen Angaben hat er die Rechtswidrigkeit der hierauf gestützten Bewilligungsentscheidungen zumindest billigend in Kauf genommen, denn ihm war bekannt, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur erhält, wer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Auf dieses Erfordernis wird in dem Merkblatt für Grundsicherungsempfänger, das auch der Kläger zu 1. bei der ersten Antragstellung erhalten hat ausdrücklich hingewiesen. Zur Überzeugung des Senats wusste dies auch der Kläger. In jedem Fall ist das Verhalten des Klägers aber grob fahrlässig gewesen. Grobe Fahrlässigkeit setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, d. h. eine schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich überschreitet; es müssen schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt, also nicht beachtet worden sein, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (vgl. Bundessozialgericht [BSG] BSGE 42, 184, 187; BSG SozR 4100 § 152 Nr. 10). Insoweit ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Betroffenen sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; vgl. BSGE 44, 264, 273). Vorliegend findet sich zunächst keinerlei Anhalt, dass die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Klägers eingeschränkt war. Auch die Fragestellung in den Anträgen auf Alg II waren vollkommen eindeutig und klar. Dass die falschen Angaben zum gewöhnlichen Aufenthalt der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu den fehlerhaften Bewilligungen beigetragen haben und diese darauf beruhen, kann ebenfalls nicht zweifelhaft sein und steht fest (zu diesem Erfordernis vgl. BSG, Urteil vom 14.02.1989 - 7 RAr 62/87 - in DBlR 3498a AFG/§ 137; BSG SozR 3-5425 § 25 Nr. 15). Die Rücknahme ist auch unter Einhaltung der Frist von zehn Jahren seit Bekanntgabe der Bewilligungsentscheidungen verfügt worden (vgl. § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X). Ebenfalls eingehalten ist die Einjahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, nachdem der Sachverhalt erst durch die Strafverhandlung am 28.01.2013 abschließend geklärt worden und der Rücknahme- und Erstattungsbescheid – nach vorheriger Anhörung des Klägers bereits zuvor am 17.12.2012 ergangen ist.

Die Erstattungspflicht folgt dem Umfang der Aufhebung des Alg II gemäß § 50 Abs. 1 SGB X nach. Den Umfang der zu erstattenden Leistungen hat die Beklagte zutreffend ermittelt; der Senat nimmt insoweit auf die in der Leistungsakte der Beklagten enthaltenen Berechnungen Bezug und macht sich diese aufgrund eigener Überzeugungsbildung zu eigen. Die von den Klägern zu leistende Erstattung der vom Beklagten gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ergibt sich mangels weiterer Krankenversicherungsverhältnisse aus § 40 Abs. 2 Nr. 5 SGB II in Verbindung mit § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III und ist in der Höhe ebenfalls nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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