L 3 SB 19/16

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 12 SB 515/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 SB 19/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Mai 2016 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstat-ten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung des Merkzeichens RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. ab 1.1.2013 Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht) als Nachteilsausgleich an die Klägerin.

Die am xxxxx 1932 geborene Klägerin beantragte zuletzt am 21. August 2012 im Rahmen der Neufeststellung ihres Grades der Behinderung (GdB) nach mehrmaligem Scheitern dieses Antrages erneut u.a. die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Zu diesem Zeitpunkt war ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 ohne Merkzeichen festgestellt.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Januar 2013 ab. Auch die Voraus-setzungen für die beantragten Merkzeichen seien nicht erfüllt. Ihren dagegen gerichteten Widerspruch (Schreiben vom 29. Januar 2013; Eingang bei der Beklagten am 4. Februar 2013) beschränkte die Klägerin auf die Ablehnung des Merkzei-chens RF. Wegen ihrer seit über 10 Jahren bestehenden Harninkontinenz und der jetzt hin-zugetretenen Stuhlinkontinenz könne sie keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen. Zur Unterstützung ihres Vorbringens reichte sie das ärztliche Attest des Urologen Dr. K. vom 5. Februar 2013 ein, welches das Vorliegen einer Urininkontinenz bestätigte. Mit Wider-spruchsbescheid vom 20. Februar 2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Am 6. März 2013 ist die hiergegen erhobene Klage der Klägerin bei Gericht eingegangen. Neben ihrer sonstigen körperlichen Einschränkungen könne sie aufgrund der Inkontinenz nicht mehr am Leben in der Öffentlichkeit teilnehmen. Daran hindere sie auch der Scham und die Belästigung anderer Menschen durch störende Gerüche. Außerdem liege eine starke Hörbehinderung vor.

Nach Einholung eines Entlassungsberichtes über einen Klinikaufenthalt der Klägerin vom 10. September bis 8. Oktober 2013 in B. und von Befundberichten der behan¬delnden Ärzte der Klägerin (Dr. S., Arzt für Orthopädie, Dr. P., Arzt für All¬gemein Medizin, Dr. K., Arzt für Urologie, Dres. H. und R., Ärzte für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde sowie aus der Pulmologisch-Allergologischen Gemeinschaftpra¬xis W., dem Diabeteszentrum H. und dem Zentrum für Gefäßmedi¬zin) sowie richterlichem Hinweis des erstinstanzlichen Gerichts, dass wegen der fehlenden Erfolgsaussicht der Klage kein Gutachten eingeholt werde, hat die Klägerin ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Arzt für Urologie Dr. K1 in S1 beantragt. Nach Untersuchung der Klägerin am 21. April 2015 in H1 hat der Sachverständige Dr. K1 in seinem Gutachten vom 8. Juni 2015 als Ergebnis seiner Be-gutachtung formuliert, es liege eine starke Harninkontinenz mit ausgeprägten sozialen Fol¬gen vor. Allein wegen der Harnblase sei ein GdB von 70 gerechtfertigt.

Mit Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 2015 hat daraufhin die Beklagte einen Ge¬samt-GdB von 100 ab 21. April 2015 und das Vorliegen des Merkzeichens G (erhebliche Gehbehinderung) festgestellt. Sie legte dabei folgende Teil-GdB zu Grunde: • Harninkontinenz 70, • Schlaf-Apnoe-Syndrom, Lungenfunktionseinschränkung 40, • Kniegelenksverschleiß beidseits, chronisch venöse Insuffizienz beider Beine 40, • Funktionsstörung beider Hände 20, • Diabetes mellitus 20, • Bluthochdruck 20, • Schwerhörigkeit 20, • Psychische Minderbelastbarkeit 20, • Magen-Darmstörung 10.

Die Klägerin hat weiter die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF seien wegen der ausgeprägten Harninkontinenz erfüllt. Im Termin zur mündlichen Ver-handlung am 25. Mai 2016 hat der Bevollmächtige der Klägerin ein Schreiben der Tochter der Klägerin überreicht, in dem diese die aktuelle Situation der Klägerin schildert.

Mit Urteil vom 25. Mai 2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens RF. Es liege keine so starke Einschränkung der Mobilität der Klägerin vor, dass sie faktisch ans Haus "gebunden" wäre. Auch sei sie nicht aus sonstigen Gründen von der Teilnahme an öffentlichen Veran¬staltungen dauerhaft ausgeschlossen, weil eine Blasenentleerungsstörung mit unkontrollier¬tem Harnabgang kein für die Umgebung unzumutbar abstoßender oder störend wirkender Umstand sei. Dies habe die höchstrichterliche Rechtsprechung entschieden (Urteil des Bun-dessozialgerichts vom 9. August 1995, 9 RVs 3/95, Juris) und dem sei zu folgen, weil die Klägerin Vorlagen benutzen und diese auch selbst wechseln könne. Sollten Vorlagen nicht ausreichen, gebe es die Möglichkeit des Gebrauchs von Windelhosen.

Gegen das am 6. Juni 2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 27.Juni 2016 Berufung eingelegt. Sie habe unter zwei Aspekte Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens RF. Zum einen sei ihre Möglichkeit sich fortzubewegen so eingeschränkt, dass sie auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln öffentliche Veranstal-tung nicht mehr zumutbar besuchen könne, denn sie sei bereits nach 200 Metern atemlos und müsse eine lange Pause einlegen. Im Übrigen könne sie die 3 Etagen in ihre Wohnung nicht mehr ohne fremde Hilfe bewältigen. Zum anderen führe die ausgeprägte Harninkonti¬nenz im Sinne einer Stresssymptomatik dazu, dass ein Vorlagenbedarf von 14 Vorlagen in¬nerhalb von 24 Stunden bestehe und dennoch ein komplettes Einnässen immer wieder vor¬komme. Dies wirke auf die Umwelt unzumutbar abstoßend und störend.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Mai 2016 und den Bescheid der Be-klagten vom 23. Januar 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2013 aufzuheben sowie den Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 2015 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, bei der Klägerin die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und überzeugend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Prozessakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten und die Pro-zessakte des Verfahrens S 29 SB 351/14 ver¬wiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung konnte die Berichterstatterin an Stelle des Senats und im schriftli¬chen Ver-fahren entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 und § 155 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Be¬rufung der Klägerin (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist nicht begründet.

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht die auf Feststellung des Merkzeichens RF gerichtete Klage abgewiesen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht insoweit Bezug auf die Be¬gründung des sozialgerichtlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

Da es sich vorliegend um eine Anfechtungs- und Verpflichtungs- (bzw. Feststellungs-) Klage handelt, gilt die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung. Der bei Antragstellung gültige Rundfunkgebührenstaatsvertrag Hamburg, der in seinem § 6 die Voraussetzungen für eine Gebührenbefreiung natürlicher Personen regelte, war nur bis 31.12.2012 in Kraft. Er wurde abgelöst vom Rundfunkbeitragsstaatsvertrag Hamburg (mit einer in allen Bundeslän-dern identischen Regelung), der für den Personenkreis mit dem Merkzeichen RF lediglich noch eine Ermäßigung auf ein Drittel in seinem § 4 Abs. 2 vorsieht. Die von der Klägerin in der Berufungsbegründung zitierten Voraussetzungen für das Merk-zeichen RF geben den Wortlaut der Nr. 33 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätig-keit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 2007 (AHP 2007) wieder. Die Anhaltspunkte wurden abgelöst von der Anlage Versorgungsmedizi-nische Grundsätze (VG) zur Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV)) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2412) in der Fassung der Änderung durch Artikel 18 Absatz 4 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234). Der Wortlaut der aufgehobenen AHP 2007 kann dieser Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden.

Nach § 4 Abs. 2 Rundfunkbeitragsstaatsvertrag Hamburg (inzwischen in der Fassung der Änderung ab 1. Januar 2017) wird der Rundfunkbeitrag auf Antrag für folgende natürliche Personen auf ein Drittel ermäßigt: 1. blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung, 2. hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verstän-digung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist, und 3. behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenig-stens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Voraussetzungen nur der Nr. 3 dieser Regelung geprüft, denn die anderen Varianten treffen von vornherein nicht zu. Die Nr. 2 scheidet schon deswegen aus, weil es keine ärztliche Bestätigung oder einen Hin-weis in den Unterlagen der behandelnden Ärzte dafür gibt, dass bei der Klägerin ein Hör-schaden vorliegt, der durch ein Hörgerät nicht ausgleichbar ist. So etwas wird im Berufungs-verfahren auch nicht mehr vorgetragen.

Das Sozialgericht hat den Anspruch zutreffend verneint. Auf die Ausführungen unter Hinweis auf entsprechende Rechtsprechung wird verwiesen. Ebenfalls nach Einschätzung des Be-rufungsgerichts ist die Klägerin nicht aufgrund ihrer Harninkontinenz ständig an dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen gehindert. Zwar benötigt sie über den Tag ausweislich des Sachverständigengutachtens bis zu 14 Vorlagen, also durchaus 2-3 während einer über mehrere Stunden dauernden öffentlichen Veranstaltung, jedoch ist nicht ersichtlich, warum sie diese benötigten Hilfsmittel nicht mit sich führen und bei Bedarf erneuern kann. Im Ge-gensatz zu einer bloßen Vorlage bietet eine Windelhose darüber hinaus einen Auslauf¬schutz, so dass sowohl ein Einnässen von Kleidung oder Umgebung als auch eine relevante Geruchsbelästigung vermieden werden. Die Verwendung passender Hilfsmittel ist zumutbar. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dies nicht möglich wäre.

Soweit die Klägerin die Einschränkung ihrer Mobilität als Grund für die Erfüllung der Voraus-setzungen des Merkzeichens RF anführt, ist dem nicht zuzustimmen, denn die Klägerin trägt selbst vor, dass sie mit Hilfe einer Begleitperson und der Einhaltung von Erholungspausen in der Lage ist, öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen. Ebenso führt sie selbst aus, mit Hilfe einer Begleitperson die 3 Etagen zu ihrer Wohnung überwinden zu können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechts-streits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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