Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 45 SB 2950/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 183/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2015 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Mit Bescheid vom 17. September 2003 war bei dem Kläger mit Wirkung ab Juni 2002 ein Grad der Behinderung von 70 und das Merkzeichen G festgestellt worden. Ein Verschlimmerungsantrag im Jahr 2004 betreffend das Merkzeichen aG wurde bestandskräftig abgelehnt.
Am 7. August 2008 stellte der Kläger einen weiteren Verschlimmerungsantrag betreffend das Merkzeichen aG, den der Beklagte mit Bescheid vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. September 2009 ablehnte.
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.
Das Sozialgericht hat das Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. B vom 7. September 2011 eingeholt, die die Voraussetzungen des Merkzeichens aG verneint hat. Auf der Grundlage der gutachterlichen Feststellungen hat der Beklagte mit Bescheid vom 22. Dezember 2011 bei dem Kläger ab Januar 2011 einen Grad der Behinderung von 80 festgestellt.
Ferner hat das Sozialgericht die Gutachten des Facharztes für Orthopädie Prof. Dr. Sp vom 30. Mai 2013 und des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M vom 1. August 2014 mit ergänzender Stellungnahme vom 3. April 2015 eingeholt, die dargelegt haben, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht vorlägen. Auf den Antrag des Klägers hat das Sozialgericht den Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. G, dessen orthopädische Stellungnahme vom 15. September 2014 der Kläger zuvor vorgelegt hatte, in der mündlichen Verhandlung vom 27. Mai 2015 nach § 109 SGG angehört. Hierbei führte Dr. G aus, dass bei dem Kläger auf der Straße Fremdhilfe nötig sei, sobald Hindernisse wie Bürgersteige usw. auftreten würden.
Mit Urteil vom 27. Mai 2015 hat das Sozialgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht erfüllt seien. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 7. April 2016 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 5. Juli 2016 und 10. Oktober 2016. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG nicht für gegeben erachtet. Dem ist der Kläger unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des Facharztes für Orthopädie und Chirurgie Dr. G vom 2. Mai 2016 und 8. August 2016 entgegengetreten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2015 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. September 2009 in der Fassung des Bescheides vom 22. Dezember 2011 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 7. August 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit dem angegriffenen Urteil zu Recht abgewiesen, da die Entscheidung des Beklagten rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
Der Kläger hat auf die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" keinen Anspruch.
Anspruchsgrundlage für die Zuerkennung dieses Merkzeichens ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 11).
Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 (StVO) der Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) vom 22. Oktober 1998, die nach Artikel 84 Abs. 2 Grundgesetz wirksam von der Bundesregierung erlassen wurde (BSG a.a.O., juris Rn. 12). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen
1. Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind - sog Regelbeispiele, die hier nicht vorliegen -, sowie 2. andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind - (vgl. dazu BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R – Juris Rn. 13 m.w.N.) - sog Gleichstellungsfälle-.
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG a.a.O., juris Rn. 13). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen – bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung – ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nicht Behinderten erreichen können (BSG a.a.O. , juris Rn. 13).
Nach § 69 Abs. 4 i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 geltenden alten Fassung (aF) ist seit dem 21. Dezember 2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) Bezug genommen, so dass seit dem 1. Januar 2009 die VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl. I 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R – Juris Rn. 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 15. Januar, 2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks. 18/2953 und 18/3190 S. 5).
Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX aF (hierzu Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (so BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG sowie auf Loytved, jurisPR-SozR 12/2015 Anm. 3). Im Übrigen übernimmt Teil D Nr. 3 lit. b der Anlage zu § 2 VersMedV vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" und verweist in Nr. 3 lit. a insoweit ausdrücklich auf das StVG, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich wird in Teil D Nr. 3 lit. b der Anlage zu § 2 VersMedV ergänzt:
"Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."
Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG, Urteil vom 29. März 2007, a.a.O., juris Rn. 14). Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O., juris Rn. 14).
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 29. März 2007, a.a.O., juris Rn. 17 mit weiteren Nachweisen). Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens aG herleiten (BSG a.a.O., juris, Rn. 19).
Unter Anwendung dieser rechtlichen Kriterien hat das Sozialgericht ausführlich dargelegt, dass der Kläger die Anforderungen an das Merkzeichen "aG" nicht erfüllt, da er noch in der Lage ist, sich ohne fremde Hilfe und ohne große körperliche Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges zu bewegen. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2015 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Die im Berufungsverfahren durchgeführten weiteren Ermittlungen rechtfertigen, auch unter Berücksichtigung der Einwände des Klägers, kein anderes Ergebnis. Der Senat hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass sich der Kläger außerhalb seines Kraftfahrzeuges von den ersten Schritten an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung bewegen kann. Im Gegenteil hat der Sachverständige Dr. S bei der gutachterlichen Untersuchung des Klägers festgestellt, dass während des gesamten Gehtests das Gangbild und die Gangfrequenz völlig gleich blieben. Es zeigten sich weder eine außergewöhnliche Schmerzangabe noch eine Schmerzreaktion; auch traten keine relevante Erschöpfungssymptomatik und keine relevante Luftnot auf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).
Mit Bescheid vom 17. September 2003 war bei dem Kläger mit Wirkung ab Juni 2002 ein Grad der Behinderung von 70 und das Merkzeichen G festgestellt worden. Ein Verschlimmerungsantrag im Jahr 2004 betreffend das Merkzeichen aG wurde bestandskräftig abgelehnt.
Am 7. August 2008 stellte der Kläger einen weiteren Verschlimmerungsantrag betreffend das Merkzeichen aG, den der Beklagte mit Bescheid vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. September 2009 ablehnte.
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.
Das Sozialgericht hat das Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. B vom 7. September 2011 eingeholt, die die Voraussetzungen des Merkzeichens aG verneint hat. Auf der Grundlage der gutachterlichen Feststellungen hat der Beklagte mit Bescheid vom 22. Dezember 2011 bei dem Kläger ab Januar 2011 einen Grad der Behinderung von 80 festgestellt.
Ferner hat das Sozialgericht die Gutachten des Facharztes für Orthopädie Prof. Dr. Sp vom 30. Mai 2013 und des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M vom 1. August 2014 mit ergänzender Stellungnahme vom 3. April 2015 eingeholt, die dargelegt haben, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht vorlägen. Auf den Antrag des Klägers hat das Sozialgericht den Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. G, dessen orthopädische Stellungnahme vom 15. September 2014 der Kläger zuvor vorgelegt hatte, in der mündlichen Verhandlung vom 27. Mai 2015 nach § 109 SGG angehört. Hierbei führte Dr. G aus, dass bei dem Kläger auf der Straße Fremdhilfe nötig sei, sobald Hindernisse wie Bürgersteige usw. auftreten würden.
Mit Urteil vom 27. Mai 2015 hat das Sozialgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht erfüllt seien. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 7. April 2016 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 5. Juli 2016 und 10. Oktober 2016. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG nicht für gegeben erachtet. Dem ist der Kläger unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des Facharztes für Orthopädie und Chirurgie Dr. G vom 2. Mai 2016 und 8. August 2016 entgegengetreten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2015 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 28. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. September 2009 in der Fassung des Bescheides vom 22. Dezember 2011 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 7. August 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit dem angegriffenen Urteil zu Recht abgewiesen, da die Entscheidung des Beklagten rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
Der Kläger hat auf die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" keinen Anspruch.
Anspruchsgrundlage für die Zuerkennung dieses Merkzeichens ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R –, juris Rn. 11).
Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 (StVO) der Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) vom 22. Oktober 1998, die nach Artikel 84 Abs. 2 Grundgesetz wirksam von der Bundesregierung erlassen wurde (BSG a.a.O., juris Rn. 12). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen
1. Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind - sog Regelbeispiele, die hier nicht vorliegen -, sowie 2. andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind - (vgl. dazu BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R – Juris Rn. 13 m.w.N.) - sog Gleichstellungsfälle-.
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG a.a.O., juris Rn. 13). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen – bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung – ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nicht Behinderten erreichen können (BSG a.a.O. , juris Rn. 13).
Nach § 69 Abs. 4 i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 geltenden alten Fassung (aF) ist seit dem 21. Dezember 2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) Bezug genommen, so dass seit dem 1. Januar 2009 die VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl. I 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 SB 3/08 R – Juris Rn. 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 15. Januar, 2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks. 18/2953 und 18/3190 S. 5).
Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX aF (hierzu Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (so BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 19 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG sowie auf Loytved, jurisPR-SozR 12/2015 Anm. 3). Im Übrigen übernimmt Teil D Nr. 3 lit. b der Anlage zu § 2 VersMedV vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" und verweist in Nr. 3 lit. a insoweit ausdrücklich auf das StVG, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich wird in Teil D Nr. 3 lit. b der Anlage zu § 2 VersMedV ergänzt:
"Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."
Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG, Urteil vom 29. März 2007, a.a.O., juris Rn. 14). Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O., juris Rn. 14).
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 29. März 2007, a.a.O., juris Rn. 17 mit weiteren Nachweisen). Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens aG herleiten (BSG a.a.O., juris, Rn. 19).
Unter Anwendung dieser rechtlichen Kriterien hat das Sozialgericht ausführlich dargelegt, dass der Kläger die Anforderungen an das Merkzeichen "aG" nicht erfüllt, da er noch in der Lage ist, sich ohne fremde Hilfe und ohne große körperliche Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges zu bewegen. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2015 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Die im Berufungsverfahren durchgeführten weiteren Ermittlungen rechtfertigen, auch unter Berücksichtigung der Einwände des Klägers, kein anderes Ergebnis. Der Senat hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass sich der Kläger außerhalb seines Kraftfahrzeuges von den ersten Schritten an nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung bewegen kann. Im Gegenteil hat der Sachverständige Dr. S bei der gutachterlichen Untersuchung des Klägers festgestellt, dass während des gesamten Gehtests das Gangbild und die Gangfrequenz völlig gleich blieben. Es zeigten sich weder eine außergewöhnliche Schmerzangabe noch eine Schmerzreaktion; auch traten keine relevante Erschöpfungssymptomatik und keine relevante Luftnot auf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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