L 12 AS 216/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AS 2138/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 216/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 17.12.2014 sowie der Bescheid des Beklagten vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014 aufgehoben.

Der Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid des Beklagten vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014, mit dem der Beklagte eine Ersatzpflicht des Klägers nach § 34 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) festgestellt hat.

Der Kläger (Nachname zeitweise nach Heirat M.) stand in einem Arbeitsverhältnis mit der Firma Autohaus B., U., das der Arbeitgeber am 21.05.2013 fristlos mit sofortiger Wirkung kündigte. Ab 10.06.2013 war der Kläger bei der Firma Autohaus B., Sch., beschäftigt. Mit Schreiben vom 31.07.2013 kündigte der Arbeitgeber dem Kläger "fristlos zum 30.07.2013 in der Probezeit, da Sie unentschuldigt seit 30.07.2013 nicht mehr zur Arbeit erschienen sind". In der Folgezeit war der Kläger bis 22.09.2013 ohne Beschäftigung und war dann, nach einer Probearbeitszeit ohne Entgelt, wieder gegen Entgelt beschäftigt.

Am 08.08.2013 meldete sich der Kläger bei der Agentur für Arbeit (AA) Ulm arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Die AA bejahte dem Grunde nach einen Anspruch auf Alg, stellte aber durch Bescheide vom 30.08.2013 den Eintritt zweier Sperrzeiten fest: zum einen für den Zeitraum vom 22.05.2013 bis 13.08.2013, weil der Kläger durch vertragswidriges Verhalten seine Beschäftigung bei der Firma Autohaus B. verloren habe; zum anderen für den Zeitraum vom 14.08.2013 bis 05.11.2013, weil er durch vertragswidriges Verhalten seine Beschäftigung bei der Firma Autohaus B. verloren habe. Zur Kündigung bei der Firma B. gab der Kläger gegenüber der AA an, die Geschäftsführerin Frau B. habe ihn in Urlaub auf Abruf geschickt, da wenige Aufträge vorhanden gewesen seien; Herr B. habe dies nicht mitbekommen. Einem Aktenvermerk vom 30.08.2013 zufolge stimmte Frau B. bei telefonischer Rückfrage dieser Aussage nicht zu; der Kläger sei zur Arbeit nicht erschienen und sei auch zuhause nicht erreichbar gewesen. Gegen beide Bescheide legte der Kläger keinen Rechtsbehelf ein.

Am 08.08.2013 beantragte der Kläger außerdem Leistungen nach dem SGB II beim Beklagten. Dieser bewilligte mit Bescheid vom 12.08.2013 dem Kläger Leistungen in Höhe von 882,- EUR monatlich für den Zeitraum vom 01.08.2013 bis 31.01.2014.

Durch Bescheid vom 04.09.2013 hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 12.08.2013 ab 01.10.2013 ganz auf, da wegen des Bezugs von Alg Hilfebedürftigkeit entfalle. Mit Schreiben vom 19.09.2013 hörte der Beklagte den Kläger zur Ersatzpflicht gemäß § 34 SGB II an. Nach den vorliegenden Unterlagen habe er durch sein Verhalten die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit nach den Vorschriften des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) erfüllt. Deshalb seien Leistungen (nach dem SGB II) im Zeitraum vom 01.08.2013 bis 30.09.2013 in Höhe von 2.081,08 EUR erbracht worden. Der Kläger äußerte sich dazu nicht.

Am 28.10.2013 zog der Kläger an seinen jetzigen Wohnort F ...

Mit Bescheid vom 27.11.2013 hob der Beklagte den Aufhebungsbescheid vom 04.09.2013 auf. Die Auszahlung der Leistungen für Oktober 2013 sei "heute veranlasst" worden.

Mit Schreiben vom 29.11.2013 hörte der Beklagte den Kläger erneut zur Ersatzpflicht gemäß § 34 SGB II an. Das Schreiben entsprach demjenigen vom 19.09.2013, mit Ausnahme des Hinweises, wegen der Sperrzeit seien im Zeitraum vom 01.08.2013 bis 31.10.2013 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 2.646,- EUR erbracht worden. Auch dazu äußerte sich der Kläger nicht.

Mit Bescheid "über die Ersatzpflicht der Leistungen gemäß § 34 SGB II" vom 03.01.2014 führte der Beklagte aus, der Kläger habe durch sein Verhalten die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllt; auf das Anhörungsschreiben vom 29.11.2013 habe er nicht geantwortet. Er sei zum Ersatz der gezahlten Leistungen verpflichtet (§ 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Umfang und Höhe der zu ersetzenden Leistungen würden in einem gesonderten Bescheid mitgeteilt. Der Kläger legte Widerspruch ein, den er indessen nicht weiter begründete. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.04.2014 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück; es bestünden keine Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit des angegriffenen Bescheids.

Mit Bescheid vom 22.04.2014 nahm der Beklagte Bezug auf den Bescheid vom 03.01.2014. Dem Kläger seien Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 2.646,- EUR gezahlt worden. Diesen Betrag habe der Kläger gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu erstatten. Der Kläger legte Widerspruch ein, den er nicht weiter begründete, vielmehr erklärte er sich mit Blick auf das beim Sozialgericht Freiburg (SG) wegen des Bescheids vom 03.01.2014 und Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014 anhängige Klageverfahren (Az. S 20 AS 2138/14) mit dem Ruhen des Widerspruchsverfahrens einverstanden.

Wegen des Bescheids vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014 hat der Kläger am 05.05.2014 Klage beim SG erhoben. Er hat vorgetragen, er sei bei der Firma Autohaus B. ab 30.07.2013 nicht zur Arbeit erschienen, weil er Urlaub genommen habe; wegen einer Erkrankung des Chefs habe er dies über den Kfz-Meister Jens Fasora geklärt; beide hat der Kläger als Zeugen benannt. In einer vom SG eingeholten schriftlichen Auskunft vom 31.07.2014 hat das Autohaus B. (wohl durch den Inhaber Herrn B.) einen solchen Sachverhalt verneint; der Kläger sei nach dreitägigem unentschuldigtem Fernbleiben fristlos gekündigt worden, einen Urlaubsantrag habe er nicht gestellt, auch nicht bei Herrn Fasora. Durch Gerichtsbescheid vom 17.12.2014 hat das SG die Klage abgewiesen. Das Vorbringen des Klägers sei als reine Schutzbehauptung zu werten. Das ergebe sich aus dem Widerspruch zu seinem früheren Vorbringen gegenüber der AA und den schriftlichen Angaben von Herrn und Frau B ... Bei der hier nicht streitigen Höhe der Rückforderung dürfte allerdings zu berücksichtigen sein, dass der Beklagte dem Kläger noch mit Bescheid vom 27.11.2013 die Leistungen für Oktober 2013 trotz der Kenntnis und der praktisch gleichzeitigen Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs veranlasst habe.

Gegen diesen seinen Bevollmächtigten am 19.12.2014 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 19.01.2015 Berufung eingelegt. Er hält weiterhin an seiner Darstellung fest und beantragt die Vernehmung der beiden benannten Zeugen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 17.12.2014 und den Bescheid des Beklagten vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie den beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und insgesamt zulässig. Sie ist auch in der Sache begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen; der Bescheid vom 03.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014 ist rechtswidrig und daher aufzuheben.

Gemäß § 34 SGB II (in der hier maßgebenden bis 31.07.2016 geltenden Fassung) - Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten - ist zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat (Abs. 1 Satz 1). Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung (Abs. 1 Satz 2). Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde (Abs. 1 Satz 3). Nach Abs. 3 Sätze 1 und 2 erlischt der Ersatzanspruch drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem die Leistung erbracht worden ist; die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten sinngemäß; der Erhebung der Klage steht der Erlass eines Leistungsbescheides gleich.

Die ungeschriebene und eingrenzende Tatbestandsvoraussetzung der Sozialwidrigkeit ist erforderlich, weil es sich bei § 34 SGB II um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Verschuldensgesichtspunkte spielen bei der Feststellung eines Hilfebedarfs keine Rolle. Dieser Grundsatz einer verschuldensunabhängigen Deckung des Existenzminimums darf nicht durch eine weitreichende und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht konterkariert werden. Nach der Rechtsprechung des BSG ist das Tatbestandsmerkmal des "sozialwidrigen Verhaltens" dadurch gekennzeichnet, das nur ein Verhalten umfasst wird und damit sozialwidrig ist, das 1. in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung bzw. den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder der Erwerbsmöglichkeit oder 2. die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit bzw. der Leistungserbringung gerichtet war bzw. hiermit in "inneren Zusammenhang" stand oder 3. ein spezifisches Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligen Verhaltensweisen bestand (BSG, Urteil vom 02.11.2012 - B 4 AS 39/12 R - und vom 16.04.2013 - B 14 AS 55/12 R -, SozR 4-4200 § 34 Nrn. 1 und 2).

Daraus und aus den Sanktionsregelungen in § 31 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 SGB II ergibt sich, dass die Ersatzpflicht noch nicht ohne weiteres dann eintritt, wenn eine Sperrzeit nach dem SGB III eingetreten ist; vielmehr sind die spezifischen Voraussetzungen eines sozialwidrigen Verhaltens - insbesondere die entsprechende Handlungstendenz (vgl. Schwitzky in LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, § 34 Rn. 8) - erforderlich und festzustellen. Bei Beachtung dessen ist zunächst die vom Beklagten durchgeführte Anhörung gemäß § 24 Abs. 1 SGB X nicht ordnungsgemäß erfolgt, da eine Anhörung zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen zu erfolgen hat, der Kläger hier aber ausschließlich darauf hingewiesen wurde, er habe durch sein Verhalten die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllt. Dabei wurde noch nicht einmal zwischen der ersten bis 13.08.2000 reichenden und der zweiten am 14.08.2013 beginnenden Sperrzeit differenziert. Gleiches gilt letztlich für die Begründung des Bescheids vom 03.01.2014 und ebenso des Widerspruchsbescheids vom 01.04.2014; die Begründung erschöpft sich im Hinweis darauf, der Kläger habe durch sein Verhalten die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit erfüllt.

Davon ausgehend spricht einiges dafür, dass der Bescheid vom 03.01.2014 nicht dem Bestimmtheitsgebot des § 33 SGB X entspricht (und allein schon deshalb rechtswidrig ist), zumal praktisch zeitgleich zum (zweiten) Anhörungsschreiben vom 29.11.2013 mit Bescheid vom 27.11.2013 der Aufhebungsbescheid vom 04.09.2013 aufgehoben wurde und der Hinweis erfolgte, es sei die Auszahlung der Leistungen für Oktober 2013 veranlasst worden. Der Bescheid vom 03.01.2014 ist jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil über die Ersatzpflicht nach § 34 SGB II ein Leistungsbescheid zu ergehen hat, dem auch eindeutig die Höhe der Haftungsschuld entnommen werden kann, während die Feststellung einer Ersatzpflicht nur dem Grunde nach - wie hier - nicht möglich ist. § 34 Abs. 3 Satz 2 SGB II setzt ausdrücklich einen solchen Leistungsbescheid voraus, um die Verjährung zu beeinflussen. Das Gesetz geht also von einem Leistungsbescheid aus. Irgend ein Bedürfnis für die Möglichkeit, eine Ersatzpflicht zunächst dem Grunde nach festzustellen, ist nicht erkennbar. Andererseits wäre ein solcher Feststellungsbescheid geeignet, die Rechtsverteidigung des Betroffenen zu beeinträchtigen. Denn der Bescheid könnte bestandskräftig werden, ohne dass sich der Betroffene darüber im Klaren war, wie hoch die ihm drohende Ersatzpflicht ist. Zudem dürfte für die Prüfung einer Härte nach § 34 Abs. 1 Satz 3 (jetzt Abs. 1 Satz 6) jedenfalls im Regelfall die Höhe der Ersatzforderung erheblich sein. § 34 SGB II ermächtigt daher nicht zu seiner Feststellung der Ersatzpflicht (nur) dem Grunde nach (so auch SG Oldenburg, Urteil vom 14.09.2016 - S 47 AS 422/14 -, juris; wohl auch Link in Aicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 34 Rdnr. 56; a. A. Schwitzky a.a.O. § 34 Rn. 37; SG Braunschweig, Urteil vom 23.02.2010 - S 25 AS 1128/08 -, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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