Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 29 U 464/15 WA
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 315/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 29.04.2016 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das beim Sozialgericht Duisburg ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 29 U 334/14 geführte Verfahren fortzusetzen ist. Die weitergehende Berufung wird als unzulässig verworfen. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob das bei dem Sozialgericht Duisburg (SG) geführte Klageverfahren S 29 U 334/14 wirksam beendet worden ist.
Die im Ausgangsverfahren S 29 U 334/14 am 25.07.2014 erhobene Klage richtet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 24.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2014. Der Kläger will dort die Bewilligung einer Rente aufgrund eines Arbeitsunfalls am 06.10.2006 durchsetzen. Hierzu hat er vorgetragen, Knorpelschäden im Innenbereich seines rechten Kniegelenks seien auf diesen Unfall zurückzuführen und eine erneute Untersuchung angeregt. Den vom SG angeforderten Fragebogen zur Person nebst Schweigepflichtentbindung hat der Kläger am 18.08.2014 vorgelegt. Darin hat er unter anderem einen aktuell behandelnden Allgemeinarzt, einen Nephrologen und ein Verfahren nach dem "Schwerbehindertengesetz" mit dem Aktenzeichen S 30 SB 2426/13 angegeben, indem er ärztlich untersucht worden sei. Er hat außerdem das Vorerkrankungsverzeichnis der DAK beigefügt, aus der eine Krankenhausaufnahme am 02.04.2013 in die Orthopädie des St X-Spitals auf Veranlassung des einweisenden Allgemeinmediziners wegen Kniegelenksverletzung und chronischer Nierenkrankheit ersichtlich ist.
Unter dem 20.08.2014 hat das SG Angaben dazu erbeten, ob der Kläger aktuell in orthopädischer Behandlung sei und gegebenenfalls warum nicht. Auf die Erinnerung des SG vom 01.10.2014 hat der seinerzeitige Klägerbevollmächtigte das Mandat niedergelegt und gebeten, mit dem Kläger direkt zu korrespondieren. Unter dem 09.10.2014 hat das SG den Kläger persönlich an die Beantwortung der Anfrage erinnert und um Mitteilung gebeten, ob er einen anderen Anwalt beauftragen werde. Nach erfolgloser Erinnerung am 20.11.2014 hat das SG den Kläger darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eine Klage als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Sollte die Beantwortung der Frage nach der orthopädischen Behandlung und der Prozessführung ohne oder durch einen anderen Prozessbevollmächtigten nicht innerhalb von 3 Monaten ab Zugang dieses Hinweises erfolgen, gelte die Klage als zurückgenommen. Das von der Kammervorsitzenden mit vollem Namen gezeichnete Schreiben ist ausweislich der Postzustellungsurkunde am 15.12.2014 an der Anschrift des Klägers einem erwachsenen Familienangehörigen ("G, M") persönlich übergeben worden. Am 20.03.2015 hat das SG die Streitsache als erledigt ausgetragen.
Am 25.06.2015 hat sich der jetzige Bevollmächtigte für den Kläger bestellt. Der Kläger hat vorgetragen, er habe erst durch Einsichtnahme in die Gerichtsakte von dem Hinweisschreiben des Gerichts erfahren. Eine "M G" gebe es im Haushalt des Klägers nicht. Die Ehefrau des Klägers, Frau M1 G, habe keine Zustellung entgegengenommen. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung hat er vorgelegt. Ihm liege auch keine Mandatskündigung durch den bisherigen Bevollmächtigten vor. Hinzu komme, dass er bereits im Fragebogen mitgeteilt habe, bei welchen Ärzten er in Behandlung sei. Ein Orthopäde werde im Fragebogen nicht erwähnt, weil er nicht von einem Orthopäden behandelt werde. Der Anfrage des SG habe es daher nicht bedurft und sie habe deshalb nicht die Rechtsfolge des §§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG herbeiführen können. Es hätten auch keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 29.04.2016 festgestellt, dass das Verfahren S 29 U 334/14 erledigt sei. Die Betreibensaufforderung sei dem Kläger ordnungsgemäß zugestellt worden, wie sich unzweifelhaft aus der Postzustellungsurkunde ergebe. Zwar sei richtig, dass dem Gericht bereits ein vom Kläger ausgefüllter Fragebogen vorgelegen habe. Darin seien jedoch nur Ärzte benannt, bei denen er aktuell nicht mehr in Behandlung sei oder deren Fachrichtung keinen erkennbaren Bezug zum Streitgegenstand habe. Für Ermittlungen von Amts wegen, ob eine Verschlimmerung tatsächlich vorliege, bzw. welche orthopädischen Gesundheitsstörungen überhaupt vorliegen, benötige das Gericht Auskünfte vom Kläger, bei welchem Orthopäden er in Behandlung sei. Wenn er nunmehr vortrage, nicht in orthopädischer Behandlung zu sein, wäre es wünschenswert gewesen, wenn er dies im laufenden Klageverfahren getan hätte. Das Verfahren sei ausgetragen worden, weil eine Reaktion des Klägers nicht erfolgt sei.
Gegen den ihm am 11.05.2016 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 24.05.2016. Der Kläger trägt vor, er habe die Betreibensaufforderung nicht erhalten. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall seines Rechtsschutzinteresses habe es nicht gegeben. Er habe seit dem Unfallereignis vom 06.10.2006 über viele Jahre hinweg intensiv seine Rechte verfolgt. Er habe am 18.08.2014 ausreichende Unterlagen vorgelegt. Es sei Aufgabe des SG gewesen, einen Befundbericht jedenfalls von dem Hausarzt, Herrn Dr. C, beizuziehen. Dieser sei im Fragebogen vom Kläger angegeben worden und es ergebe sich hieraus auch eindeutig, dass er dort noch in laufender Behandlung sei.
Der Kläger stellt schriftlich den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 24.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2014 zu verpflichten, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 06.10.2006 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 % zu gewähren, hilfsweise den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat zunächst medizinischen Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten und Beiziehung der Akten des parallel vom Kläger betriebenen schwerbehindertenrechtlichen Verfahrens unter Einschluss eines dort mittlerweile vorliegenden orthopädischen Gutachtens. Er hat sodann den Beteiligten mitgeteilt, dass er sich ohne weitere medizinische Ermittlungen nicht in der Lage sehe, eine außergerichtliche Einigung vorzuschlagen. Da der Rechtsstreit in 1. Instanz nicht nach § 102 Abs. 2 SGG beendet worden sei, sei beabsichtigt festzustellen, dass der Rechtsstreit in 1. Instanz fortzusetzen sei. Der Bitte des Senats um Zustimmung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG) und durch den Vorsitzenden allein (§ 155 Abs. 3 SGG) haben die Beteiligten zugestimmt.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann durch den Vorsitzenden allein (§ 155 Abs. 3 SGG) im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG) entscheiden, da die Beteiligten dieser Verfahrensweise zugestimmt haben.
Zulässiger Streitgegenstand ist allein die Frage, ob der Rechtsstreit S 29 U 334/14 erledigt ist. Allein hierüber hat das SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden. Das Landessozialgericht prüft den Streitfall (nur) im gleichen Umfang wie das SG (§ 157 Abs. 1 S. 1 SGG). Der Senat ist deshalb - nachdem sich Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer außergerichtlichen Streitbeilegung nicht ergeben haben - gehindert, eine Sachentscheidung über den insoweit unzulässigen Hauptantrag des Klägers zu treffen.
Damit ist die zunächst im Ergebnis auf Rentengewährung gerichtete Berufung jedoch nicht insgesamt unzulässig, denn der Antrag des Klägers ist interessengerecht auszulegen. Aus dem Vorbringen des Klägers in der Berufungsbegründung - die sich ausdrücklich und zunächst ausschließlich mit der Frage befasst, ob infolge der Betreibensaufforderung des SG die Wirkungen einer fiktiven Klagerücknahme eingetreten waren - und aus seiner Zustimmung zu der vorgeschlagenen Vorgehensweise des Senats, nämlich festzustellen, dass das Verfahren in 1. Instanz nicht erledigt und dort fortzusetzen sei, ergibt sich, dass auch diese Feststellung zumindest hilfsweise vom Berufungsbegehren umfasst ist.
Mit dem so verstandenen Berufungsbegehren ist die auch ansonsten zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung begründet. Eine wirksame fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Kläger ist in der Betreibensaufforderung auf die sich aus S. 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 S. 3 SGG).
Zwar genügt die Betreibensaufforderung des SG den formellen Anforderungen, da sie mit vollem Namen der Kammervorsitzenden unterschrieben ist, die beglaubigte Abschrift dies erkennen lässt und sie (wirksam) zugestellt worden ist (hierzu Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. § 102 Rn. 11). Die Zustellung durch persönliche Übergabe an eine erwachsene Familienangehörige an der Anschrift des Klägers ist dokumentiert durch die Postzustellungsurkunde. Dass als Name der Ehefrau des Klägers "M" statt richtig " M1" notiert wurde, beruht offenbar darauf dass der Name nach Gehör geschrieben wurde und belegt eher, dass dem Zusteller der Name tatsächlich mündlich mitgeteilt wurde.
Jedoch haben die Voraussetzungen für eine Rücknahmefiktion nicht vorgelegen (vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht - BVerfG - Beschluss vom 17.09.2012, 1 BvR 2254/11; LSG NRW, Beschluss vom 29.09.2014, L 19 AS 1532/14 B). Die Rücknahmefiktion greift in das Prozessgrundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Zwar ist dies grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschlüsse vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 und 17. 9. 2012 - aaO.) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Das BVerfG, dem der Senat nach eigener Prüfung folgt, hat zugleich aber betont, dass Vorschriften über eine Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R - mwN.). § 102 Abs. 2 SGG dient nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012, aaO.) § 102 Abs. 2 SGG bezweckt indes nicht, einen Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern dient (nur) der Klärung aufgekommener Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 aaO. juris Rn. 35; LSG NRW Beschluss vom 2. 20.01.2016 - L 19 AS 1863/15 B - juris Rn. 16).
Ausführungen zum Fortbestand des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung (zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts vgl. LSG NRW, Urteil vom 20.04.2011 - L 9 SO 48/09 - juris Rn. 27) enthält der angefochtene Gerichtsbescheid nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt Anhaltspunkte für dessen Wegfall bestanden. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anwaltlich vertreten. Es lag jedoch eine bereits begründete Klage und ein offensichtlich mit der zumutbaren Mühewaltung ausgefüllter Fragebogen zur Person mit Angabe behandelnder Ärzte, verwandter Verwaltungsverfahren und Schweigepflichtentbindung vor. Darin waren - neben vielen anderen - ein (nach dem angegebenen Behandlungszeitraum aktuell, tatsächlich jedoch nur bis 2011) behandelnder Chirurg, der aktuell und weiterhin behandelnde Allgemeinarzt, der behandelnde Nephrologe und ein schwerbehinderten- rechtliches Parallelverfahren vor der 30. Kammer des SG angegeben. Zwar hat der Kläger in der Folge die ihm vom SG konkret gestellten Fragen nach einem aktuell behandelnden Orthopäden und danach, ob er sich künftig selbst vertreten wolle, nicht beantwortet. Die letztgenannte beantwortete sich jedoch von selbst, solange ein neuer Bevollmächtigter sich nicht bestellte. Die Nichtbeantwortung der erstgenannten Frage war jedenfalls nicht im Sinne eines entfallenen Rechtsschutzbedürfnisses verstehbar, da zahlreiche Ermittlungsansätze eröffnet waren und insbesondere die Beiziehung der angebotenen Schwerbehindertenakte ohne weiteres offenbart hätte, dass dort die Frage der Bewertung des Schadens im Kniegelenk ebenfalls im Fokus stand, der Kläger auch dort eine umfassende Ärzteliste mit Schweigepflichtentbindung vorgelegt hatte und das im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung durch das SG dort bereits ein orthopädisches Gutachten in Auftrag gegeben war. Angesichts des vorherigen ausreichenden Betreibens und der aus den Unterlagen ersichtlichen parallelen Rechtsschutzbemühungen lagen demnach keine bestimmten, sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutz- interesses vor (vgl. LSG NRW, Urteil vom 20.04.2011, aaO. Juris Rn. 32).
Mangels Erfüllung der Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in 1. Instanz deshalb nicht nach § 102 Abs. 2 SGG beendet worden und vor dem Sozialgericht fortzusetzen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 10.03.2016, L 6 AS 1546/14; Sächsisches LSG, Urteil vom 28.02.2013 - L 7 AS 523/09 - juris Rn. 27 ff.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 159 Rn. 3b mwN.).
Mit der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 29.04.2016 und der Feststellung, dass das Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht fortzuführen ist, ist der zulässige Streitgegenstand des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits erschöpft. Eine Zurückverweisung an das SG kommt nicht in Betracht und steht deshalb auch nicht im Ermessen des Senats, da die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 29 U464/15 WA zu keinem Zeitpunkt entfallen war, weil eine Erledigung i.S.d. § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten war. Daher hat das Sozialgericht von Amts wegen über das dort durchgehend offen gebliebene Verfahren noch in der Sache zu entscheiden und der Senat ist an einer Entscheidung im Sinne des demnach unzulässigen Hauptantrages gehindert.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des SG im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit ein Zwischenstreit ist (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 28.02.2013, aaO, juris Rn. 30; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2017 - L 18 AS 2584/16 -, juris Rn. 19). Insoweit folgt die Entscheidung über die Kosten der vom Sozialgericht zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache, was im Übrigen auch der Billigkeit entspricht.
Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Tatbestand:
Streitig ist, ob das bei dem Sozialgericht Duisburg (SG) geführte Klageverfahren S 29 U 334/14 wirksam beendet worden ist.
Die im Ausgangsverfahren S 29 U 334/14 am 25.07.2014 erhobene Klage richtet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 24.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2014. Der Kläger will dort die Bewilligung einer Rente aufgrund eines Arbeitsunfalls am 06.10.2006 durchsetzen. Hierzu hat er vorgetragen, Knorpelschäden im Innenbereich seines rechten Kniegelenks seien auf diesen Unfall zurückzuführen und eine erneute Untersuchung angeregt. Den vom SG angeforderten Fragebogen zur Person nebst Schweigepflichtentbindung hat der Kläger am 18.08.2014 vorgelegt. Darin hat er unter anderem einen aktuell behandelnden Allgemeinarzt, einen Nephrologen und ein Verfahren nach dem "Schwerbehindertengesetz" mit dem Aktenzeichen S 30 SB 2426/13 angegeben, indem er ärztlich untersucht worden sei. Er hat außerdem das Vorerkrankungsverzeichnis der DAK beigefügt, aus der eine Krankenhausaufnahme am 02.04.2013 in die Orthopädie des St X-Spitals auf Veranlassung des einweisenden Allgemeinmediziners wegen Kniegelenksverletzung und chronischer Nierenkrankheit ersichtlich ist.
Unter dem 20.08.2014 hat das SG Angaben dazu erbeten, ob der Kläger aktuell in orthopädischer Behandlung sei und gegebenenfalls warum nicht. Auf die Erinnerung des SG vom 01.10.2014 hat der seinerzeitige Klägerbevollmächtigte das Mandat niedergelegt und gebeten, mit dem Kläger direkt zu korrespondieren. Unter dem 09.10.2014 hat das SG den Kläger persönlich an die Beantwortung der Anfrage erinnert und um Mitteilung gebeten, ob er einen anderen Anwalt beauftragen werde. Nach erfolgloser Erinnerung am 20.11.2014 hat das SG den Kläger darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eine Klage als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Sollte die Beantwortung der Frage nach der orthopädischen Behandlung und der Prozessführung ohne oder durch einen anderen Prozessbevollmächtigten nicht innerhalb von 3 Monaten ab Zugang dieses Hinweises erfolgen, gelte die Klage als zurückgenommen. Das von der Kammervorsitzenden mit vollem Namen gezeichnete Schreiben ist ausweislich der Postzustellungsurkunde am 15.12.2014 an der Anschrift des Klägers einem erwachsenen Familienangehörigen ("G, M") persönlich übergeben worden. Am 20.03.2015 hat das SG die Streitsache als erledigt ausgetragen.
Am 25.06.2015 hat sich der jetzige Bevollmächtigte für den Kläger bestellt. Der Kläger hat vorgetragen, er habe erst durch Einsichtnahme in die Gerichtsakte von dem Hinweisschreiben des Gerichts erfahren. Eine "M G" gebe es im Haushalt des Klägers nicht. Die Ehefrau des Klägers, Frau M1 G, habe keine Zustellung entgegengenommen. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung hat er vorgelegt. Ihm liege auch keine Mandatskündigung durch den bisherigen Bevollmächtigten vor. Hinzu komme, dass er bereits im Fragebogen mitgeteilt habe, bei welchen Ärzten er in Behandlung sei. Ein Orthopäde werde im Fragebogen nicht erwähnt, weil er nicht von einem Orthopäden behandelt werde. Der Anfrage des SG habe es daher nicht bedurft und sie habe deshalb nicht die Rechtsfolge des §§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG herbeiführen können. Es hätten auch keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 29.04.2016 festgestellt, dass das Verfahren S 29 U 334/14 erledigt sei. Die Betreibensaufforderung sei dem Kläger ordnungsgemäß zugestellt worden, wie sich unzweifelhaft aus der Postzustellungsurkunde ergebe. Zwar sei richtig, dass dem Gericht bereits ein vom Kläger ausgefüllter Fragebogen vorgelegen habe. Darin seien jedoch nur Ärzte benannt, bei denen er aktuell nicht mehr in Behandlung sei oder deren Fachrichtung keinen erkennbaren Bezug zum Streitgegenstand habe. Für Ermittlungen von Amts wegen, ob eine Verschlimmerung tatsächlich vorliege, bzw. welche orthopädischen Gesundheitsstörungen überhaupt vorliegen, benötige das Gericht Auskünfte vom Kläger, bei welchem Orthopäden er in Behandlung sei. Wenn er nunmehr vortrage, nicht in orthopädischer Behandlung zu sein, wäre es wünschenswert gewesen, wenn er dies im laufenden Klageverfahren getan hätte. Das Verfahren sei ausgetragen worden, weil eine Reaktion des Klägers nicht erfolgt sei.
Gegen den ihm am 11.05.2016 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 24.05.2016. Der Kläger trägt vor, er habe die Betreibensaufforderung nicht erhalten. Sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall seines Rechtsschutzinteresses habe es nicht gegeben. Er habe seit dem Unfallereignis vom 06.10.2006 über viele Jahre hinweg intensiv seine Rechte verfolgt. Er habe am 18.08.2014 ausreichende Unterlagen vorgelegt. Es sei Aufgabe des SG gewesen, einen Befundbericht jedenfalls von dem Hausarzt, Herrn Dr. C, beizuziehen. Dieser sei im Fragebogen vom Kläger angegeben worden und es ergebe sich hieraus auch eindeutig, dass er dort noch in laufender Behandlung sei.
Der Kläger stellt schriftlich den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 24.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2014 zu verpflichten, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 06.10.2006 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 % zu gewähren, hilfsweise den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat zunächst medizinischen Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten und Beiziehung der Akten des parallel vom Kläger betriebenen schwerbehindertenrechtlichen Verfahrens unter Einschluss eines dort mittlerweile vorliegenden orthopädischen Gutachtens. Er hat sodann den Beteiligten mitgeteilt, dass er sich ohne weitere medizinische Ermittlungen nicht in der Lage sehe, eine außergerichtliche Einigung vorzuschlagen. Da der Rechtsstreit in 1. Instanz nicht nach § 102 Abs. 2 SGG beendet worden sei, sei beabsichtigt festzustellen, dass der Rechtsstreit in 1. Instanz fortzusetzen sei. Der Bitte des Senats um Zustimmung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG) und durch den Vorsitzenden allein (§ 155 Abs. 3 SGG) haben die Beteiligten zugestimmt.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann durch den Vorsitzenden allein (§ 155 Abs. 3 SGG) im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG) entscheiden, da die Beteiligten dieser Verfahrensweise zugestimmt haben.
Zulässiger Streitgegenstand ist allein die Frage, ob der Rechtsstreit S 29 U 334/14 erledigt ist. Allein hierüber hat das SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden. Das Landessozialgericht prüft den Streitfall (nur) im gleichen Umfang wie das SG (§ 157 Abs. 1 S. 1 SGG). Der Senat ist deshalb - nachdem sich Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer außergerichtlichen Streitbeilegung nicht ergeben haben - gehindert, eine Sachentscheidung über den insoweit unzulässigen Hauptantrag des Klägers zu treffen.
Damit ist die zunächst im Ergebnis auf Rentengewährung gerichtete Berufung jedoch nicht insgesamt unzulässig, denn der Antrag des Klägers ist interessengerecht auszulegen. Aus dem Vorbringen des Klägers in der Berufungsbegründung - die sich ausdrücklich und zunächst ausschließlich mit der Frage befasst, ob infolge der Betreibensaufforderung des SG die Wirkungen einer fiktiven Klagerücknahme eingetreten waren - und aus seiner Zustimmung zu der vorgeschlagenen Vorgehensweise des Senats, nämlich festzustellen, dass das Verfahren in 1. Instanz nicht erledigt und dort fortzusetzen sei, ergibt sich, dass auch diese Feststellung zumindest hilfsweise vom Berufungsbegehren umfasst ist.
Mit dem so verstandenen Berufungsbegehren ist die auch ansonsten zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung begründet. Eine wirksame fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG). Der Kläger ist in der Betreibensaufforderung auf die sich aus S. 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 S. 3 SGG).
Zwar genügt die Betreibensaufforderung des SG den formellen Anforderungen, da sie mit vollem Namen der Kammervorsitzenden unterschrieben ist, die beglaubigte Abschrift dies erkennen lässt und sie (wirksam) zugestellt worden ist (hierzu Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. § 102 Rn. 11). Die Zustellung durch persönliche Übergabe an eine erwachsene Familienangehörige an der Anschrift des Klägers ist dokumentiert durch die Postzustellungsurkunde. Dass als Name der Ehefrau des Klägers "M" statt richtig " M1" notiert wurde, beruht offenbar darauf dass der Name nach Gehör geschrieben wurde und belegt eher, dass dem Zusteller der Name tatsächlich mündlich mitgeteilt wurde.
Jedoch haben die Voraussetzungen für eine Rücknahmefiktion nicht vorgelegen (vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht - BVerfG - Beschluss vom 17.09.2012, 1 BvR 2254/11; LSG NRW, Beschluss vom 29.09.2014, L 19 AS 1532/14 B). Die Rücknahmefiktion greift in das Prozessgrundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Zwar ist dies grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschlüsse vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 und 17. 9. 2012 - aaO.) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Das BVerfG, dem der Senat nach eigener Prüfung folgt, hat zugleich aber betont, dass Vorschriften über eine Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09 R - mwN.). § 102 Abs. 2 SGG dient nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012, aaO.) § 102 Abs. 2 SGG bezweckt indes nicht, einen Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern dient (nur) der Klärung aufgekommener Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 aaO. juris Rn. 35; LSG NRW Beschluss vom 2. 20.01.2016 - L 19 AS 1863/15 B - juris Rn. 16).
Ausführungen zum Fortbestand des Rechtsschutzinteresses im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung (zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts vgl. LSG NRW, Urteil vom 20.04.2011 - L 9 SO 48/09 - juris Rn. 27) enthält der angefochtene Gerichtsbescheid nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt Anhaltspunkte für dessen Wegfall bestanden. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anwaltlich vertreten. Es lag jedoch eine bereits begründete Klage und ein offensichtlich mit der zumutbaren Mühewaltung ausgefüllter Fragebogen zur Person mit Angabe behandelnder Ärzte, verwandter Verwaltungsverfahren und Schweigepflichtentbindung vor. Darin waren - neben vielen anderen - ein (nach dem angegebenen Behandlungszeitraum aktuell, tatsächlich jedoch nur bis 2011) behandelnder Chirurg, der aktuell und weiterhin behandelnde Allgemeinarzt, der behandelnde Nephrologe und ein schwerbehinderten- rechtliches Parallelverfahren vor der 30. Kammer des SG angegeben. Zwar hat der Kläger in der Folge die ihm vom SG konkret gestellten Fragen nach einem aktuell behandelnden Orthopäden und danach, ob er sich künftig selbst vertreten wolle, nicht beantwortet. Die letztgenannte beantwortete sich jedoch von selbst, solange ein neuer Bevollmächtigter sich nicht bestellte. Die Nichtbeantwortung der erstgenannten Frage war jedenfalls nicht im Sinne eines entfallenen Rechtsschutzbedürfnisses verstehbar, da zahlreiche Ermittlungsansätze eröffnet waren und insbesondere die Beiziehung der angebotenen Schwerbehindertenakte ohne weiteres offenbart hätte, dass dort die Frage der Bewertung des Schadens im Kniegelenk ebenfalls im Fokus stand, der Kläger auch dort eine umfassende Ärzteliste mit Schweigepflichtentbindung vorgelegt hatte und das im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung durch das SG dort bereits ein orthopädisches Gutachten in Auftrag gegeben war. Angesichts des vorherigen ausreichenden Betreibens und der aus den Unterlagen ersichtlichen parallelen Rechtsschutzbemühungen lagen demnach keine bestimmten, sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutz- interesses vor (vgl. LSG NRW, Urteil vom 20.04.2011, aaO. Juris Rn. 32).
Mangels Erfüllung der Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in 1. Instanz deshalb nicht nach § 102 Abs. 2 SGG beendet worden und vor dem Sozialgericht fortzusetzen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 10.03.2016, L 6 AS 1546/14; Sächsisches LSG, Urteil vom 28.02.2013 - L 7 AS 523/09 - juris Rn. 27 ff.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 159 Rn. 3b mwN.).
Mit der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 29.04.2016 und der Feststellung, dass das Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht fortzuführen ist, ist der zulässige Streitgegenstand des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits erschöpft. Eine Zurückverweisung an das SG kommt nicht in Betracht und steht deshalb auch nicht im Ermessen des Senats, da die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 29 U464/15 WA zu keinem Zeitpunkt entfallen war, weil eine Erledigung i.S.d. § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten war. Daher hat das Sozialgericht von Amts wegen über das dort durchgehend offen gebliebene Verfahren noch in der Sache zu entscheiden und der Senat ist an einer Entscheidung im Sinne des demnach unzulässigen Hauptantrages gehindert.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des SG im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit ein Zwischenstreit ist (vgl. Sächsisches LSG, Urteil vom 28.02.2013, aaO, juris Rn. 30; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2017 - L 18 AS 2584/16 -, juris Rn. 19). Insoweit folgt die Entscheidung über die Kosten der vom Sozialgericht zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache, was im Übrigen auch der Billigkeit entspricht.
Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
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