L 8 SB 2009/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SB 972/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 2009/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
für Recht erkannt: Tenor: Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28.01.2016 sowie der Bescheid des Versorgungsamtes K. vom 19.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 16.01.2012 insoweit aufgehoben als die Feststellung des Merkzeichens "aG" für die Zeit vom 07.06.2011 bis zum 26.08.2011 aufgehoben worden ist. Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Der Beklagte erstattet der Klägerin 10 % ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Versorgungsamt K. und der Beklagte berechtigt war, die Feststellung des Merkzeichens "aG" mit Wirkung ab 07.06.2011 aufzuheben.

Die 2004 geborene Klägerin leidet an einem hirnorganischen Anfallsleiden, Entwicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsverzögerung und frühkindlichem Autismus (vgl. versorgungsmedizinische Stellungnahme von Dr. E. , Blatt 74 der Beklagtenakte), weswegen ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Merkzeichen "aG" zuerkannt wurden (Bescheid des Versorgungsamtes K. vom 09.01.2007, Blatt 43/44 der Beklagtenakte). Bereits mit Bescheid vom 12.10.2005 waren die Merkzeichen "G", "B" und "H" festgestellt worden.

Das Versorgungsamt K. leitete mit Schreiben vom 30.05.2011 bzw. 01.06.2011 an die Eltern der Klägerin (Blatt 48, 50, 51 der Beklagtenakte) die Prüfung, ob eine wesentliche Änderung eingetreten sei, ein.

Die Eltern der Klägerin teilten in ihrer Antwort vom 06.06.2011 (Blatt 52/53 der Beklagtenakte) und dem von ihnen vorgelegten Antwortfragebogen (Blatt 54/56 der Beklagtenakte) mit, es sei bei der Klägerin die diagnostische Beeinträchtigung "frühkindlicher Autismus" hinzugekommen, bisher sei die seit Geburt existierende Entwicklungsverzögerung genannt. Bei der Klägerin liege eine starke motorische Unruhe vor, es werde Merkzeichen "RF" beantragt. Seit März 2011 sei Pflegestufe 3 zuerkannt. Außerdem legten die Eltern für die Klägerin ärztliche Unterlagen (Bericht des AutismusTherapieZentrums vom 14.12.2010 (Dipl.Psych. L. , Blatt 57/58 der Beklagtenakte), Berichte des Dr. W. vom 10.08.2010 und 30.11.2010 (Blatt 59/60, 61/62 der Beklagtenakte) und Pflegegutachten des MdK vom 21.03.2011 (Blatt 63/72 der Beklagtenakte), worin ein freies Gehen und Stehen, selbständiges Aufstehen der Klägerin beschrieben wurde) vor.

Der Versorgungsarzt Dr. E. nahm in seiner Stellungnahme vom 30.06.2011 (Blatt 74 der Beklagtenakte) an, der GdB betrage weiterhin 100, die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" lägen aber nicht mehr vor.

Mit Schreiben vom 20.07.2011 (Blatt 75/76 der Beklagtenakte) hörte das Versorgungsamt K. die Klägerin zur Aufhebung des Bescheids vom 09.01.2007 hinsichtlich des Merkzeichens "aG" an.

Die Mutter der Klägerin äußerte sich mit Schreiben vom 09.08.2011 (Blatt 77/78 der Beklagtenakte) und gab an, die Klägerin könne sich außerhalb der Wohnung oder des Autos nicht frei bewegen. Sie sei ständig auf den Reha-Buggy angewiesen. So werde sie, nachdem sie den Autositz verlasse, sofort in den Buggy gesetzt und angeschnallt. Andernfalls würde sie sich losreißen und ohne auf den Verkehr o.ä. zu achten, losrennen. Sie höre nicht auf Rufe, könne nicht sprechen oder verstehen, was man ihr sage. Zielgerichtetes Gehen sei gar nicht möglich, weil keine Orientierungsfähigkeit gegeben sei.

Mit Bescheid vom 19.08.2011 (Blatt 79/82 der Beklagtenakte) stellte das Versorgungsamt K. unter Aufhebung des Bescheids vom 09.01.2007 ab 07.06.2011 u.a. fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht mehr vorliegen.

Hiergegen erhob die Klägerin am 25.08.2011 Widerspruch (Blatt 83/84 der Beklagtenakte), mit dem sie u.a. ausführte, dass neben Wahrnehmungsproblemen und auch Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung vorlägen. Verbunden seien damit Handlungsstörungen, also Schwierigkeiten, konkrete Absichten in Taten umzusetzen. Die Nervenstränge, die zum Gehirn hinleiteten, und die, die von ihm wegleiteten, seien anatomisch nicht getrennt, es lägen in beiden dieselben elektrophysiologischen Verhältnisse für die Reizweiterleitung vor. Dadurch komme es zu Blockaden und Verzerrungen der Wahrnehmung und Handlungsausführung. Es bestehe daher auch eine direkte Auswirkung auf die Gehfähigkeit. Die Klägerin legte ein Attest der Ärztin für Allgemeinmedizin F. vom 24.10.2011 (Blatt 102 der Beklagtenakte) vor.

Nach Umzug der Klägerin nach Stuttgart zum 01.09.2011 und Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme bei Dr. La. vom 05.12.2011 (Blatt 104 der Beklagtenakte) wies der Beklagte durch das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 16.01.2012, Blatt 106/107 der Beklagtenakte).

Hiergegen hat die Klägerin, gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, beim Sozialgericht (SG) Stuttgart Klage erhoben. Unter Wiederholung des Vorbringens aus dem Widerspruchsverfahren hat sie u.a. geltend gemacht, sie sei ständig auf einen Rollstuhl bzw. Reha-Buggy angewiesen. Sollte ein Laufen-Können vorliegen, so könne es nicht im herkömmlichen Sinne, auf welchen es bei den Voraussetzungen des Merkzeichens ankomme, angewendet werden. Sinn und Zweck der Nachteilsausgleiche sei es, diejenigen Nachteile, die durch die Behinderung bestünden, auszugleichen. Menschen, welche sich nicht außerhalb Ihres Kraftfahrzeuges bewegen könnten, solle ermöglicht werden, durch stark verkürzte Wege im Parkraum die Möglichkeit zu haben, am Leben außerhalb ihrer Wohnung teilzunehmen. Sie könne sich außerhalb des PKWs nicht frei bewegen. Sie werde direkt nach dem Aussteigen in den Rollstuhl/Reha-Buggy gesetzt. Ohne den Nachteilsausgleich könnten Unternehmungen außerhalb der Wohnung nicht mehr durchgeführt werden. (Schreiben vom 11.04.2012, Blatt 23/24 der SG-Akte).

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 34/36, 37/39, 40, 41/42 der SG-Akte Bezug genommen.

Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B. hat mit Schreiben vom 02.07.2012 die u.a. ausgeführt, durch die mehrfache schwere Behinderung sei die Klägerin nahezu in allen Belangen auf fremde Hilfe angewiesen. Fortbewegung sei mit großer Anstrengung verbunden. Eine Gleichstellung mit der bekannten Personengruppe aufgrund der Komplexität der Behinderungen werde bejaht.

Die Fachärztin für Allgemeinmedizin F. , hat unter dem Datum des 02.07.2012 mitgeteilt, die Klägerin schmeiße sich beim Gehen nach wenigen Metern hin oder sie reiße sich los und renne orientierungslos herum. Selbst an der Hand sei maximal eine Wegstrecke unter 50 m wegen der hypertonen Muskulatur erzielbar. Ohne fremde Hilfe könne sich die Klägerin gar nicht bewegen, da sie durch das in öffentlichen Räumen vollständig fehlende Orientierungsvermögen und die Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Bewegungsdranges, im Buggy befördert werde. Nach ihrer Einschätzung lägen die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung vor. Die Klägerin sei infolge einer hochgradigen beidseitigen Behinderung an Orientierungsvermögen und Unsteuerbarkeit des Bewegungsdranges von einer verantwortungsbewussten Begleitperson wegen Selbst- oder Fremdgefährdung im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht führbar, sie könne nur noch im Buggy befördert werden.

Der Arzt für Kinderheilkunde, Dr. M. , hat dem SG am 05.07.2012 geschrieben, auf die Gehfähigkeit der Klägerin wirke sich der allgemeine Entwicklungsrückstand mit eingeschränkter Motorik aus sowie der atypische Autismus. Die Gehstrecke betrage etwa 200 Meter bis 300 Meter, sehr viel stärker wiege jedoch die Weglauftendenz, mit dadurch auch in Zusammenhang mit der Epilepsie bestehender Verletzungsgefahrdung, z.B. durch abruptes "auf die Straße laufen" oder auch "Schienenlaufen" sie benötige deshalb ständig einen Buggy, um darin fixiert zu werden. Aufgrund des Autismus benötige die Klägerin ständige, kontinuierliche und intensive Begleitung, d.h., sie könne ohne fremde Hilfe keinen Weg außerhalb des Kraftfahrzeugs zurücklegen. In der Gesamtbeurteilung sollte hierbei weniger auf die körperliche Behinderung, sondern vor allem auf die seelische Behinderung abgehoben werden, dadurch sei die Klägerin praktisch einer nicht gehfähigen Behinderten gleichzustellen.

Dr. W. , ärztlicher Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums der Kliniken der Stadt K. , hat dem SG mit Schreiben vom 19.07.2012 geschrieben, die hypotonataktische Bewegungsstörung habe sich in großen Zügen zurückgebildet und habe keinen erheblichen Einfluss auf die Gehfähigkeit im Sinne der physischen Fortbewegung. Die Klägerin könne sich dennoch nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen. Dies habe nichts mit der Bewegungsstörung im Sinne der Störung der Motorik zu tun. Bei der Klägerin bestünde, wie bei vielen Menschen mit einer autistischen Störung und einer Intelligenzminderung ein völliges Fehlen des Gefahrenbewusstseins. Sie könne nicht und werde voraussichtlich auch auf absehbare Zeit nicht Signale wie Ampeln erkennen und interpretieren können. Sie werde auch die Gefährdung sich herannahender Autos nicht interpretieren und entsprechend handeln können. Insofern sei die Klägerin trotz der für eine Fortbewegung ausreichende Motorik nur mit fremder Hilfe in der Lage, sich im Straßenverkehr zu bewegen. Die Klägerin gehöre nicht zum genannten Personenkreis wie Querschnittsgelähmte etc. Eine Gleichstellung sei jedoch aufgrund der genannten Einschränkungen der Gefahrenerkennung und Impulskontrolle angemessen.

Das SG hat mit Urteil vom 28.01.2016 die Klage abgewiesen. Der Entzug des Merkzeichens "aG" sei zutreffend erfolgt, denn die maßgeblichen Bewertungen seien nach dem Verständnis der gefestigten Rechtsprechung auch durch die im gerichtlichen Verfahren eingeholten medizinischen Unterlagen nicht erschüttert worden.

Gegen das ihrer Bevollmächtigten am 04.05.2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 31.05.2016 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Bei der Prüfung der Gleichstellung mit den katalogartig aufgezählten Fällen der "aG"-Berechtigung sei der Gesetzeszweck zu beachten. Erst durch die Vermeidung längerer Fußwege werde dem außergewöhnlich gehbehinderten Menschen das Erreichen vieler öffentlicher und medizinischer Einrichtungen überhaupt erst ermöglicht. Zutreffend gehöre sie auch nicht ausdrücklich zu dem in den VG Teil D genannten Personenkreis. Sie müssen diesem nach dem Gesetzeszweck aber gleichgestellt werden. Sie verfüge grds. über ein funktionales "Gehwerkzeug", die das Gehen - rein von der Gelenkmechanik her - möglich mache. Der Gebrauch der Beine sei jedoch durch die schwere cerebrale Störung und einer retardierten Muskulatur mit kombinierter Koordinationsstörung sowie einer frühkindlichen Autismus-Spektrum-Störung stark eingeschränkt. Die ausgeprägte cerebrale Schädigung führe ferner zu einer Einschränkung des Gleichgewichts und der Koordination sowie des Erkennens von Situationen oder Gefahren. Die Steuerungsfähigkeit sei stark gestört. Es bestünden Wahrnehmungsstörungen und Störungen der Wahrnehmungsverarbeitung, die zu Handlungsstörungen, also die Umsetzung konkrete Absichten in Taten umzusetzen, führten. Nach der Rechtsprechung des BSG lasse sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugten grds. dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellten nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs zumutbar noch bewegen könne, sondern allein darauf, unter welchen Bedingungen dies noch möglich sei, nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb des Kraftfahrzeugs erfülle, qualifiziere sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise auch längere Wegstrecken zurücklege. Gerade bei ihrer vielschichtigen Mehrfachbehinderung liege ohnehin auf der Hand, dass allein das Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermögliche. Sie müsse zur Vermeidung von Eigen- und Fremdgefährdung direkt aus dem Auto ("ab dem ersten Schritt") immer und ohne Ausnahme in einen Rollstuhl gesetzt und festgeschnallt werden, da weder die Mutter noch der Vater in der Lage seien, sie festzuhalten, wenn sie sich losreiße. Ebenso wenig könnten die Eltern verhindern, dass sie autoaggressive Anfälle durchlebe bzw. sich in den Verkehr oder auf dem Weg gelegene Untiefen stürze. Vorsorglich werde auf das Urteil des BSG vom 11.08.2015 (B 9 SB 1/14 R) hingewiesen, welches erstmals anerkannt habe, dass auch psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen könnten, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen seien. Bewerte man die bisherige Rechtsprechung zu Fällen wie dem vorliegenden im Lichte der jüngst ergangenen Rechtsprechung des BSG sei eine Änderung der Rechtsprechungspraxis angezeigt.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28.01.2016 sowie den Bescheid des Versorgungsamts K. vom 19.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 16.01.2012 aufzuheben

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Er hat u.a. ausgeführt, der vorliegende medizinische Sachverhalt sei zutreffend gewürdigt. Sachargumente, die eine abweichende Beurteilung begründen könnten, seien auch der Berufungsschrift nicht zu entnehmen. Die medizinischen Voraussetzungen für die weitere Zuerkennung des Merkzeichens "aG", insbesondere im Hinblick auf das Vermögen der Klägerin 200 bis 300 m zu gehen und auch frei Gehen und Stehen zu können, lägen nicht mehr vor.

Die Sach- und Rechtslage wurde mit den Beteiligten in einem nichtöffentlichen Termin am 07.10.2016 erörtert. Wegen des Inhalts und Ergebnisses des Termins wird auf die Niederschrift (Blatt 30/32 der Senatsakte) Bezug genommen.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 08.11.2016 (Blatt 34/35 der Senatsakte) ausgeführt, aus den anamnestischen Angaben im Bericht der Kliniken der Stadt K. vom 30.11.2010 gehe nunmehr hervor, dass die Gehstrecke jetzt 200 bis 300 m betrage, also selbständiges Gehen möglich sei. Auch aus dem Pflegegutachten vom 21.03.2011 gehe hervor, dass die Klägerin frei gehen und stehen könne und auch aufstehen selbständig möglich sei, nur zum Treppe Steigen sei Hilfe erforderlich. Damit sei zweifelsfrei hinsichtlich der Möglichkeit des selbständigen Gehens eine wesentliche Änderung eingetreten. Die Voraussetzungen zur weiteren Feststellung von "aG" lägen nicht mehr vor.

Die Klägerin hat mit Schreiben vom 28.12.2016 (Blatt 37/39 der Senatsakte) nunmehr ausgeführt, es sei festzustellen, dass selbständiges Laufen und freies Gehen ohne Führung bei ihr nach wie vor nicht möglich sei. Sie sei vielmehr ständig auf einen Rollstuhl angewiesen, der aus diesem Grund auch ärztlich verordnet sei. Den anamnestischen Angaben der Kliniken der Stadt K. gGmbH vom 30.11.2010 lasse sich gerade nicht entnehmen, dass selbständiges Gehen möglich sei. Die Klinik stelle zwar unzutreffend fest, dass eine Gehstrecke von 200 bis 300 Metern möglich sei, verliere jedoch kein Wort darüber, in welcher Art und Weise dies geschehe. Zutreffend sei jedenfalls, dass sie nur wenige Meter und nur "an der Hand geführt" zurücklegen könne. In der an das SG gerichteten ärztlichen Stellungnahme vom 19.07.2012 dokumentiere das Klinikum vielmehr, dass eine Gleichstellung anzunehmen sei, ohne dass eine Quantifizierung der Gehstrecke benannt werden könne. Berücksichtigt man die in § 48 SGB X genannten Voraussetzungen für eine Aufhebung des Merkzeichens "aG", sei festzustellen, dass sich eine wesentliche Veränderung rechtlicher oder tatsächlicher Verhältnisse gerade nicht eingestellt habe. Mit dem Urteil des BSG vom 13.12.1994 (9 RVs 3/94) komme das Merkzeichen "aG" auch dann in Betracht, wenn jemand aufgrund seiner Behinderungen im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden könne.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Vater der Klägerin ausgeführt, seine Tochter laufe beim Aussteigen aus dem PKW ziellos davon, würde man sie nicht festhalten und in den Buggy setzen. Sie habe vorher gar nicht oder nur wenige Schritte gehen können. Sie gehe und laufe eine gewisse Strecke, lasse sich ungeführt häufig aber auch einfach fallen, ungeachtet des Orts, an dem sie sich gerade befindet. Sie knicke nicht ein oder stolpere, sondern dies sei eine Folge, dass sie nicht planvoll und zielorientiert gehen könne. Das Merkzeichen "aG" werde auch deshalb benötigt, weil die Behindertenparkplätzen ausreichend groß seien, um den Buggy aus dem Auto, das wegen des Transports des Buggys auch größere Abmessungen habe, zu laden und die Klägerin auf dem Parkplatz hinein setzen zu können.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des SG und des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig aber nur zum Teil begründet.

Beklagter ist das Land Baden-Württemberg. Durch Art. 49 des am 01.07.2001 in Kraft getretenen Gesetzes vom 19.06.2001 - BGBl. I, S. 1046, 1124 - zur Einführung des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) wurden in § 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG-KOV), der insoweit der aktuellen Fassung vom 13.12.2007 entspricht und die hier gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX entsprechend anzuwenden ist - die Wörter "zur Zeit der Stellung des Antrages" gestrichen. Örtlich zuständig ist seither immer die Verwaltungsbehörde, in deren Bezirk der Antragsteller seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die bisherige Rechtsprechung des BSG (SozR 3-3100 § 89 Nr. 4) zum Fortbestand der Passivlegitimation eines Bundeslandes bei Umzug des Klägers in ein anderes Bundesland ist deshalb seit 01.07.2001 gegenstandslos.

Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist der Bescheid der Stadt K. vom 19.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 16.01.2012, mit dem der Bescheid vom 09.01.2007 hinsichtlich der Feststellung des Merkzeichens "aG" mit Wirkung ab dem 07.06.2011 aufgehoben und festgestellt wurde, dass ab diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht mehr vorlägen. Die insoweit geführte isolierte Anfechtungsklage ist statthaft und zulässig. Einer weitergehenden Feststellungs- oder Leistungs- bzw. Verpflichtungsklage (§ § 54 Abs. 1, Abs. 4 bzw. § 55 SGG) auf Feststellung des weiteren Vorliegens des Merkzeichens "aG" bedarf es nicht, da im Falle des Erfolgs der Anfechtungsklage die ursprüngliche Feststellung aus dem Bescheid vom 09.01.2007 wieder aufleben würde.

Die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) ist nicht deswegen begründet, weil der Beklagte über einen Widerspruch gegen einen Bescheid, der nicht von einem Versorgungsamt seines Zuständigkeitsbereichs erlassen wurde, entschieden hatte. Nach Umzug der Klägerin in den Zuständigkeitsbereich des Landratsamts B. -Versorgungsamt Stuttgart- hatte diese nach § 3 Abs. 1 VfG-KOV als örtlich zuständig gewordene Behörde die Abhilfeprüfung vorzunehmen. Die nach Bundesgesetz geregelte wechselnde Zuständigkeit begründet in diesen Fällen auch die spezielle Zuständigkeit der landesgesetzlich vorgesehenen Rechtsaufsichtsbehörden (vgl. auch Leitherer in Meyer-Ladewig ua., SGG, 11. Aufl., § 85 Rnr. 3h). Unabhängig davon hat sich das Versorgungsamt Stuttgart mit seiner Nichtabhilfeentscheidung vom 19.12.2011 (Blatt 105 der Beklagtenakte) die angefochtene Entscheidung des Bescheids vom 19.08.2011 zu eigen gemacht und die Entscheidung über den inhaltlich auch die Nichtabhilfeentscheidung betreffenden Widerspruch durch ihre Rechtsaufsichtsbehörde herbeigeführt.

Der streitgegenständliche Bescheid ist auch im Übrigen formell rechtmäßig. Die Klägerin ist über die gesetzlichen Vertreter vor dessen Erlass mit Schreiben des Versorgungsamtes K. ordnungsgemäß angehört worden (§ 24 Abs. 1 SGB X).

Die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGB X) ist unbegründet, soweit sie sich auf die Zeit nach dem 26.08.2011 bezieht. Denn das Versorgungsamt K. und ihm nachgehend der Beklagte waren berechtigt, wegen des Eintritts einer wesentlichen rechtlichen Änderung i.S.d. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X den Bescheid vom 09.01.2007 alleine mit Wirkung für die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit aufzuheben (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X) und festzustellen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens nicht mehr vorliegen.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des belastenden Verwaltungsakts ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, somit der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2012.

Rechtsgrundlage für die Entziehung des Merkzeichens "aG" ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) i.V.m. §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes vom 02.12.2006 (BGBl. I S. 2742). Danach ist das Merkzeichen "aG" festzustellen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist.

Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, berichtigt S. 5206). Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung insbesondere solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG 23.06.1993 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten.

Zunächst konnte sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichen "aG" nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht auf die VG (Teil D Ziff. 3) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthielten nach Auffassung des Senats weder § 30 Abs. 17 BVG in der Fassung bis 30.06.2011 bzw. § 30 Abs. 16 BVG in der ab 01.07.2011 gültigen Fassung, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche war bislang auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich aG (und G) waren damit nach ständiger Rechtsprechung des Senats mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 - und vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 -, beide veröff. in juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de; so auch der ebenfalls für Schwerbehindertenrecht zuständige 6. Senat des LSG Baden Württemberg, vgl. stellvertretend Urteil vom 04.11.2010 L 6 SB 2556/09, unveröffentlicht; offen lassend der 3. Senat, vgl. Urteil vom 17.07.2012 L 3 SB 523/12 unveröffentlicht). Rechtsgrundlage waren daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu nach ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.

Mit Wirkung zum 15.01.2015 hat der Gesetzgeber in § 70 Abs. 2 SGB IX eine Verordnungsermächtigung eingeführt und in § 159 Abs. 7 SGB IX eine Übergangsregelung getroffen (eingefügt durch Art. 1a des am 15.01.2015 in Kraft getretenen Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 07.01.2015; BGBl. II S. 15). § 70 Abs. 2 SGB IX in der Fassung vom 07.01.2015 lautet nunmehr: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Von der Verordnungsermächtigung ist bislang kein Gebrauch gemacht worden. Nach der ebenfalls am 15.01.2015 in Kraft getretenen Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX in der Fassung vom 07.01.2015 gelten, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend.

Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber mit der Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX ab dem 15.01.2015 wirksam und mit hinreichend bestimmtem Gesetzeswortlaut eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" geschaffen. Die so geschaffene Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens "aG" entfaltet jedoch keine Rückwirkung, sondern ist erst ab dem Datum des Inkrafttretens am 15.01.2015 wirksam (Urteil des Senats vom 22.05.2015, - L 8 SB 70/13 -, juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Folglich stellt der Senat für die Zeit bis zum 31.12.2008 auf die AHP, bis 14.01.2015 auf die von der Rechtsprechung für die Feststellung des Merkzeichens "aG" entwickelten Kriterien und für die Zeit ab dem 15.01.2015 auf die in den VG geregelten Kriterien ab.

Zuletzt hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 30.12.2016 § 146 SGB IX einen Abs. 3 angefügt, der nunmehr die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" regelt.

Bezogen auf den bei Anfechtungsklagen maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, vorliegend der Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Widerspruchsbescheids vom 16.01.2012, musste der Senat feststellen, dass in den tatsächlichen Verhältnissen der Klägerin eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

So war die Klägerin ausweislich der vorliegenden ärztlichen Befunde im Jahr 2006 behinderungsbedingt nicht in der Lage zu gehen. So ist dem Bericht der Kliniken K. vom 13.10.2006 (Blatt 34/35 der Beklagtenakte) zu entnehmen, dass die damals knapp zwei Jahre alte Klägerin "krabbelt, sie zieht sich zum Stehen hoch, steht dann oder geht gehalten breitbasig-ataktisch." Dem Befund des Prof. Dr. We. vom 10.12.2006 (Blatt 56 der Beklagtenakte) ist zu entnehmen: "krabbelt, läuft kaum". Damit konnte der Senat auch im Hinblick auf die bei der Klägerin vorliegende Behinderung feststellen, dass der zum Zeitpunkt der bestandskräftigen Feststellung des Merkzeichens "aG" im Januar 2007 über 2 Jahre alten Klägerin behinderungsbedingt ein selbständiges Gehen, auch ein kindliches Gehen nicht möglich war. Das konnte auch der Vater der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigen.

Dagegen konnte der Senat feststellen, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 19.01.2012 in der Lage war, selbständig zu gehen. So ist dem Pflegegutachten des MdK vom 21.03.2011 (Untersuchungstag am 15.03.20122) zu entnehmen, sie sei in der Lage frei zu gehen, zu stehen und selbständig aufzustehen (Blatt 68 der Beklagtenakte). Auch Dr. W. hat in seinen Berichten aus dem Jahr 2010 (Blatt 59/60 und 61/62 der Beklagtenakte) darauf hingewiesen, dass die Klägerin seit drei Jahren anfallsfrei sei und eine Gehstrecke von 200 bis 300 m gehen könne. Dies haben – mit unterschiedlichen Angaben zur Länge der Wegstrecke – auch die vom SG befragten Ärzte bestätigen können. Dass die Gehfähigkeit der Klägerin auch zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Widerspruchsbescheids damit noch in einem Ausmaß eingeschränkt war, die es rechtfertigt, nach den oben dargestellten Kriterien das Merkzeichen "aG" zu zuerkennen, kann der Senat nicht feststellen. So hat der Vater der Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass jetzt ein freies Gehen i.S.d eines zielgerichteten Gehens nicht möglich sei, die Klägerin aber ungeleitet renne und gehe, jedoch ziel- und orientierungslos.

Maßgeblich war nach der zu Beginn des Jahres 2012 geltenden Rechtslage (dazu s.o.), dass die Klägerin nicht zu den Katalogfällen des Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Halbsatz VwV-StVO zählt. Sie war auch nicht mehr diesem Personenkreis gleichzustellen.

Ein Betroffener war danach gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1 und BSG 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R-, juris).

Während die Klägerin zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Bescheids vom 09.01.2007 noch diesem Personenkreis gleichzustellen war, weil sie praktisch von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeuges behinderungsbedingt nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen konnte, hat der Senat festgestellt, dass sie zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Widerspruchsbescheids selbständig und frei gehen konnte. Dafür spricht auch der eigene Vortrag, wonach die Klägerin unbeaufsichtigt und unkontrolliert losrenne (Schreiben vom 09.08.2011, Blatt 77/78 der Beklagtenakte). Deshalb müsse sie, nachdem sie den Autositz verlasse, sofort in den Buggy gesetzt und angeschnallt werden, andernfalls würde sie sich losreißen und ohne auf den Verkehr o.ä. zu achten, losrennen. Damit ist vorliegend nicht die Fähigkeit zu gehen beeinträchtigt, sondern die Fähigkeit des kontrollierten und zielgerichteten Gehens bei ungestörter Beinmotorik ist eingeschränkt. Dieser Zustand ist jedoch funktionell nicht denjenigen Behinderungszuständen gleichzuachten (dazu BSG 13.12.1994 – 9 RVs 3/94SozR 3-3870 § 4 Nr. 11 = juris; LSG Baden-Württemberg 15.03.2001 – L 11 SB 4527/00 - juris), die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO genannt sind. Insoweit stellen die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung (BSG 29.03.2007 – B 9a SB 5/05 R – juris RdNr. 14). Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG 29.03.2007 – B 9a SB 5/05 R – juris RdNr. 14). Der gleichzustellende Personenkreis beschränkt sich daher auf Schwerbehinderte, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und die sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen können wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Vergleichsgruppen (BSG 29.03.2007 – B 9a SB 5/05 R – juris RdNr. 14). Jedoch ist vorliegend die Gehfähigkeit der Klägerin im Vergleich zum Jahr 2007 nicht mehr in ungewöhnlich hohem Maß in diesem Sinne eingeschränkt. Der mit dem Merkzeichen "aG" bezweckte Nachteilsausgleich, Wegstrecken zu häufig frequentierten Einrichtungen oder Behörden durch Bereitstellung von Behindertenparkplätzen zu verkürzen, knüpft an die Beeinträchtigung der Gehfähigkeit als solche an, nicht an eine Beeinträchtigung der Orientierung oder des planmäßigen Handelns, die sowohl bei kurzen als auch bei langen Wegstrecken sich gleichermaßen auswirkt.

Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass sie nicht zielgerichtet oder orientiert gehen bzw. selbstverantwortlich dem Straßenverkehr überantwortet werden kann, so wird diese funktionelle Behinderung von dem Merkzeichen "aG" nicht erfasst, das sich – zumindest bis zum Inkrafttreten des § 146 Abs. 3 SGB IX - alleine auf die Gehfähigkeit als organisch-funktionelle Fähigkeit bezieht. Insoweit bleiben psychische und geistige Beeinträchtigungen bei der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" außer Betracht. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Senatsurteil vom 24.01.2014 - L 8 SB 2723/13 – juris) sind für die Prüfung der Gleichstellung nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, maßgebend. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StV zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StV genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist (Senatsurteil vom 24.01.2014 - L 8 SB 2723/13 – juris und vom 23.07.2010 – L 8 SB 3119/08 –, juris = www.sozialgerichtsbarkeit.de). Der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG ergibt, dass es allein auf das Maß der Gehbehinderung ankommt. Auch der Zusammenhang mit der Regelung in der VwV-StVO macht den Gesetzeszweck deutlich, dass das Restgehvermögen für den Nachteilsausgleich "aG" maßgebend ist. Nach der an diesem Gesetzeszweck orientierten Rechtsprechung des BSG muss daher der Leidenszustand die Möglichkeit der Fortbewegung auf das Schwerste behindern (grundlegend BSG 08.05.1981 - 9 RVs 5/80 -). Die genannte Rechtsprechung ist in der Folgezeit durch weitere Entscheidungen des BSG bestätigt worden (z.B. BSG 06.11.1985 - 9a RVs 7/83 - und BSG 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - betreffend Anfallsleiden und Störungen der Orientierungsfähigkeit; s. auch BSG 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R - und BSG 05.07.2007 - B 9/9a SB 5/06 R betreffend den Begriff der großen Anstrengung). Allen genannten Entscheidungen gemein ist, dass der Nachteilsausgleich "aG" eine Einschränkung des Gehvermögens des betreffenden Behinderten auf das Schwerste erfordert. Danach sind maßgebend für den Nachteilsausgleich "aG" nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst (die auch auf schweren Herz- und Lungenkrankheiten beruhen können) und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen als solches nicht beeinträchtigen. Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sondern lediglich bewirken, dass ein tatsächlich vorhandenes Gehvermögen, wie es bei der Klägerin vorliegt, nicht ausgenützt wird, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden (vgl. z.B. Senatsurteile vom 24.02.2012 – L 8 SB 1738/11 – betreffend eine phobische Gangbildstörung, vom 20.05.2011 – L 8 SB 4848/10 - betreffend Stuhlinkontinenz und vom 29.07.2011 - L 8 SB 576/10 - betreffend Orientierungslosigkeit; alle nicht veröffentlicht; s. auch Senatsurteil vom 24.01.2014 - L 8 SB 2723/13 – juris).

Für neurologische Erkrankungen wie Anfallsleiden hat das BSG in der Vergangenheit allerdings darauf hingewiesen, dass die dauernde Gefahr des Eintretens einer außergewöhnlichen Gehunfähigkeit infolge von Anfällen nicht dem dauernden Fortbestand der außergewöhnlichen Gehunfähigkeit gleichzusetzen ist und eine einer hochgradigen Einschränkung der Herzleistung oder Lungenfunktion vergleichbare Beeinträchtigung erst bei einer gleichbleibenden Häufigkeit von Anfällen erreicht wird, die "ständig" einen Rollstuhl erforderlich macht (BSG 29.1.1992 - 9a RVs 4/90 - juris RdNr. 13; BSG 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - SozR 3-3870 § 4 Nr 11; BSG 16.03.2016 – B 9 SB 1/15 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr 22 = juris RdNr. 21).

Aber auch insoweit hat das BSG an dem Erfordernis einer Gehbeeinträchtigung festgehalten, die der Senat aber bei der Klägerin nicht mehr feststellen kann. Auch ein Anfallsleiden, das noch immer zu Anfällen führt, konnte der Senat den seit dem Jahr 2010 gefertigten Befundberichten, insbesondere von Dr. W. , nicht mehr entnehmen und damit auch nicht mehr feststellen.

Allein der Umstand, dass die Klägerin einen Rollstuhl bzw. einen Reha-Buggy benutzt, rechtfertigt für sich noch nicht die Feststellung des Vorliegens einer außergewöhnlichen Gehbehinderung. Denn dass die Klägerin wegen einer Gehbeeinträchtigung ständig auf den Rollstuhl angewiesen ist, ist nicht belegt; vielmehr wird sie gerade zur Einschränkung ihres Bewegungs- und Gehdranges im Rollstuhl bzw. Reha-Buggy angeschnallt.

Dass die Nutzung eines Sonderparkplatzes gerade das Ein- und Aussteigen mit der Handhabung des Buggys erleichtert, wie der Vater der Klägerin vor dem Senat erläuternd ausgeführt hat, ist nach ständiger Rechtsprechung gerade nicht der bezweckte Nachteilausgleich des Merkzeichens "aG". Es ist vielmehr dazu gedacht, den Schwerbehinderten mit dem Pkw möglichst nahe an sein jeweiliges Ziel fahren zu lassen: Er darf in Fußgängerzonen parken, Parkzeiten überschreiten oder ohne Gebühr parken. Damit derartige Parkplätze auch ortsnah zur Verfügung stehen, sind Sonderparkplätze in der Nähe von Behörden, Krankenhäusern, Orthopädischen Kliniken anzulegen; den außergewöhnlich Gehbehinderten sind auch Parksonderrechte vor der Wohnung oder in der Nähe der Arbeitsstätte einzurichten, wenn in zumutbarer Entfernung eine Garage oder ein Abstellplatz außerhalb des öffentlichen Verkehrsraumes nicht vorhanden ist (vgl die Allgemeine Verwaltungsvorschrift in der Fassung vom 26.01.2001 aaO). Ein schwerbehinderter Mensch kann somit nicht deshalb als außergewöhnlich gehbehindert anerkannt werden, weil normale Parkplätze ihm das beim Ein- und Aussteigen aus seinem PKW erforderliche vollständige Öffnen der Wagentüre nicht oder nicht ungefährdet ermöglichen (BSG Urteil vom 03.02.1988 - 9/9a RVs 19/86 -, SozR 3870 § 3 Nr. 3; vgl. auch ständige Senatsrechtsprechung seit Senatsurteil vom 21.02.2007 - L 8 SB 763/06 -, nicht veröffentlicht), was gleichermaßen gilt, wenn der Sonderparkplatz das erleichterte Parken wegen der Größe des PKWs oder das Be und Entladen des Buggys ermöglichen soll.

Damit erfüllt die Klägerin zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Widerspruchsbescheids nicht mehr die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG". Insoweit ist eine wesentliche Änderung i.S.d. § 48 Abs. 21 S. 1 SGB X eingetreten und die entsprechende Feststellung des Merkzeichens "aG" mit Wirkung für die Zukunft, also die Zeit nach Wirksamwerden des am 22.08.2011 zur Post gegebenen (Blatt 82 der Beklagtenakte) Bescheids vom 19.08.2011 (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB X) aufzuheben.

Soweit mit dem angefochtenen Bescheid die Entziehung des Merkzeichens "aG" für einen Zeitpunkt vor Bekanntgabe des Bescheids angeordnet wurde, ist die rückwirkende Entziehung rechtswidrig und war aufzuheben. Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Aufhebung lagen nicht vor. Insoweit war das Urteil des SG abzuändern.

Da der Senat vorliegend auch unter besonderer Berücksichtigung des vom Versorgungsamt genannten Antrages vom 07.06.2011 (wohl Blatt 52/53 der Beklagtenakte samt beigefügten Unterlagen) nicht erkennen konnte, dass mit dem Wegfall der Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" eine Änderung zugunsten der Klägerin erfolgt wäre (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X), die Klägerin bzw. deren gesetzliche Vertreter auch nicht einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen wären (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X), die Klägerin bzw. deren gesetzliche Vertreter nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt hätten, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr.3 SGB X) oder die Klägerin bzw. deren gesetzliche Vertreter wussten oder nicht wussten, weil sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hätten, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X), war das Versorgungsamt K. und die Beklagte nicht berechtigt, den Bescheid vom 09.01.2007 mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben.

Der Aufhebung des Bescheids vom 07.01.2007 mit Wirkung für die Zukunft kann nicht entgegen gehalten werden, dass der Beklagte wegen einer später eingetretenen Änderung verpflichtet wäre, erneut das Merkzeichen "aG" festzustellen (dazu vgl. z.B. BSG 15.08.1996 – 9 RVs 10/94SozR 3-3870 § 4 Nr. 13 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 59 = juris). Abgesehen davon, dass der Senat eine solche Änderung nicht feststellen konnte, bestimmt nunmehr § 146 Abs. 3 SGB IX die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG". Dass der Klägerin bei ihrer umfassenden Behinderung innerhalb des ihr zuerkannten GdB von 100 mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem GdB von mindestens 80 zuzuerkennen sind, konnte der Senat nicht feststellen. Denn angesichts der vorliegenden ärztlichen Befunde rechtfertigt die Autismuserkrankung als solche nach B Nr. 3.5.1 VG den GdB von 100, weitergehende mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen, die in ihrer Gesamtheit einen GdB von mindestens 80 rechtfertigen konnte der Senat insoweit auch unter besonderer Berücksichtigung bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen nicht feststellen. Damit wäre bei der Klägerin auch aktuell das Merkzeichen "aG" nicht festzustellen.

Die Berufung und die Anfechtungsklage sind mithin lediglich bezüglich die Zeit vor Wirksamwerden des Bescheids vom 19.09.2011 begründet, denn die Voraussetzungen für die rückwirkende Aufhebung der Feststellung des Merkzeichens "aG" liegen nicht vor (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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