L 12 AS 2413/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 2171/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 2413/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17.04.2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung wegen Laktoseintoleranz für die Zeit vom 01.05.2013 bis 30.09.2013.

Die 1977 geborene Klägerin lebt zusammen mit ihrem 2009 geborenen Sohn in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerin stand seit 2005 – mit zeitweiligen Unterbrechungen – im Leistungsbezug beim Beklagten. Am 09.04.2013 beantragte sie erneut Leistungen für sich und ihren Sohn. Dabei beantragte die Klägerin auch die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung. Sie legte ein Attest ihrer Hausärztin Frau M. vom 01.08.2011 vor, wonach eine Laktoseintoleranz festgestellt worden sei. Es werde ärztlicherseits empfohlen, eine laktosefreie Diät einzuhalten. Hierzu sei erforderlich, dass die Klägerin die auf dem Markt üblichen laktosefreien Produkte in ihre Ernährung einbaue. Zusätzlich bestehe noch die Möglichkeit, bedarfsweise Laktasekapseln oder Tabletten einzunehmen, um die Verdauung milchzuckerhaltiger Produkte, die teilweise nicht gesondert gekennzeichnet seien, zu unterstützen. Die Kosten hierfür würden nicht gesondert von der Krankenkasse übernommen.

Mit Bescheid vom 06.06.2013 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrem Sohn für die Zeit vom 01.05.2013 bis 31.05.2013 Leistungen in Höhe von 520,61 EUR, wobei bis 19.05.2013 Arbeitslosengeld I angerechnet wurde. Für die Zeit vom 01.06.2013 bis 30.09.2013 wurden der Klägerin und ihrem Sohn insgesamt 970,09 EUR bewilligt, wobei bei der Klägerin ein Mehrbedarf zum Lebensunterhalt für Alleinerziehende in Höhe von 137,52 EUR berücksichtigt wurde, beim Sohn der Klägerin wurde Kindergeld in Höhe von 184,00 EUR angerechnet. Ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung wurde nicht berücksichtigt.

Mit Schreiben vom 10.06.2013 erhob die Klägerin Widerspruch. Der Mehrbedarf für Laktosesintoleranz sei nicht berücksichtigt worden, obwohl dem Beklagten diesbezüglich ein ärztliches Attest vorgelegt worden sei. Außerdem sei der Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld I nicht berücksichtigt worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Ein ernährungsbedingter Mehrbedarf für Laktoseintoleranz könne nicht gewährt werden, da kein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer drohenden oder bestehenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer kostenaufwändigeren Ernährung vorliege. Bei Laktoseunverträglichkeit handle es sich um eine vergleichsweise weit verbreitete Lebensmittelunverträglichkeit, bei der lediglich im Einzelfall ausnahmsweise eine kostenaufwändigere Ernährung aus medizinischen Gründen erforderlich sein könne, insbesondere dann, wenn ohne das teure Ersatzprodukt gesundheitliche Einschränkungen drohten oder keine ausreichende Auswahl an Alternativprodukten zur Verfügung stehe. Die bei der Klägerin festgestellte Laktoseintoleranz stelle zwar eine gesundheitliche Beeinträchtigung im Sinne des § 21 SGB II dar, nämlich eine Krankheit im Sinne eines regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustands, dass diese jedoch ein besonderes medizinisch begründetes Ernährungsbedürfnis mit sich bringe, lasse sich auf der Grundlage des vorgelegten ärztlichen Attestes aus dem Jahr 2011 nicht ableiten. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld I, da die Rechtsgrundlage hierfür mit Wirkung ab 01.01.2011 aufgehoben worden sei.

Am 18.07.2013 teilte das L. R. dem Beklagten mit, dass für den Sohn der Klägerin ab 01.05.2013 Unterhaltsvorschussleistungen in Höhe von monatlich 133,00 EUR bewilligt worden seien. Für die Zeit vom 01.05. bis 31.08.2013 ergebe sich ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 532,00 EUR, der direkt an den Beklagten überwiesen werde.

Mit Bescheid vom 22.07.2013 änderte der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 06.06.2013 ab und bewilligte für die Zeit vom 01.08.2013 bis 30.09.2013 Leistungen in Höhe von 837,09 EUR, wobei für den Sohn der Klägerin auf Grund des Kindergeldes und des gewährten Unterhaltsvorschusses lediglich ein Bedarf für Unterkunft und Heizung in Höhe von 112,29 EUR festgestellt wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ab dem 01.05.2013 Unterhaltsvorschussleistungen in Höhe von 133,00 EUR beim Sohn der Klägerin angerechnet würden. Dadurch sei eine Überzahlung von Mai bis Juli 2013 entstanden, die dem Beklagten direkt vom Kreisjugendamt erstattet werde.

Mit Schreiben vom 25.07.2013 erhob die Klägerin Widerspruch, da bei "zu berücksichtigendes Einkommen" die 30,00 EUR-Pauschale nicht berücksichtigt worden sei. Folglich würde sich bei ihrem Sohn ein berücksichtigungsfähiges Einkommen von lediglich 287,00 EUR ergeben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Bei minderjährigen Personen könne die Versicherungspauschale von 30,00 EUR nur abgesetzt werden, wenn eine entsprechende Versicherung tatsächlich abgeschlossen worden sei. Der Abschluss einer solchen Versicherung für den 2009 geborenen Sohn sei weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die Klägerin hat am 15.08.2013 (gegen den Widerspruchsbescheid vom 19.07.2013) Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Sie müsse bei der Nahrungsaufnahme von Milchprodukten jeweils eine sehr hohe Dosis von Laktase einnehmen. Bei der Einnahme von weniger Einheiten blieben die Beschwerden im Sinne von Blähungen und Verdauungsstörungen bestehen. Sie sei gezwungen, Nahrungsmittel, die Milch oder Milchprodukte enthielten, durch laktosefreie Produkte zu ersetzen. Hieraus entstünden erhebliche Mehrkosten, beispielsweise für die benötigten 14 l Milch Mehrkosten in Höhe von 8,40 EUR, für die benötigten 5 Mascarpone im Monat Mehrkosten von 7,50 EUR, für den Ersatz von 7 Portionen Eis ein Mehrbedarf von 8,40 EUR.

Das SG hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt. Dr. S. hat in seiner Stellungnahme vom 25.10.2013 angegeben, dass die Klägerin am 25.07.2011 zum Laktoseintoleranztest in der Praxis gewesen sei. Es liege Laktoseintoleranz vor. Die Frage ob die Klägerin auf Grund der Gesundheitsstörungen eine besondere kostenaufwändige Ernährung benötige, hat der sachverständige Zeuge verneint. Die behandelnde Ärztin Frau M. gab am 23.11.2013 an, die Klägerin sei im Juli 2011 zur Klärung seit Jahren bestehender abdomineller Beschwerden in ihrer Praxis vorstellig geworden. Eine laborchemische Verlaufskontrolle sei am 30.12.2012 erfolgt. Im weiteren Verlauf sei die Klägerin nicht mehr in ihrer Sprechstunde erschienen. Es sei eine Laktoseintoleranz festgestellt worden. Bei Patienten mit Laktoseintoleranz werde je nach Schwere des Laktasemangels eine laktosefreie oder laktosearme Diät empfohlen. Die Klägerin habe von ihr ein Attest erhalten, wonach ärztlicherseits eine laktosefreie Diät empfohlen werde. Der finanzielle Mehraufwand hierfür könne ihrerseits nicht dargestellt werden.

Das SG hat ferner ein Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. B. eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 29.04.2014 ausgeführt, dass die Klägerin an primärer Laktoseintoleranz leide. Zum Schweregrad könne keine Stellung bezogen werden, da die Klägerin trotz mehrfacher Erinnerung nicht zum zweiten notwendigen Test vorstellig geworden sei. Bei einer – oftmals vorliegenden – leichten Laktoseintoleranz werde eine Menge von etwa 5 g Laktose pro Tag vertragen. Laktosearme Milchprodukte wie z. B. Joghurt oder Hart- und Schnittkäse könnten dann in gemäßigter Menge verzehrt werden und als Kalziumlieferanten dienen, ggfs. ergänzt durch milchfreie kalziumreiche Lebensmittel wie Brokkoli, Grünkohl, Lauch oder Spinat sowie kalziumreiche Mineralwasser. Ein Verzehr von speziellen laktosefreien Produkten sei dann in aller Regel nicht mehr notwendig. Sei die Laktoseintoleranz so schwer, dass schon 5 g oder noch geringere Mengen Laktose Symptome hervorriefen, sei eine nahezu laktosefreie Ernährung notwendig. In diesem Fall sei eine maßvolle Verwendung von laktosefreien Milchprodukten und gegebenenfalls auch von Kalziumpräparaten (Nahrungsergänzungsmittel) anzuraten, die jedoch bevorzugt durch die kalziumreichen Lebensmittel (Gemüse, Mineralwasser) ergänzt werden sollten. Auch bei einer völlig laktosefreien Ernährung hielten sich die relativen Mehrkosten pro Tag in Grenzen, selbst wenn der Empfehlung eines Verzehrs von drei Portionen Milchprodukten pro Tag gefolgt werde. So errechne sich ein Mehraufwand von allenfalls 1,24 EUR pro Tag. Dabei werde von einem Preis z. B. für laktosehaltige Milch von 0,56 EUR und laktosefreier Milch von 1,29 EUR sowie von einem Preis für laktosehaltigem Scheibenkäse von 0,79 EUR und laktosefreiem Scheibenkäse von 3,80 EUR ausgegangen (vgl. hierzu Akte des SG Bl. 83 Rückseite). Nachdem die Klägerin dann doch zu einer zweiten Untersuchung erschien, hat der Sachverständige sein Gutachten am 19.11.2014 ergänzt. Der Test sei zwar formal negativ ausgefallen, jedoch sei der Ausgangswert ungewöhnlich hoch gewesen (initial sogar 44 ppm, er habe nach mehrmaligem Spülen erst auf 23, dann auf 20 ppm gesenkt werden können). Ein Test könne nur dann durchgeführt werden, wenn der Ausgangswert nicht höher als 20 ppm liege. Ursachen könnten eine mangelnde bzw. inkorrekte Vorbereitung zum Test oder eine momentane Störung der Darmbesiedelung sein. Darüber hinaus habe die Klägerin überzeugend Blähbeschwerden angegeben. Auch wenn Falschangaben aus naheliegenden Gründen nicht ausgeschlossen werden könnten, sei primär von korrekten Angaben auszugehen. Demnach könne argumentiert werden, dass eine Intoleranz auf 5 g Laktose vorliege. Es könne eine "schwere Laktoseintoleranz" angenommen werden, wenngleich sie auf Grund der Ausgangssituation am Untersuchungstag nicht eindeutig belegt werden könne. Für ein zweifelsfreies Ergebnis müsse der Test wiederholt werden. Für den medizinischen Alltag könne auf weitere Testwiederholungen verzichtet und von schwerer Laktoseintoleranz ausgegangen werden.

Die Klägerin trägt zur Beweisaufnahme vor, dass Dr. S. und Frau M. in ihren sachverständigen Zeugenaussagen übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen seien, dass sie unter einer Laktoseintoleranz leide. Die weiteren Beweisfragen seien nur noch von Frau M. beantwortet worden und stimmten mit dem klägerischen Vortrag überein. Frau M. stelle nachvollziehbar dar, dass für die Ernährung bei Laktoseintoleranz entweder laktosefreie Milchprodukte verwendet werden sollten oder aber bedarfsweise Laktasekapseln einzunehmen seien. Sowohl die Verwendung von laktosefreien Milchprodukten als auch die Einnahme von Laktasekapseln seien mit Mehrkosten gegenüber einer üblichen laktosehaltigen Ernährung verbunden. Es dürfte mittlerweile gerichtsbekannt sein, dass laktosefreie Milchprodukte im Handel teurer seien als laktosehaltige. Auch das Gutachten von Prof. Dr. B. habe die Diagnose "primäre Laktoseintoleranz" verifiziert. Nach dem zweiten Laktoseintoleranztest gehe der Sachverständige sogar davon aus, dass eine schwere Laktoseintoleranz vorliege. Hierfür bejahe er einen Mehrbedarf von 37,65 EUR pro Monat.

Der Beklagte hat im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen, dass auf Grund der vorgelegten ärztlichen Unterlagen die Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung aus medizinischen Gründen nicht belegt sei. Dr. S. habe in seiner sachverständigen Zeugenaussage die Rechtsauffassung des Beklagten bestätigt. Auch Prof. Dr. B. habe die Notwendigkeit einer kostenaufwändigeren Ernährung aus medizinischen Gründen nicht belegen können. So habe er festgestellt, dass eine schwere Laktoseintoleranz weiterhin "nicht eindeutig belegt" sei.

Mit Urteil vom 17.04.2015 hat das SG den Widerspruchsbescheid vom 30.08.2013 aufgehoben und den Bescheid vom 06.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2013 und in der Fassung des Bescheides vom 22.07.2013 dahingehend abgeändert, dass der Beklagte verurteilt worden ist, der Klägerin im Zeitraum vom 01.05. bis 30.09.2013 monatlich weitere 37,65 EUR zu zahlen. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Zum Streitgegenstand hat das SG ausgeführt, dass auch der Änderungsbescheid vom 22.07.2013 Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist, da dieser den Bescheid vom 06.06.2013 für den Zeitraum 01.08.2013 bis 30.09.2013 abgeändert habe, aus diesem Grund habe der Widerspruchsbescheid vom 30.08.2013 nicht ergehen dürfen, weshalb er aufzuheben sei. Das Gutachten von Prof. Dr. B habe ergeben, dass bei der Klägerin eine schwere Laktoseintoleranz vorliege. Die Schätzung des Mehrbedarfs durch den Gutachter in Höhe von 37,65 EUR sei für die Kammer nachvollziehbar und deshalb zugrunde zu legen. Die von der Klägerin geforderten 118,40 EUR seien hingegen nicht nachvollziehbar. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Umfangs des ernährungsbedingten Mehrbedarfs bei Laktoseintoleranz hat das SG die Berufung zugelassen.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 07.05.2015 zugestellte Urteil am (Montag, den) 08.06.2015 Berufung eingelegt. Bereits die Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2013 sei rechtswidrig, da der Sohn der Klägerin am vorliegenden Rechtsstreit nicht beteiligt sei. Der Bescheid vom 22.07.2013 habe nur den Sohn der Klägerin betroffen. Die Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung sei weder durch die sachverständigen Zeugenaussagen noch durch das Sachverständigengutachten nachgewiesen. Nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins für ö. und p. F. e.V. zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (4., neu bearbeitete Auflage 2014) sei eine Zulage bei Laktoseintoleranz in der Regel nicht erforderlich. Die ernährungsmedizinische Behandlung bestehe im Meiden von Nahrungsmitteln, die nicht vertragen würden (z. B. Kuhmilch). Die Deckung des Kalziumsbedarfs sei insbesondere durch den Verzehr von Milchprodukten möglich, die von Natur aus sehr geringe Mengen an Laktose enthielten, z. B. reifer Käse. Darüber hinaus sei das Vorliegen einer "schweren" Laktoseintoleranz bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Auch im Gutachten von Prof. Dr. B. sei eine "schwere" Laktoseintoleranz bei der Klägerin nicht bewiesen worden. Der hierzu erforderliche zweite Test habe nach anfänglicher Weigerung der Klägerin zwar durchgeführt werden können, jedoch sei dieser Test "formal negativ" ausgefallen. Darüber hinaus sei die Höhe des Mehrbedarfs nicht ordnungsgemäß festgestellt worden. Der Beklagte hat schließlich noch das für das LSG Baden-Württemberg im Verfahren L 2 AS 2604/16 erstattete Sachverständigengutachten der Diätassistentin P. vom 25.01.2017 vorgelegt und beruft sich auf dessen Inhalt; demnach bestehe selbst bei schwerer Laktoseintoleranz kein Mehrbedarf im Vergleich zu einer normalen Ernährung.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17.04.2015 aufzuheben und die Klage ab- zuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, das SG habe im vorliegenden Einzelfall einen krankheitsbedingten Mehrbedarf entsprechend der Rechtsprechung des BSG aufgeklärt. Bei der Berechnung des Mehrbedarfs habe es sich an die Empfehlung aus der Aufstellung von Prof. Dr. B. gehalten.

In dem in einem Parallelverfahren erstatteten o.g. Gutachten kommt die Diätassistentin P. zu dem Ergebnis, dass eine laktosearme oder -freie Ernährung ohne Einsatz von diätetischen Lebensmitteln möglich sei. Der Bedarf aller Makro- und Mikronährstoffe könne hierbei gedeckt werden. Es bestehe im Vergleich zur "normalen" Ernährung bezüglich der Kosten kein Mehrbedarf. Es bestehe auch deshalb kein finanzieller Mehrbedarf, weil ein Einsatz von diätetischen Lebensmitteln oder Laktasepräparaten nicht erforderlich sei. Mit dem Verzicht auf Fertiglebensmittel könne eine bedarfsdeckende laktosefreie (und später laktosearme) schmackhafte und preiswerte Ernährung sichergestellt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft; der Senat ist an die Zulassung im Tenor des angegriffenen Urteils vom 17.04.2015 gebunden (vgl. §§ 143, 144 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig; insbesondere wurden die maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) beachtet.

Die Berufung ist auch begründet. Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid 06.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2013 und in der Gestalt des Bescheides vom 22.07.2013. Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Dies gilt auch dann, wenn der Bescheid nach Erlass des Widerspruchsbescheides aber vor Klageerhebung erlassen wurde (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 96 Rn 2). Mit dem Änderungsbescheid vom 22.07.2013 setzte der Beklagte nicht nur die Leistungen des Sohnes, sondern auch diejenigen der Klägerin neu fest, da der bisherige Bescheid aufgehoben wurde und auch der Betrag, der an die Klägerin auszuzahlen war zwar mit gleichem Ergebnis, aber dennoch neu berechnet wurde.

Allerdings ist der Änderungsbescheid vom 22.07.2013 nur im Hinblick auf die Klägerin Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Der Anspruch des Sohnes ist hingegen nicht Gegenstand des Klageverfahrens gewesen, so dass der Widerspruchsbescheid vom 30.08.2013, der nur die Frage der Einkommensanrechnung beim Sohn der Klägerin betraf, unabhängig von der Frage der materiellen Rechtmäßigkeit unter formellen Gesichtspunkten zu Recht erging. Wird ein teilbarer Verwaltungsakt teilweise angefochten und bezieht sich der Änderungsbescheid auf den nicht angefochtenen Teil, wird dieser nicht Gegenstand des Verfahrens (Leitherer, a.a.O. Rn. 4). Bei den Ansprüchen der Grundsicherung für Arbeitsuchende handelt es sich um Individualansprüche der einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, die damit auch entsprechend eingeklagt werden können (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 8/06 R –, BSGE 97, 217). Gegenstand des Klageverfahrens ist jedoch immer nur der Anspruch der Klägerin gewesen, da nur diese einen erhöhten Bedarf wegen Laktoseintoleranz geltend macht. Folglich ist der Änderungsbescheid im Hinblick auf den Sohn – unabhängig von der Frage seiner inhaltlichen Richtigkeit, die das SG dann auch nicht mehr geprüft hat – nicht Gegenstand des Klageverfahrens geworden, so dass der Beklagte zu Recht eine inhaltliche Entscheidung im Widerspruchsverfahren getroffen hat.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Die 1977 geborene Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum erwerbsfähig und hilfebedürftig, da sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen bestreiten konnte. Der Beklagte hat die Leistungen der Klägerin im Mai 2013 in Höhe von 388,97 EUR (Regelleistung 183,69 EUR, Kosten der Unterkunft 205,28 EUR) und von Juni bis September 2013 in Höhe von 724,80 EUR (Regelleistung 382,00 EUR, Zuschlag Alleinerziehende 137,52 EUR, Kosten der Unterkunft 205,28 EUR) korrekt berechnet. Die Klägerin hat für den streitgegenständlichen Zeitraum nach § 21 Abs. 5 SGB II keinen Anspruch auf einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung bei Laktoseintoleranz.

Nach § 21 Abs. 5 SGB II wird bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Ein gesonderter Antrag nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist dabei nicht erforderlich (BSG, Urteil vom 14.02.2013 – B 14 AS 48/12 R –, juris).

Voraussetzung für die Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 14.02.2013, a.a.O.), dass der Leistungsberechtigte an einer Krankheit im Sinne der üblichen krankenversicherungsrechtlichen Begriffsdefinition leidet (wobei bereits eine drohende Erkrankung ausreicht), dass sich der Leistungsberechtigte "besonders" (im Sinne einer Krankenkost) ernähren muss und diese besondere Ernährung auf Grund der Krankheit medizinisch notwendig ist (ursächlicher Zusammenhang) und dass die im Einzelfall erforderliche Kost gegenüber der in der Bevölkerung üblichen, im Regelbedarf zum Ausdruck kommenden Ernährung, kostenaufwändiger ist.

Hierzu geht der Senat zunächst davon aus, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum nach den vorliegenden ärztlichen Äußerungen und dem durch das SG eingeholten und insoweit überzeugenden Gutachten von Prof. Dr. B. vom 29.04.2014 und 19.11.2014 unter schwerer Laktoseintoleranz leidet. Die klinische Diagnose einer Laktoseintoleranz von Dr. S. und Frau M. ist durch den im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. B. durchgeführten H2-Atemtest bestätigt worden. Auch wenn Prof. Dr. B. eine schwere Laktoseintoleranz als nicht vollständig erwiesen angesehen hat, wird dies zugunsten der Klägerin als vorliegend unterstellt. Die festgestellte Laktoseintoleranz (ICD-10-GM E 73) stellt eine gesundheitliche Beeinträchtigung im Sinne des § 21 Abs. 5 SGB II, nämlich eine Krankheit in Form eines regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustandes dar (BSG, Urteil vom 14.02.2013, a.a.O.).

In Folge dieser Erkrankungen war die Klägerin im streitigen Zeitraum auf eine besondere Ernährung angewiesen. So führt Prof. Dr. B. nachvollziehbar und für den Senat überzeugend aus, dass wegen der durch die Laktoseintoleranz hervorgerufenen Symptome der Verzehr von laktosehaltigen Nahrungsmitteln zu vermeiden ist.

Durch die besondere Ernährung entstehen aber – anders als vom medizinischen Gutachter angenommen – zur Überzeugung des Senats keine über die im Regelbedarf enthaltenen hinausgehenden Kosten. Ausgehend von der Konkretisierung des Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung in Relation zum Regelbedarf ist kostenaufwändiger im Sinne des § 21 Abs. 5 SGB II eine Ernährung, die von dem im Regelbedarf umfassten typisierten Bedarf abweicht und von diesem nicht gedeckt ist (BSG, Urteil vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R – juris). Ernährung mit Vollkost unterfällt nicht § 21 Abs. 5 SGB II, da es sich nicht um eine Krankenkost handelt, auf die die Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt (BSG, Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R – juris). Da die Vollkosternährung vom Regelbedarf gedeckt ist, besteht eine kostenaufwändige Ernährung grundsätzlich nur bei einer besonderen, von der Vollkost abweichenden Ernährungsform (BSG, Urteil vom 20.02.2014, a.a.O.).

Eine mit höheren Kosten verbundene Ernährung, die von der Vollkost abweicht, ist im Falle der Klägerin nicht erforderlich. Der Senat stützt seine Erkenntnis auf das im Wege des Urkundenbeweises verwertete Gutachten (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff. ZPO) der Diätassistentin P ... Den Angaben zu den höheren Kosten im medizinischen Gutachten von Prof. Dr. B. wird hingegen nicht gefolgt. So ist darin u.a. nicht nachvollziehbar dargestellt, warum für eine ausgewogene Ernährung, die alle wichtigen Nährstoffe (insbesondere Kalzium) enthält, nur die ausgewählten laktosefreien Milchprodukte verwendet werden müssen und inwiefern nicht ein Ersatz durch andere Lebensmittel erfolgen kann, der sich dann ggfs. preisgünstiger gestaltet.

Frau P. hat dargestellt, dass und wie der erforderliche Energie- und Nährstoffbedarf bei Laktoseintoleranz durch ganz normale Lebensmittel, wie sie auch Teil der Vollkost sind, gedeckt werden kann. Sie hat für den Senat nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass sowohl eine laktosearme als auch eine laktosefreie Kost mit natürlichen Lebensmitteln zusammengestellt werden kann. Der Bedarf aller Makro- und Mikronährstoffe kann hierbei gedeckt werden. Vorteilhaft ist dabei der Verzicht auf industriell verarbeitete Lebensmittel. Durch das Selbstzubereiten von Speisen können nicht nur deutlich Kosten eingespart werden, sondern auch unerwünschte Zusatzstoffe (z. B. künstliche Farbstoffe, Konservierungsstoffe) vermieden werden. Außerdem kann – durch das eigene Auswählen der Zutaten und das Selbstkochen – das Essen auf einfache Weise laktosefrei gestaltet werden. Selbst individuelle Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z. B. Hülsenfrüchte, Kohlgemüse) bzw. weitere ernährungstherapeutische Anforderungen, die auf Grund von Komorbiditäten bestehen können, wie beispielsweise Diabetes mellitus Typ 2, Fettstoffwechselstörung, arterielle Hypertonie, Übergewicht, Steatosis hepatis, die jedoch bei der Klägerin nicht vorliegen, können nach den nachvollziehbaren Ausführungen von Frau P.bei einem Verzicht auf industriell verarbeitete Lebensmittel berücksichtigt werden. Der Einsatz von laktosefreien Milchprodukten bringt keinen ernährungstherapeutischen Vorteil. Die Einnahme von Laktasepräparaten ist bei entsprechender Lebensmittelauswahl und -zubereitung nicht erforderlich. Die Diät erfordert zwar einen höheren zeitlichen Aufwand hinsichtlich sorgfältiger Auswahl der Lebensmittel und eigene Zubereitung sowie teilweise einen Verzicht auf industrielle Fertigprodukte. Gleichzeitig sind frisch zubereitete Mahlzeiten schmackhafter, häufig bekömmlicher, nährstoffreicher und meistens preiswerter. Im Ergebnis gehört die Laktoseintoleranz nach den von der Sachverständigen dargelegten Erkenntnissen zu den Erkrankungen, bei denen eine bedarfsangepasste laktosefreie Ernährung ohne Einsatz von diätetischen Lebensmitteln möglich ist. Es besteht im Vergleich zur »normalen» Ernährung bezüglich der Kosten kein Mehrbedarf. Die Ausführungen der Sachverständigen P. sind schlüssig und begegnen keinem begründeten Zweifel, so dass der Senat seine Urteilsfindung darauf stützen kann.

Die von der Klägerin wiederholt vorgetragene Notwendigkeit, sich mit speziellen laktosefreien Produkten zu versorgen, besteht somit ernährungswissenschaftlich gerade nicht.

Sollte die Klägerin dennoch nicht auf Milchprodukte verzichten wollen, ist darauf hinzuweisen, dass die Mehrkosten, die durch den Kauf laktosefreier Milchprodukte verursacht werden, sich beim Einkauf auch durch Einsparungen bei anderen Lebensmitteln – insbesondere bei Fertigprodukten – ausgleichen lassen (zu vom Gesetzgeber als grundsätzlich zumutbar erachteten Einsparmöglichkeiten durch "Umschichtung" vgl. auch BT-Drs. 17/1465, Seiten 6 und 8). Eine entsprechende preisbewusste Einkaufsweise, die auch Frau P. anregt, erachtet der Senat insoweit als durchaus zumutbar. Der im Regelsatz berücksichtigte Ansatz für Nahrungsmittel und Getränke, der einen pauschalen Anteil für eine ausreichende und ausgewogene Ernährung enthält, lässt Spielraum für individuelle Bedürfnisse, wie sie bei Erkrankungen wie bei der Klägerin bestehen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass sich der Preis für laktosefreie Milchprodukte im normalen Preisspektrum für Milch allgemein befindet, da z. B. laktosefreie Milchprodukte beim Discounter in etwa so viel kostet wie normale laktosehaltige Milchprodukte im übrigen Lebensmitteleinzelhandel (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 – L 9 AS 2069/15 –). Insgesamt hat sich auf dem Gebiet der laktosefreien Nahrungsmittel bereits ein umfangreiches Angebot entwickelt, das es der Klägerin ermöglicht, mit den aus der Regelleistung für Ernährung zur Verfügung stehenden Mitteln eine ausgewogene Ernährung auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen sicherzustellen. Auch ist es der Klägerin zuzumuten, aktuelle Angebote zu beachten und ihr Kaufverhalten hierauf sowie auf günstigeres Saisongemüse usw. einzustellen (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.03.2016 – L 6 AS 403/14 –).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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