L 10 AL 25/17

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 17 AL 423/16
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 25/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs 1 SGB X ist bereits dann nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten vierjährigen Verfallsfrist liegen.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.01.2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Überprüfung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 07.09.2009 bis 06.03.2010.

Der Kläger bezog in der Zeit vom 07.09.2009 bis 06.03.2010 Alg iHv 29,03 EUR täglich von der Beklagten (Bescheid vom 16.11.2009 idF der Änderungsbescheide vom 17.11.2009 und 19.11.2009). Dabei wurde ein Bemessungsentgelt von 75,27 EUR täglich zugrunde gelegt und hiervon die Sozialversicherungspauschale von 15,81 EUR, die Lohnsteuer ausgehend von Lohnsteuerklasse 1 von 10,51 EUR und der Solidaritätszuschlag von 0,57 EUR in Abzug gebracht. Der Leistungssatz betrug 60%.

Am 13.06.2016 sprach der Kläger persönlich bei der Beklagten vor und bat um Überprüfung der Höhe des ihm gewährten Alg. Mit Schreiben vom 22.09.2016 stellte er einen entsprechenden förmlichen Antrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 27.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2016 ablehnte. Bei Rücknahme eines Verwaltungsaktes könnten längstes für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme Leistungen erbracht werden, vorliegend damit nur für Zeiten ab dem 01.01.2012. Eine Nachzahlung scheide daher aus. Eine vom Kläger dagegen zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhobene Klage hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 10.01.2017 abgewiesen. Zuvor hatte das SG den Kläger mit Schreiben vom 01.12.2016 auf die fehlenden Erfolgsaussichten seiner Klage hingewiesen und eine Klagerücknahme angeregt. Andernfalls beabsichtige das Gericht ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Auch hierzu könne sich der Kläger äußern. Dagegen hat der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er habe sich in einer mündlichen Verhandlung beim SG äußern wollen. Das Anhörungsschreiben zum Gerichtsbescheid habe er falsch verstanden. Das SG habe die Beweise falsch gewürdigt. Die Vorschrift des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sei ihm erst vor einem halben Jahr bekannt geworden.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.01.2017 und den Bescheid der Beklagten vom 27.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 16.11.2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 17.11.2009 und 19.11.2009 höheres Arbeitslosengeld für die Zeit vom 07.09.2009 bis 06.03.2010 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung hat sie auf den Gerichtsbescheid des SG verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung Einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte durch den bestellten Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung entscheiden, denn die Beteiligten haben sich hiermit ausdrücklich einverstanden erklärt (§ 155 Abs 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm § 124 Abs 2 SGG).

Die form- und fristgerechte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), in der Sache jedoch unbegründet. Das SG hat jedenfalls im Ergebnis die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid der Beklagten vom 27.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2016 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Es ist daher unerheblich, dass die Entscheidung des SG durch Gerichtsbescheid deswegen verfahrensfehlerhaft gewesen sein könnte, weil das Schreiben an den Kläger vom 01.12.2016 keine ordnungsgemäße Anhörung iSv § 105 Abs 1 Satz 2 SGG zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid dargestellt haben könnte. Das Schreiben benennt nicht ausdrücklich eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid und gibt Anlass für eine Verwechslung mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG, die nur mit Zustimmung der Beteiligten möglich ist.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 27.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2016, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, die Bewilligungsentscheidung für die Zeit vom 07.09.2009 bis 06.03.2010 (Bescheid vom 16.11.2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 17.11.2009 und 19.11.2009) abzuändern.

Die Klage ist unbegründet, da kein Anspruch darauf besteht, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2016 verpflichtet wird, den Bescheid vom 16.11.2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 17.11.2009 und 19.11.2009 abzuändern und dem Kläger höheres Alg zu bewilligen. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Unabhängig von der Rechtswidrigkeit des zu überprüfenden Bescheides ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht werden (§ 44 Abs 4 Satz 1 SGB X). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs 4 Satz 2 SGB X). Im Falle der Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs 4 Satz 3 SGB X). Fristbeginn ist das Datum der Antragstellung (vgl auch Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 44 Rn 29).

Eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs 1 SGB X war vorliegend nicht mehr zu treffen, da die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallsfrist liegen, und damit eine Rücknahmeentscheidung keine Wirkung mehr entfalten könnte. Eine isolierte Rücknahme - selbst eines rechtswidrigen Bescheides - kommt dann wegen der Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X" nicht mehr in Betracht (vgl dazu BSG, Urteil vom 12.10.2016 - B 4 AS 37/15 R - mwN; Urteil vom 23.02.2017 - B 4 AS 57/15 R - mwN). Mit der Regelung des § 44 Abs 4 SGB X wird eine materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung bewirkt (Schütze aaO § 44 Rn 28). Die Rücknahme steht unter dem Vorbehalt, dass Sozialleistungen nach § 44 Abs 4 SGB X noch zu erbringen sind (BSG, Urteil vom 23.02.2017 - B 4 AS 57/15 R; Urteil vom 12.10.2016 - B 4 AS 37/15 R; Urteil vom 28.02.2013 - B 8 SO 4/12 R).

Der Zeitraum, für den der Kläger im Rahmen des Überprüfungsverfahrens höheres Alg begehrt, liegt außerhalb des Zeitraums von vier Jahren. Der Antrag nach § 44 SGB X ist 2016 gestellt worden, so dass eine rückwirkende Leistungszahlung nur für die Zeit vom 01.01.2012 bis 31.12.2.2015 (§ 26 Abs 1 SGB X iVm mit §§ 187 Abs 1, 188 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB-) in Betracht kommt. Leistungen für die Zeit vom 07.09.2009 bis 06.03.2010 liegen jedoch außerhalb dieses Zeitrahmens, so dass der Überprüfungsantrag bereits deshalb abzulehnen war.

Unerheblich ist schließlich der Verweis des Klägers darauf, die Vorschrift des § 44 SGB X sei ihm erst ein halbes Jahr zuvor bekannt geworden. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X kommt im Rahmen der Verfallsfrist des § 44 Abs 4 SGB X nicht in Betracht. Auf Antrag ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 27 Abs 1 Satz 1 SGB X). Nach § 27 Abs 5 SGB X ist aber eine Wiedereinsetzung unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist. Ein solcher Ausschluss kann vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet werden oder er kann sich durch Auslegung ergeben (vgl dazu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2015 - L 11 EG 2526/15). So kommt eine Anwendung von § 27 SGB X nicht in Betracht, wenn bei einer Ausschlussfrist nach Sinn und Zweck der Vorschrift die gesetzliche Regelung mit der Frist steht und fällt (vgl BSG, Urteil vom 16.12.1993 - 4 RA 16/93 - SozR 3-1300 § 27 Nr 5). Dies ist im Rahmen der Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X der Fall, da es sich dabei - wie oben ausgeführt - um eine materiell-rechtliche Anspruchsbeschränkung handelt. Mit § 44 SGB X ist für den Bereich des Sozialrechts eine gegenüber den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Regelungen weiterreichende Möglichkeit zur Korrektur rechtswidriger, bestandskräftiger Bescheide geschaffen worden. Allerdings sollte dabei die rückwirkende Bestandskorrektur grundsätzlich zeitlich beschränkt werden, so dass eine Erweiterung der absoluten Frist nach § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X über die Wiedereinsetzung nicht ermöglicht werden kann (vgl dazu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2015 - L 11 EG 2526/15).

Die Berufung war somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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