L 9 R 3607/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 1609/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 3607/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juli 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1962 geborene Klägerin war zuletzt mit Unterbrechungen in der Zeit von 2005 bis 2010 als Familienpflegerin und ab März 2010 als Hauswirtschaftsleiterin beschäftigt, nachdem sie von 2002 bis 2004 eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Hauswirtschafterin und später die Prüfung zur Dorfhelferin mit Erfolg abgeschlossen hatte. Seit Februar 2014 ist sie arbeitsunfähig krank und bezog Krankengeld.

Am 11.09.2014 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung machte sie einen schleichenden Burnout, eine beidseitige Hüft-TEP, Kniearthrosen beidseits, Bandscheibenschäden an der Halswirbelsäule, Schmerzen im linken Arm, psychische Probleme, ein Überlastungssyndrom und eine Antriebsstörung geltend. Sie verwies insoweit auf einen Entlassungsbericht der Klinik A. 2, B.-B., wo sie sich vom 19.08.2014 bis 16.09.2014 in stationärer Behandlung befand. Im Entlassungsbericht wurden die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, einer Krankheit der Wirbelsäule und des Rückens, nicht näher bezeichnet: mehrere Lokalisationen der Wirbelsäule, einer Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr, BMI von 40 und mehr, psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak: Schädlicher Gebrauch und Migräne, nicht näher bezeichnet, gestellt und sowohl für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Hauswirtschaftsleiterin als auch für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von einer Leistungsfähigkeit von unter drei Stunden ausgegangen.

Unter Berücksichtigung einer sozialmedizinischen Stellungnahme des Dr. C., der die Einschätzung im Rehaentlassungsbericht als nicht nachvollziehbar beurteilte, lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom 29.10.2014 ab. Die Klägerin legte dagegen Widerspruch ein und wies darauf hin, dass auch Dr. C. ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten für erforderlich gehalten habe. Ein solches gab die Beklagte hierauf beim Neurologen und Psychiater Dr. D., in Auftrag. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 25.03.2015 eine Persönlichkeitsstörung, einen Verdacht auf ein latentes Carpaltunnelsyndrom links und eine Adipositas permagna (116 kg/162 cm) fest. Die Einschätzung aus dem Rehabilitationsbericht sei für die Tätigkeit als Hauswirtschaftsleiterin und Hygienebeauftragte in einem Wohnhaus für Behinderte nachvollziehbar. Eine grundsätzliche quantitative Leistungsminderung für den allgemeinen Arbeitsmarkt lasse sich mit den dargestellten Befunden jedoch nicht begründen. Tätigkeiten ohne besonderen Zeitdruck, ohne besondere Anforderungen an die Konfliktfähigkeit, auch ohne besondere Anforderungen an die Fähigkeit zur Teamarbeit, ohne Leitungsfunktionen und auch ohne Schulungsaufgaben, nur zu ebener Erde, ohne Stressfaktoren wie Nacht- oder Wechselschicht könne die Probandin aus nervenärztlicher Sicht auch bis mittelschwer vollschichtig verrichten. Dies schließe auch hauswirtschaftliche Tätigkeiten (mit Anpassung an das Anforderungsprofil) aus nervenärztlicher Sicht nicht grundsätzlich aus. Bezug nehmend auf dieses Gutachten wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2015 zurück.

Gegen den am 12.05.2015 zur Post gegebenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 02.06.2015 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und auf die Einschätzung eines unter dreistündigen Leistungsvermögens im Rehaentlassungsbericht der Klinik A. 2 verwiesen.

Das SG hat Beweis erhoben durch das Einholen sachverständiger Zeugenaussagen beim Neurologen und Psychiater F., der Diplompsychologin G. und dem Orthopäden und Rheumatologen Dr. H. sowie ein Gutachten bei der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. I., Heidelberg, in Auftrag gegeben.

Der Neurologe und Psychiater F. hat unter dem 10.08.2015 über Behandlungen der Klägerin im März und Juli 2015 berichtet, aufgrund derer er die Diagnosen einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome und außerdem einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren gestellt habe. Die Stimmungslage habe sich durchgängig gedrückt gezeigt, der Antrieb reduziert, die affektive Schwingungsfähigkeit zum negativen Pol hin eingeengt. Die Klägerin habe zudem von sozialen Rückzugstendenzen berichtet. Zur Zeit sei die Klägerin sicherlich arbeitsunfähig krank, das derzeitige Leistungsvermögen müsse unter drei Stunden pro Tag liegen, weil sich die Klägerin nicht konzentrieren könne. Die Auffassungsgabe und Konzentrationsfähigkeit sei erheblich beeinträchtigt, trotz relativ hoch dosierter medikamentöser Behandlung. Die Psychologische Psychotherapeutin G. hat unter dem 15.08.2015 über eine Behandlung seit März 2014 berichtet. Sie hat die Auffassung vertreten, dass sich der Gutachter in der kürzlich stattgefundenen lediglich mehrstündigen einmaligen Begutachtungssituation (ihrer Auffassung nach sicherlich nicht unerwartet) nahezu zwangsläufig ähnlich auch über die erwerbsrelevante Kompetenz bzw. allgemeine Spannkraft der Klägerin habe täuschen lassen, weil sich die Begutachtete genauso wie in der Therapie als weniger beeinträchtigt darstelle, als es ihrer eigentlichen Verfassung entspreche. Es lägen nach Relativierung der Befunde durch die erkannte Dissimulationsneigung nach inzwischen einjähriger Dauer der Therapie erwerbsmindernde Störungen gravierenden Ausmaßes vor, u. a. wegen der weiterhin bestehenden Erholungsunfähigkeit (trotz möglicherweise verbesserter medikamentöser Einstellung in Bezug auf Antrieb und Stimmung). Hierzu hat sie ergänzend ihren Bericht in einem parallel bei der 4. Kammer des SG anhängigen Verfahren (S 4 SB 3964/14) auf Feststellung des Grades der Behinderung beigefügt. Dr. H. hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 14.09.2015 über eine Behandlung der Klägerin von April 2005 bis April 2014 berichtet. Er hat die Auffassung vertreten, dass die Klägerin unter Berücksichtigung der von ihm festgestellten ausgeprägten Adipositas, einer wiederkehrenden Lumboischialgie, einer mäßigen Kniegelenksarthrose rechts mehr als links und Hüftgelenksendoprothesen beidseits mit gutem Sitz, ohne Lockerungszeichen und ohne Beschwerdeangabe, ohne Gefährdung der Gesundheit eine leichte körperliche Tätigkeit sechs Stunden täglich verrichten könne.

In ihrem Gutachten vom 30.03.2016 hat Dr. I. eine chronifizierte Depression im Sinne einer Dysthymia festgestellt. Die aktuelle Krankheitsentwicklung sehe sie auf dem Boden einer primären Persönlichkeitsproblematik. Ihrer Überzeugung nach liege eine kombinierte Persönlichkeitsstörung vor mit histrionischen, jedoch auch zwanghaften, dependenten und depressiven Anteilen. Diese primäre Persönlichkeitsproblematik mache es der Klägerin schwer, sich konstruktiv mit dysfunktionalen Verhaltensmustern auseinanderzusetzen und entsprechende Verhaltensänderungen zu initiieren. Dementsprechend seien den therapeutischen Möglichkeiten Grenzen gesetzt, was sich auch in der aktuellen Behandlung zeige. Weder die psychotherapeutische Behandlung noch die medikamentöse Therapie hätten letztlich zu einer nachhaltigen Besserung beigetragen. Durch die Gesundheitsstörungen bestünden Einschränkungen hinsichtlich der Freudfähigkeit, des Antriebs, der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit, des Durchhaltevermögens. Insbesondere das Konflikt- und Stressbewältigungsvermögen seien vermindert. Die Klägerin neige zur Überschreitung ihrer eigenen Leistungsgrenzen mit daraus resultierender Überforderung. Unter Berücksichtigung weiterer, näher ausgeführter qualitativer Einschränkungen seien der Klägerin leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, Tätigkeiten mit Publikumsverkehr (wenn diese nicht unter Zeitdruck durchgeführt werden müssten) und Tätigkeiten mit einer gewissen Verantwortung, wenn keine Leitungsfunktionen übernommen würden, drei bis unter sechs Stunden täglich zumutbar. Für die Beklagte haben in sozialmedizinischen Stellungnahmen Dr. Lukas (22.10.2015) und Dr. K. (11.05.2016) Stellung genommen. Den Beteiligten wurde das nervenärztliche Gutachten der Dr. J. vom 06.10.2015 im Verfahren S 4 SB 3964/14 zur Kenntnis gegeben. Hierzu hat Dr. K. ausgeführt, dass sich weder aus dem Gutachten von Dr. I. noch aus dem Gutachten von Dr. J. ein zweifelsfreier Beleg für ein gemindertes quantitatives Leistungsvermögen der Klägerin ergebe.

Mit Urteil vom 26.07.2016 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ausgehend von einem Leistungsfall im September 2014 ab April 2015 bis 30.09.2017 zu bezahlen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein. Die Kammer komme aufgrund der vorliegenden Sachverständigengutachten und aufgrund des persönlichen Eindrucks, den die Klägerin in der öffentlichen Sitzung hinterlassen habe, zu der Überzeugung, dass diese nur noch lediglich drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein könne. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 26.07.2016 verwiesen.

Gegen das der Beklagten am 31.08.2016 zugestellte Urteil hat diese am 27.09.2016 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, dass sich aus dem Gutachten, welches das SG seiner Entscheidungsfindung hauptsächlich zugrunde gelegt habe, kein schweres, rentenrelevantes Krankheitsbild entnehmen lasse. Hinsichtlich der erhobenen Befunde und deren Bewertung sei es weder ausreichend schlüssig noch genügend nachvollziehbar.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 03.07.2017 Anschlussberufung eingelegt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juli 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen, sowie die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen sowie das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Juli 2016 abzuändern, den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. April 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit bis 30. September 2020 zu gewähren.

Die Klägerin ist der Berufung entgegengetreten. Sie verweist auf die Urteilsgründe und ergänzt, dass Dr. J. in ihrem Gutachten vom 06.10.2015 mit einem Teil-GdB von 30 für die seelische Störung von einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ausgegangen sei, sodass die Ausführungen der Beklagten, wonach keine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorliege, nicht überzeugten.

Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen eines Gutachtens bei der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L ... Diese hat in ihrem Gutachten vom 16.03.2017 auf psychiatrischem Fachgebiet eine histrionische Persönlichkeitsstörung und eine Dysthymia festgestellt. Dadurch werde die Klägerin im Bereich des emotionalen Erlebens, der emotionalen und der Stressbelastbarkeit beeinträchtigt. Die Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet führten zu keinen Einschränkungen des Leistungsvermögens in Bezug auf körperliche Merkmale wie Schwere und Körperhaltung einer Tätigkeit. Aufgrund vorliegender psychischer Beeinträchtigungen seien keine Tätigkeiten mehr möglich, die unter Zeit- und Leistungsdruck erfolgten sowie unter Akkord- und Fließbandarbeit. Es seien aufgrund der Möglichkeit der Verschlechterung der depressiven Symptomatik ferner keine Tätigkeiten mehr möglich, die eine ständige Änderung des Tag-Nacht-Rhythmus mit sich bringen. Tätigkeiten, die eine anhaltend hohe Aufmerksamkeitsleistung erforderten, wie beispielsweise anspruchsvollere Überwachungstätigkeiten in der Industrie, Personenbeförderung seien ebenfalls auszuschließen. Gleiches gelte für Tätigkeiten, die ein erhöhtes Maß an emotionalem Einfühlungsvermögen erfordern oder ein erhöhtes Maß an emotionaler Belastbarkeit, wie beispielsweise in so genannten sozialen Berufen. Tätigkeiten, die ganz überwiegend in eigenverantwortlicher Arbeitsstrukturierung erfolgten oder in Leitung und Führung seien aufgrund der vorliegenden Persönlichkeitsstruktur nicht möglich. Noch möglich seien geistig in normalem Maß beanspruchende Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, wie sie sich in Dienstleistung und Produktion finden. Die zumutbaren Arbeiten könnten noch täglich in einer Arbeitszeit von mindestens sechs Stunden verrichtet werden, besondere Arbeitsbedingungen seien dabei nicht erforderlich. Die Klägerin sei auch noch in der Lage, sich auf Anforderungen einzustellen, die mit der Aufnahme einer neuen Tätigkeit verbunden sind. Sie weiche in ihrer Beurteilung in Bezug auf die Leistungsfähigkeit vom Gutachten Dr. I. ab. Im Befund fänden sich keine wesentlichen Abweichungen zu dem jetzigen Befund, in der diagnostischen Einordnung des Erkrankungsbildes bestehe weitgehende Übereinstimmung. Dr. I. sehe vorrangig histrionische Anteile, die auch die vorliegende Verdeutlichung begründe, benenne daneben aber auch zwanghafte, dependente und depressive Anteile, zu denen nicht näher ausgeführt werde. In ihrem psychischen Befund und in der zusammenfassenden gutachterlichen Beurteilung lege sie eine milde depressive Symptomatik ohne Störung der Ausdauerleistung oder konzentrativen Belastbarkeit oder weitere kognitive Beeinträchtigungen dar. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung sei eine quantitative Leistungsminderung der täglichen Arbeitszeit aus den persönlichkeitsbedingten Einschränkungen der Klägerin nicht ableitbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung der Beklagten ist auch begründet. Die unselbstständige Anschlussberufung der Klägerin ist unbegründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung hat.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünftagewoche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert, dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand Dezember 2016, § 43 SGB VI, Rn. 58 und 30 ff.).

Die Klägerin ist, an diesem gesetzlichen Maßstab orientiert, zur Überzeugung des Senats nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert. Ihr steht daher keine Rente zu.

Eine Erwerbsminderung der Klägerin, das heißt ein Absinken ihrer beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als sechs Stunden täglich, lässt sich zur Überzeugung des Senats nicht belegen. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus der Gesamtwürdigung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere des Gutachtens von Dr. D., das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, sowie des Gutachtens von Dr. L ... Soweit der Reha-Entlassungsbericht der Klinik A. 2, der Neurologe und Psychiater F., die Psychologische Psychotherapeutin G. und das Gutachten von Dr. I. eine andere Leistungsbeurteilung vertreten, vermochte sich der Senat dieser nicht anzuschließen. Der Senat sieht es nicht für nachgewiesen an, dass die Klägerin aufgrund der vorliegenden psychiatrischen Gesundheitseinschränkungen nicht mehr zumutbar sechs Stunden am Tag im Rahmen einer Fünftagewoche beschäftigt werden kann.

Soweit Einschränkungen der Leistungsfähigkeit der Klägerin auf orthopädischen Erkrankungen (ausgeprägte Adipositas, wiederkehrende Lumboischialgie, mäßige Kniegelenksarthrose rechts mehr als links und Hüftgelenksendoprothesen beidseits mit gutem Sitz, ohne Lockerungszeichen und ohne Beschwerdeangabe, so die Angaben des behandelnden Orthopäden Dr. H. in seiner sachverständigen Zeugenaussage vor dem SG) beruhen, ist sie dadurch zwar in qualitativer Hinsicht eingeschränkt, eine zeitliche Leistungsminderung lässt sich mit diesen aber nicht begründen. Schlüssig und überzeugend hat hierzu der Orthopäde Dr. H. ausgeführt, dass aufgrund der auf seinem Fachgebiet vorliegenden Diagnosen nur Tätigkeiten ausgeschlossen werden, die das Zurücklegen langer Wegstrecken oder das Heben und Tragen von schweren Gegenständen über 10 kg erfordern. Im Übrigen besteht aber – wie er ausgeführt hat – ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Dem schließt sich der Senat vollumfänglich an.

Eine zeitliche Leistungsminderung ist auch nicht aufgrund der gestellten psychiatrischen Diagnosen eingetreten. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen in dem von ihm eingeholten Gutachten von Dr. L., wonach weder der psychopathologische Befund noch das Persönlichkeitsbild der Klägerin die Annahme einer zeitlichen Leistungsminderung für die von Dr. L. näher bezeichneten noch möglichen Tätigkeiten rechtfertigt. Bei der im März 2017 durchgeführten psychiatrischen Begutachtung, die eine deutlich mehr als dreistündige Anamneseerhebung beinhaltete, ist Dr. L. nachvollziehbar und zur Überzeugung des Senats zunächst zu dem Ergebnis gelangt, dass sich keine depressive Symptomatik im Befund hat feststellen lassen und dass sich unter Auswertung der vorliegenden Berichte in den Akten und auch unter Einbeziehung der Stellungnahmen der Behandler (des Arztes für Psychiatrie und Neurologie F. und der Diplompsychologin G.) allenfalls die Diagnose einer Dysthymia stellen lässt.

So hat Dr. L. im Bereich der kognitiven Leistungsfähigkeit keine Abweichungen von einem normalen Befund feststellen können. Die Auffassungsgabe war ungestört, die Aufmerksamkeit und das Konzentrationsvermögen waren durchgehend gut, über die Gesamtdauer der Untersuchung (durchgehender Kontakt zur Klägerin 3 Stunden und 40 Minuten) ohne geistige oder psychische Ermüdung und Erschöpfung. Andere psychische Symptome wie eine Verlangsamung oder eine Verarmung des Denkens oder eine Gedächtnisstörung waren ebenso wenig feststellbar wie Symptome aus dem Bereich einer Störung der organischen Hirnleistung (höhere Hirnregion). Auch ließen sich die von der Klägerin geklagten Wortfindungsstörungen nicht feststellen, die Wortbildung und Benennung war durchgehend flüssig und ungestört. Ein Störungsbild im Bereich der Affektivität zeichnete sich ebenfalls nicht ab, weil die Grundstimmung in der Gesamtschau über den Verlauf der Begutachtung ausgeglichen gewesen ist und eine normale affektive Resonanzfähigkeit vorgelegen hat. Die im 1. Viertel des psychiatrischen Gesprächs beobachtbaren Auffälligkeiten lagen auf der Ebene des Verhaltens und waren nicht einem depressiven Erkrankungsbild zuzuordnen. Bei der Klägerin hat durchgehend eine ungestörte Antriebslage vorgelegen, im Gespräch war sie aufmerksam, interessiert, in normalem Maß hat sie spontane Reaktionen und Eigeninitiative gezeigt. Ferner hat sich keine erhöhte Selbstunsicherheit und auch keine Ängstlichkeit im Rahmen der Interaktion im Gespräch feststellen lassen. Des Weiteren hat die Sachverständige ausgeführt, dass mögliche weitere depressive Symptome sich nicht haben erfassen lassen. Der Denkablauf war flüssig, es hat keine Hemmung des Denkens vorgelegen und es hat auch keine gedankliche Einengung bestanden. Zu den unterschiedlichsten Themenbereichen hat die Klägerin spontan berichtet, die Gestik und Mimik waren, nachdem die beobachtbaren Auffälligkeiten im Verhalten zu Beginn aufgehört hatten, durchgehend bis zum Ende der Begutachtung lebendig, insgesamt sogar zum Lebhaften neigend vorhanden. Ferner hat die Sachverständige deutlich gemacht, dass mögliche andere psychiatrische Erkrankungsbilder, wie eine Schizophrenie oder eine Zwangserkrankung nicht vorliegen. Auch der neurologische Befund war nicht richtungsweisend. Gleiches gilt für die EEG-Untersuchung. Schließlich hat sich die Sachverständige auch ausführlich mit dem möglichen Vorliegen einer Angsterkrankung auseinandergesetzt und diese überzeugend und nachvollziehbar verneint. Ebenso überzeugend ist für den Senat, dass sich die in der Vergangenheit geschilderten erheblichen Beeinträchtigungen (im Sinne einer schweren ausgeprägten depressiven Symptomatik) nicht plausibel erfassen ließen, weil eben kein Verlust der Tagesstrukturierung und/oder ein ausgeprägter sozialer Rückzug festgestellt werden konnte. Die Klägerin war und ist auch weiterhin in der Lage, ihre Angelegenheiten im Schriftverkehr, wie z. B. auch den anstehenden Hausverkauf, selbst zu erledigen, einkaufen zu gehen, Termine wahrzunehmen, mit dem eigenen Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren (wie nunmehr zur durchgeführten Begutachtung), auch über längere Strecken hinweg und mit Umsteigen. Schließlich zeigt Dr. L. überzeugend auf, dass sich die während der psychosomatischen Rehabilitation im August/September 2014 gestellte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, mittelgradige Episode, unter Berücksichtigung der Befunde in den Gutachten von Dr. D., Dr. J. und Dr. I. im Jahr 2015 zurückgebildet hat. Bereits im März 2015 hat Dr. D. eine solche Diagnose nicht mehr gestellt. Und auch Dr. I. hat in ihrem Gutachten im März 2016 einen weitgehenden Normalbefund beschrieben. Insoweit vermag auch die Diagnose von Dr. J. in deren Gutachten vom 06.10.2015 nicht zu überzeugen, weil Dr. L. zu Recht darauf hinweist, dass diese selbst auf eine nur niederschwellige psychiatrische Behandlung verweist und in ihrem klinischen Befund eine "allenfalls" mittelschwere depressive Symptomatik gesehen hat. Dr. J. hat ihren Befund auch dadurch relativiert, dass sie eine "nicht unerhebliche Verdeutlichungstendenz im Sinne eines bewusstseinsnahen suboptimalen Antwortverhaltens" beschrieben hat. Im Übrigen hat auch Dr. I. während der mehrstündigen Begutachtung keine Störungen der Ausdauerleistung und der konzentrativen Belastbarkeit festgestellt. Gleiches gilt für kognitive oder mnestische Defizite.

Dr. L. hat sich ferner mit den Diagnosen in den vorangegangenen Gutachten von Dr. D., Dr. I. und Dr. J. ausführlich auseinandergesetzt. Dabei hat sie sich in diesem Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsbild der Klägerin, der Einordnung der Auffälligkeiten zu Beginn der gutachterlichen Untersuchung (Auffälligkeiten im Bewegungsablauf: Langsames, den Oberkörper nach vorne geneigtes Gehen mit Hinken, häufigem Stöhnen, das später nicht mehr beobachtbar gewesen ist, ferner in der Körperhaltung beim Sitzen [ohne Blickkontakt, Mütze anbehaltend, Seufzen und Stöhnen und langsame Sprechweise, ausgesprochen dominierendes Verhalten bei Beginn der Exploration]) auseinandergesetzt und nachvollziehbar die von ihr gestellte Diagnose einer infantilen Persönlichkeitsstörung im Sinne einer histrionischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.4) begründet. Auch insoweit hat sie sorgfältig die erhobenen Befunde im Gutachten von Dr. I., welche von dependenten Zügen ausgegangen war, hinterfragt und auch nicht nur hierauf bezogen überzeugend daran festgehalten, dass diese Einschätzung hier nicht zutrifft. Hierfür spricht insbesondere, dass sich im Hinblick auf die Darstellung von Beschwerden eindeutig eine Verdeutlichung in Bezug auf psychische Beeinträchtigungen wie Müdigkeit, Kraftlosigkeit, niedergeschlagener Stimmung ableiten lässt. Eine Verdeutlichung hat zudem auch bei körperlichen Beschwerden, wie schmerzeingeschränktem Gehen zu Beginn, sich das Ohr zuhalten, festgestellt werden können, wobei diese Tendenz zur Verdeutlichung in der Art der Störung liegt, sie also ein Bestandteil bzw. ein Merkmal dieser Diagnose ist.

Aufgrund der histrionischen Persönlichkeitsstörung, deren Beginn die Sachverständige bereits im frühen Erwachsenenalter verortet, und der Dysthymia ist die Klägerin im Bereich des emotionalen Erlebens, der emotionalen und der Stressbelastbarkeit beeinträchtigt. Diese führen nicht zu einer Einschränkung des Leistungsvermögens in Bezug auf körperliche Merkmale wie der Schwere, dem Tragen von Lasten oder einer Körperhaltung einer Tätigkeit. Durch diese Erkrankungen sind keine Tätigkeiten mehr möglich, die unter Zeit- und Leistungsdruck erfolgen, wie Akkord- und Fließbandarbeit. Es sind wegen der Möglichkeit der Verschlechterung der depressiven Symptomatik ferner keine Tätigkeiten mehr möglich, die eine ständige Änderung des Tag-Nacht-Rhythmus mit sich bringen, wie dies etwa bei Schichtarbeit der Fall ist. Auch Tätigkeiten, die eine anhaltend hohe Aufmerksamkeitsleistung erfordern, wie beispielsweise anspruchsvollere Überwachungstätigkeit in der Industrie oder Personenbeförderung sind aufgrund der depressiven Erkrankung nicht möglich. Gleiches gilt für Tätigkeiten, die ein erhöhtes Maß an emotionalem Einfühlungsvermögen erfordern oder ein erhöhtes Maß an emotionaler Belastbarkeit, wie beispielsweise in so genannten sozialen Berufen. Tätigkeiten, die ganz überwiegend in eigenverantwortlicher Arbeitsstrukturierung erfolgen oder in Leitung und Führungen sind auch hier überwiegend aufgrund der Persönlichkeitsstrukturierung nicht mehr einforderbar. Einschränkungen bestehen aber nicht, soweit es sich um Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes handelt, die die Klägerin in einem normalen Maß beanspruchen, wie sie sich im Bereich der Dienstleistungen und Produktion finden. Solche Tätigkeiten können nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen noch mit einer täglichen Arbeitszeit von mindestens sechs Stunden verrichtet werden, ohne dass hierfür besondere Arbeitsbedingungen erforderlich sind. Die Sachverständige hat auch deutlich gemacht, dass die Klägerin aufgrund dieser Erkrankungen nicht beeinträchtigt ist, sich auf Anforderungen einzustellen, die mit der Aufnahme einer neuen Tätigkeit verbunden sind.

Der Senat hat keine Veranlassung, an dieser Einschätzung, die in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Dr. D. steht, zu zweifeln, zumal sie ausführlich unter Berücksichtigung der vorliegenden Gutachten und der darin vertretenen Auffassungen begründet worden ist. Insbesondere lässt sich die Einschätzung von Dr. I. nicht weiter aufrechterhalten, der Klägerin könnten oben genannte Tätigkeiten nur drei bis unter sechs Stunden zugemutet werden. Die von ihr herangezogenen zwanghaften, dependenten und depressiven Anteile an der histrionischen Persönlichkeitsstörung hat sie nicht überzeugend darzulegen vermocht. Schließlich ist Dr. I. – ebenfalls – nur von einer milden depressiven Symptomatik ohne Störung der Ausdauerleistung oder konzentrativen Belastbarkeit und ohne weitere kognitive Beeinträchtigungen ausgegangen, weshalb schon die von ihr beschriebenen Befunde eine quantitative Leistungsminderung der täglichen Arbeitszeit für die oben genannten beschriebenen Tätigkeiten in Dienstleistung und Produktion nicht zu begründen vermögen, wenn die bereits benannten qualitativen Einschränkungen berücksichtigt werden. Dem schließt sich der Senat in vollem Umfange an und sieht die anderslautenden Einschätzungen des zeitlichen Leistungsvermögens – auch und insbesondere mit Blick auf den vom SG angenommenen Leistungsfall – von Dr. I. sowie der behandelnden Ärzte bzw. der Psychologischen Psychotherapeutin durch dieses Gutachten als widerlegt an.

In der vorliegenden Fallgestaltung liegen auch keine Anhaltspunkte für eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen können. Auch liegt im Fall der Klägerin kein Seltenheits- oder Katalogfall vor, der zur Pflicht der Benennung eines konkreten Arbeitsplatzes führen könnte.

Unter Berücksichtigung dessen hat das Sozialgericht zu Unrecht die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung mit einem Leistungsfall im September 2014 angenommen, weswegen das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben war. Dementsprechend konnte die von der Klägerin erhobene Anschlussberufung keinen Erfolg haben. Ein Eintritt eines Leistungsfalles zeitlich nach dem vom SG angenommenen ist unter Berücksichtigung des Gutachtens von Dr. L., dem der Senat folgt, nicht ersichtlich.

Unter Berücksichtigung dieses Beweisergebnisses war die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und beruht auf dem Unterliegen der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Rechtskraft
Aus
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