Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 4 R 895/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 R 442/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 02.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2010 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger von der Versicherungspflicht für die Lehrstuhltätigkeit an der Universität L. vom 01.04.2010 bis 16.07. 2010 zu befreien. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Lehrstuhlvertreter an der Universität L. von der Versicherungspflicht zu befreien ist.
Der Kläger ist selbständig und freiberuflich tätiger Rechtsanwalt. In der Vergangenheit war der Kläger mehrfach, zeitlich auf die Vorlesungszeit begrenzt, als Lehrstuhlvertreter an der Universität L. tätig, zuletzt vom 01.10.2009 bis 12.02.2010. Für diese Tätigkeit befreite die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und nachfolgend die Beklagte den Kläger jeweils von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).
Mit Schreiben vom 18.04.2010, gerichtet an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen zur Weitergabe an die Beklagte, beantragte der Kläger für eine (Anschluss-)Lehrstuhlvertretung vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 an der Universität L. erneut die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Kläger begründete den Antrag mit seiner gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf und seiner Pflichtmitgliedschaft in dem Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen. Beigelegt war dem Antrag ein Schreiben der Universität L. vom 03.03.2010, in dem dem Kläger eine Vertretungsprofessur mit halbem Lehrdeputat für das Fachgebiet "Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht" für die Zeit vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 übertragen wird. Auf Nachfrage der Beklagten teilte der Kläger mit, dass die zeitliche Belastung für die Lehrstuhlvertretung bei vier Semesterwochenstunden, mitsamt Vorbereitung der Veranstaltungen etwa bei acht bis zehn Stunden in der Woche liege. Im Schwerpunkt sei er (weiterhin) als Rechtsanwalt freiberuflich tätig. Mit Bescheid vom 02.07.2010 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Befreiung von der Versicherungspflicht ab. Die Befreiung für eine zeitlich im Voraus befristete berufsfremde Nebenbeschäftigung setze voraus, dass in der Vergangenheit eine Befreiung für eine berufsständische Hauptbeschäftigung gem. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI erteilt worden sei, die im Hinblick auf die berufsspezifische Hauptbeschäftigung noch aktuell wirksam sei. Da der Kläger als selbständiger Rechtsanwalt nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliege, sei eine Befreiung für die berufsspezifische Tätigkeit weder möglich noch erforderlich.
Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und machte geltend, dass es in der Vergangenheit bereits mehrfach Befreiungen für seine Lehrstuhlvertretungen gegeben habe. Die Beklagte habe den Regelungszweck des § 6 SGB VI zu beachten, wonach Doppelversorgungen vermieden werden sollten. Hier sei auf die Teleologie Rückgriff zu nehmen. Auch liege mit Blick auf Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eine Ungleichbehandlung zu abhängig beschäftigten Rechtsanwälten vor, die sich befreien lassen könnten. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Ergänzend zu ihrem Vorbringen im ablehnenden Bescheid vom 02.07.2010 macht die Beklagte im Widerspruchsbescheid mit Blick auf § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI geltend, dass es sich bei der Lehrstuhlvertretung um keine berufsspezifische anwaltliche Beschäftigung handele.
Hiergegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 06.12.2010 Klage erhoben. Die Klägerseite weist ergänzend zu ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren darauf hin, dass eine Befreiung zu erteilen sei, wenn bereits anderweitig die Versorgung - wie im Falle des Klägers - gesichert sei. Ziel sei die Einheitlichkeit der Alterssicherung. Auch entspreche die Lehrtätigkeit dem Berufsbild des Rechtsanwalts.
Der Klägerbevollmächtigte beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 02.07.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 11.11.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger von der Versicherungspflicht für die Lehrstuhltätigkeit an der Universität L. vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass § 6 SGB VI keine pauschale Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für Mitglieder eines Versorgungswerks aussprechen soll. Seit dem Jahre 2010 habe man die Verwaltungspraxis hinsichtlich der Befreiung gemäß § 6 Abs. 1, 5 SGB VI geändert. Eine Ungleichbehandlung zwischen rentenversicherungspflichtig beschäftigten Angestellten (hier: rentenversicherungspflichtig beschäftigten Rechtsanwälten) und selbstständig Tätigen (hier: selbstständig tätigen Rechtsanwälten) liege nicht vor, da keine Vergleichbarkeit der Lebenssachverhalte vorliege.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 02.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2010 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil der Bescheid rechtswidrig ist. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger von der Versicherungspflicht für die Lehrstuhltätigkeit an der Universität L. vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 zu befreien. Dies folgt aus § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 SGB VI. Ob sich mit Blick auf die Vielzahl vorheriger Befreiungsbescheide der Beklagten ein Befreiungsanspruch des Klägers auch aus der Rechtsfigur der Selbstbindung der Verwaltung ergäbe, kann offen bleiben.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Kläger in seiner Tätigkeit als Lehrstuhlvertreter grundsätzlich der (Renten-)Versicherungspflicht unterfällt. Nach eigenen Angaben des Klägers und auch laut Schreiben der Universität L. vom 03.03.2010 dürfte die Versicherungspflicht des Klägers schon gemäß § 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI in Verbindung mit § 7 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGV IV) zu bejahen sein, dies etwa im Hinblick auf die Vorgabe des Stunden- bzw. Vorlesungsplans. Aber auch bei Verneinung einer abhängigen Beschäftigung wäre die Versicherungspflicht des Klägers für die Tätigkeit des Lehrstuhlvertreters zu bejahen, und zwar gemäß § 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI. Demnach sind auch selbstständig tätige Lehrer, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, versicherungspflichtig. Der Begriff des Lehrers ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen. Die Tätigkeit des Lehrers umfasst jede Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, gleich auf welchem Gebiet (vgl. Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 72. Ergänzungslieferung 2012, § 2 SGB VI Rn. 8). Sofern der Kläger nicht schon als abhängig Beschäftigter der Universität L. anzusehen ist, wäre er - der auch keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer insoweit beschäftigt (anders als die Universität L.) - als Lehrer und damit Versicherungspflichtiger gemäß § 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI anzusehen.
Der Kläger ist hinsichtlich seiner Lehrstuhlvertretung nicht gemäß § 5 SGB VI versicherungsfrei. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger als Beamter oder beamtenähnlich durch die Universität L. bzw. das Land I. versorgt bzw. abgesichert wäre, dies trotz Vergütung in Anlehnung an die Besoldungsgruppe W 2. Auch ist eine geringfügige Beschäftigung bzw. geringfügige selbstständige Tätigkeit gem. § 5 Abs. 2 SGB VI in Verbindung mit §§ 8 f. SGB IV nicht ersichtlich. Der Kläger erfüllt insbesondere weder den Tatbestand der Entgeltgeringfügigkeit (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV) noch den Tatbestand der Zeitgeringfügigkeit (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV). Hinsichtlich letzterem ist anzumerken, dass der Kläger bereits im Wintersemester 2009/2010 die Lehrstuhlvertretung an der Universität L. wahrgenommen hat, also bereits vor dem in Rede stehenden Zeitraum vom 01.10.2009 bis 12.02.2010 für die Universität L. tätig gewesen war.
Allerdings kann sich der Kläger gemäß § 6 SGB VI von der Versicherungspflicht auf Antrag befreien lassen, und dies nicht – wie von der Beklagten angemerkt – pauschal wegen seiner Mitgliedschaft in einem Versorgungswerk. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 SGB VI lautet:
(1) Von der Versicherungspflicht werden befreit 1. Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist,
2. [ ]
(5) Die Befreiung ist auf die jeweilige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit beschränkt. Sie erstreckt sich in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und 2 auch auf eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist und der Versorgungsträger für die Zeit der Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet.
Der Kläger, der einen erforderlichen Antrag gemäß § 6 Abs. 2, 4 SGB VI gestellt hat, ist selbstständig tätiger Rechtsanwalt. Wegen dieser Tätigkeit ist er Pflichtmitglied in der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf, also Mitglied einer berufsständischen Kammer, und zugleich Mitglied des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen, also Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung. Für die Tätigkeit als Rechtsanwalt ist der Kläger – dies wird auch von der Beklagten nicht infrage gestellt – unstreitig nicht versicherungspflichtig. Bestünde im Grundsatz eine Versicherungspflicht, wäre der Kläger gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht zu befreien.
Für die Kammer stellte sich bei Anwendung des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI (gegen eine Anwendung der Norm spricht sich in einem vergleichbaren Fall insoweit zu Recht aus: LSG NRW, Urteil vom 16.07.2001, Az: L 3 RA 73/00) mit Blick auch auf § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI schon die Frage, ob die Lehrstuhltätigkeit des Klägers und damit letztlich die Dozententätigkeit des Klägers nicht schon der (befreiten) rechtsanwaltlichen Tätigkeit zuzuordnen wäre (dies verneint die Beklagte und indirekt auch der Kläger in seinen Antragsschreiben). Unter anwaltlicher Tätigkeit versteht man gemeinhin die rechtsberatende, rechtsentscheidende, rechtgestaltende, aber eben auch rechtsvermittelnde Tätigkeit (vgl. Schmidt in Kreikebohm [Hrsg.], SGB VI-Kommentar, 3. Auflage 2008, § 6 Rn. 102 unter Verweis auf Esser, AnwBl 2007, S. 17, 19; Kilger/Prossliner, NJW 2006, S. 3108, 3111; Wirges, NZS 2006, S. 19, 25; Ettwig, SGb 2005, S. 441, 445). Um eine rechtsvermittelnde Tätigkeit könnte es sich vorliegend bei der Lehrtätigkeit im Bereich "Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht" handeln. Hier ist zum einen der sich offensichtlich verschärfende Konkurrenzdruck unter den Rechtsanwälten zu beachten, der nach Eindruck der Kammer mehr und mehr dazu führt, dass durch Dozententätigkeiten unmittelbar oder mittelbar (und sei es durch Angabe der Dozententätigkeit auf Briefkopf oder homepage) Mandanten gewonnen werden sollen. Zum anderen ist speziell an Universitäten zu beobachten, dass die Praxisvermittlung und hierbei insbesondere die Bedeutung des rechtsanwaltlichen Berufsbildes zunimmt. Diese Entwicklung ist auch durch Änderungen einer Vielzahl von Hochschulgesetzen bzw. Studienordnungen und Prüfungsordnungen nachzuvollziehen.
Jedenfalls ist der Kläger nach Auffassung der Kammer gemäß § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI von der Versicherungspflicht zu befreien, da er mit seiner Lehrstuhltätigkeit einer – wie oben ausgeführt - versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgeht, die im Voraus zeitlich begrenzt ist, und der Versorgungsträger für die Zeit vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet (bzw. gewährleisten könnte und würde). Die Kammer verkennt dabei nicht, dass der (weitere) Wortlaut gegen dieses Ergebnis spricht, bezieht er sich doch explizit auf "eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit" und setzt damit voraus, dass der Kläger in seiner "Haupttätigkeit", hier der Tätigkeit als Rechtsanwalt, versicherungspflichtig ist. Das ist allerdings gerade nicht der Fall, da der Kläger selbstständig tätiger Rechtsanwalt ist (und die Vorschrift des § 2 SGB VI insoweit nicht greift). Allerdings führt der Wortlaut der Norm zu einem verfassungsrechtlich zweifelhaften Ergebnis. Die verfassungskonforme Auslegung legt es – unter Berücksichtigung der teleologischen und historischen Auslegung – nahe, dass entgegen dem Wortlaut des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI die (Erstreckung der) Befreiung von der Versicherungspflicht nicht nur auf grundsätzlich versicherungspflichtige "Haupttätigkeiten" beschränkt sein darf. Auch wenn eine selbstständige und – wie hier - damit grundsätzlich nicht versicherungspflichtige Haupttätigkeit (hier die Tätigkeit als Rechtsanwalt) ausgeübt wird, die bei angenommener Versicherungspflicht eine Befreiung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI nach sich zöge, kann eine Befreiung für eine Nebentätigkeit unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI auszusprechen sein. Dies ergibt sich aus der teleologischen mitsamt historischen Auslegung unter Berücksichtigung von Art. 12 GG und insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG, unter Berücksichtigung also letztlich von Verfassungsrecht. Die verfassungskonforme Auslegung als Teil der systematischen Auslegung ist dabei durch die sogenannte Wortlautauslegung bzw. grammatikalische Auslegung nicht vorgegeben. Vielmehr ist sie vorrangig zu beachten.
Der systematischen Auslegung gebührt der Vorrang, auch gegenüber der grammatikalischen Auslegung. Zwar wird die Ansicht vertreten, dass der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn nicht nur den Ausgangspunkt, sondern zugleich die Grenze der Auslegung bilde, da das, was jenseits des möglichen Wortsinns liege und mit ihm auch bei weitester Auslegung nicht mehr vereinbar sei, nicht als Inhalt des Gesetzes gelten könne (vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1999, S. 163 f.; siehe auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 182). Allerdings ist festzuhalten, dass die Sprache ein oftmals mehrdeutiges und unsicheres Transportmittel für den von der Gesetzgebung gewollten Gebotsinhalt ist und sich ein übertriebener Buchstabengehorsam trotz der großen Bedeutung des Wortlauts als Irrweg darstellen würde (so zu Recht Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auflage 2008, Rn. 729, 731 ff., 743). Wegen des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung gebührt im Falle der Kollision zwischen mehreren Auslegungskriterien der systematischen Auslegung der Vorrang (vgl. Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 179; siehe auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 565). Jedenfalls ist auch die systematische Interpretation stets heranzuziehen, weil keine Vorschrift für sich alleine steht und trotz scheinbar eindeutigen Wortlauts den Gebotsgehalten später erlassener oder höherrangiger Rechtsvorschriften widersprechen könnte (Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auflage 2008, Rn. 731 ff., 743). Unter der systematischen Auslegung ist hierbei auch die verfassungskonforme Auslegung zu fassen (Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auflage 2008, Rn. 767, 763; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1966, S. 25 f.).
Eine Befreiungsmöglichkeit für die Nebentätigkeit (hier: der Lehrstuhlvertretung) gem. § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI ist – entgegen dem Wortlaut bzw. über diesen hinaus – mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG möglich (siehe aber an dieser Stelle auch BSG, Urteil vom 09.03.2005, Az: B 12 RA 8/03 R [= NZS 2006, 151]; BVerfG, Beschluss vom 31.08.2004, Az: 1 BvR 285/01 [= NZS 2005, 253]; hierzu auch Schmidt in Kreikebohm [Hrsg.], SGB VI-Kommentar, 3. Auflage 2008, § 6 Rn. 100 unter Verweis auf Papier, AnwBl 2007, 97). Die Beeinträchtigung des Art. 3 Abs. 1 GG setzt eine Ungleichbehandlung voraus, d.h. eine unterschiedliche Behandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte (statt vieler: Jarass in Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 10. Auflage 2009, Art. 3 Rn. 6). Vorliegend erscheint es für die erkennende Kammer wenig überzeugend, abhängig Beschäftigte (hier: abhängig beschäftigte und damit grundsätzlich rentenversicherungspflichtige Rechtsanwälte) und Selbstständige (hier selbstständig tätige und damit grundsätzlich nicht rentenversicherungspflichtige Rechtsanwälte) mit Blick auf ihre sozialversicherungsrechtliche Einordnung zu vergleichen (so aber LSG NRW, Urteil vom 16.07.2001, Az: L 3 RA 73/00). Zwar durchzieht die Abgrenzung von Beschäftigten und Selbständigen das gesamte Sozialversicherungsrecht (vgl. etwa schon §§ 7, 2 Abs. 2 SGB IV), gerade im SGB VI wird hiervon aber eine Ausnahme gemacht, wenn in § 2 SGB VI auch Selbständige unter näher genannten Voraussetzungen der Versicherungspflicht unterworfen werden. Auch § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI geht nicht nur von versicherungspflichtigen Beschäftigten aus, sondern explizit von daneben versicherungspflichtigen "selbständig Tätigen". Überzeugender erscheint es daher, folgende Sachverhalte zu vergleichen: Zum einen die grundsätzlich versicherungspflichtigen Beschäftigten und die grundsätzlich versicherungspflichtigen Selbständigen (hier: Rechtsanwälte), die auf Antrag gem. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 2 SGB VI auch in ihrer Nebenbeschäftigung (hier: Lehrstuhlvertretung) – unter den dort näher genannten Voraussetzungen – von der Rentenversicherungspflicht befreit werden. Zum anderen die Selbständigen (hier: Rechtsanwälte), die keinerlei Rentenversicherungspflicht unterworfen sind und die sich nach dem Wortlaut des § 6 SGB VI in ihrer Nebenbeschäftigung (hier: Lehrstuhlvertretung) nicht von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen können, also insoweit in jedem Fall versicherungspflichtig sind. Eine Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung ist für die Kammer nicht ersichtlich. Selbst bei einer großzügigen Prüfung nach der sogenannten Willkürformel läge – bei strenger Befolgung des Wortlauts - eine (ungerechtfertigte) Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes vor, da sich für die Ungleichbehandlung durch die gesetzliche Regelung des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 2 SGB VI kein sachlicher Grund finden ließe und diese Regelung daher als willkürlich zu bezeichnen wäre (zur Willkürprüfung vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.06.1994, Az: 1 BvL 14/88, 1 BvL 15/88 [= BVerfGE 91, 118]; BVerfG, Beschluss vom 17.10.1990, Az: 1 BvR 283/85 [= BVerfGE 83, 1]). Nach objektiven Beurteilungsmaßstäben wäre die Unsachlichkeit der Differenzierung auch evident (zur Evidenz vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.01.1993, Az: 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92 [= BVerfGE 88, 87]; BSG, Urteil vom 16.02.1989, Az: 4 REg 6/88 [= BSGE 64, 296]; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 15.03.1989, Az: 1 BvR 1428/88 [= BVerfGE 80, 48]).
Lässt Art. 3 Abs. 1 GG vorliegend eine Loslösung vom Wortlaut des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI zu, ergibt die teleologische Auslegung - unter Berücksichtigung auch der historischen Auslegung – ein im Sinne des Klagebegehrens vorgezeichnetes, eindeutiges Bild. Sinn und Zweck des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 SGB VI ist es zu verhindern, dass Personen "mit einer doppelten Beitragszahlungspflicht belastet" werden (vgl. BT-Drucks. 13/2590, 18), sei es in ihrer Haupttätigkeit oder in der vorübergehend ausgeübten Nebentätigkeit gem. § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI. Es soll die Befreiung von der Beitragspflicht durch Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bei bestehender Beitragspflicht gegenüber der berufsständischen Versorgungseinrichtung ermöglicht werden, um eine doppelte Beitragszahlung zu vermeiden. Offenbar handelt es sich um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers, dass er zwar explizit grundsätzlich versicherungspflichtige Selbständige neben versicherungspflichtig abhängig Beschäftigten diese weitreichende Befreiung ermöglicht, nicht aber nicht versicherungspflichtig tätigen Selbständigen wie dem Kläger als freiberuflichen Rechtsanwalt, und das, obwohl der Kläger die Befreiungsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI bei angenommener Versicherungspflicht (ebenfalls) erfüllen würde. Für die Kammer ergibt sich im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses: Wenn schon ein grundsätzlich versicherungspflichtiger Beschäftigter oder ein grundsätzlich versicherungspflichtiger Selbständiger sich auf Antrag unter den näheren Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI von der Rentenversicherungspflicht auch für eine Nebenbeschäftigung befreien lassen kann, muss dies auch und erst recht für einen (in seiner Haupttätigkeit) schon erst gar nicht der Rentenversicherungspflicht unterworfenen Selbständigen wie den Kläger gelten.
Das gefundene Ergebnis genügt auch dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Lehrstuhlvertreter an der Universität L. von der Versicherungspflicht zu befreien ist.
Der Kläger ist selbständig und freiberuflich tätiger Rechtsanwalt. In der Vergangenheit war der Kläger mehrfach, zeitlich auf die Vorlesungszeit begrenzt, als Lehrstuhlvertreter an der Universität L. tätig, zuletzt vom 01.10.2009 bis 12.02.2010. Für diese Tätigkeit befreite die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und nachfolgend die Beklagte den Kläger jeweils von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).
Mit Schreiben vom 18.04.2010, gerichtet an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen zur Weitergabe an die Beklagte, beantragte der Kläger für eine (Anschluss-)Lehrstuhlvertretung vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 an der Universität L. erneut die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Kläger begründete den Antrag mit seiner gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf und seiner Pflichtmitgliedschaft in dem Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen. Beigelegt war dem Antrag ein Schreiben der Universität L. vom 03.03.2010, in dem dem Kläger eine Vertretungsprofessur mit halbem Lehrdeputat für das Fachgebiet "Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht" für die Zeit vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 übertragen wird. Auf Nachfrage der Beklagten teilte der Kläger mit, dass die zeitliche Belastung für die Lehrstuhlvertretung bei vier Semesterwochenstunden, mitsamt Vorbereitung der Veranstaltungen etwa bei acht bis zehn Stunden in der Woche liege. Im Schwerpunkt sei er (weiterhin) als Rechtsanwalt freiberuflich tätig. Mit Bescheid vom 02.07.2010 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Befreiung von der Versicherungspflicht ab. Die Befreiung für eine zeitlich im Voraus befristete berufsfremde Nebenbeschäftigung setze voraus, dass in der Vergangenheit eine Befreiung für eine berufsständische Hauptbeschäftigung gem. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI erteilt worden sei, die im Hinblick auf die berufsspezifische Hauptbeschäftigung noch aktuell wirksam sei. Da der Kläger als selbständiger Rechtsanwalt nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliege, sei eine Befreiung für die berufsspezifische Tätigkeit weder möglich noch erforderlich.
Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und machte geltend, dass es in der Vergangenheit bereits mehrfach Befreiungen für seine Lehrstuhlvertretungen gegeben habe. Die Beklagte habe den Regelungszweck des § 6 SGB VI zu beachten, wonach Doppelversorgungen vermieden werden sollten. Hier sei auf die Teleologie Rückgriff zu nehmen. Auch liege mit Blick auf Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eine Ungleichbehandlung zu abhängig beschäftigten Rechtsanwälten vor, die sich befreien lassen könnten. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.2010 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Ergänzend zu ihrem Vorbringen im ablehnenden Bescheid vom 02.07.2010 macht die Beklagte im Widerspruchsbescheid mit Blick auf § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI geltend, dass es sich bei der Lehrstuhlvertretung um keine berufsspezifische anwaltliche Beschäftigung handele.
Hiergegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 06.12.2010 Klage erhoben. Die Klägerseite weist ergänzend zu ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren darauf hin, dass eine Befreiung zu erteilen sei, wenn bereits anderweitig die Versorgung - wie im Falle des Klägers - gesichert sei. Ziel sei die Einheitlichkeit der Alterssicherung. Auch entspreche die Lehrtätigkeit dem Berufsbild des Rechtsanwalts.
Der Klägerbevollmächtigte beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 02.07.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 11.11.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger von der Versicherungspflicht für die Lehrstuhltätigkeit an der Universität L. vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass § 6 SGB VI keine pauschale Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für Mitglieder eines Versorgungswerks aussprechen soll. Seit dem Jahre 2010 habe man die Verwaltungspraxis hinsichtlich der Befreiung gemäß § 6 Abs. 1, 5 SGB VI geändert. Eine Ungleichbehandlung zwischen rentenversicherungspflichtig beschäftigten Angestellten (hier: rentenversicherungspflichtig beschäftigten Rechtsanwälten) und selbstständig Tätigen (hier: selbstständig tätigen Rechtsanwälten) liege nicht vor, da keine Vergleichbarkeit der Lebenssachverhalte vorliege.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 02.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2010 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil der Bescheid rechtswidrig ist. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger von der Versicherungspflicht für die Lehrstuhltätigkeit an der Universität L. vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 zu befreien. Dies folgt aus § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 SGB VI. Ob sich mit Blick auf die Vielzahl vorheriger Befreiungsbescheide der Beklagten ein Befreiungsanspruch des Klägers auch aus der Rechtsfigur der Selbstbindung der Verwaltung ergäbe, kann offen bleiben.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Kläger in seiner Tätigkeit als Lehrstuhlvertreter grundsätzlich der (Renten-)Versicherungspflicht unterfällt. Nach eigenen Angaben des Klägers und auch laut Schreiben der Universität L. vom 03.03.2010 dürfte die Versicherungspflicht des Klägers schon gemäß § 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI in Verbindung mit § 7 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGV IV) zu bejahen sein, dies etwa im Hinblick auf die Vorgabe des Stunden- bzw. Vorlesungsplans. Aber auch bei Verneinung einer abhängigen Beschäftigung wäre die Versicherungspflicht des Klägers für die Tätigkeit des Lehrstuhlvertreters zu bejahen, und zwar gemäß § 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI. Demnach sind auch selbstständig tätige Lehrer, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, versicherungspflichtig. Der Begriff des Lehrers ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen. Die Tätigkeit des Lehrers umfasst jede Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, gleich auf welchem Gebiet (vgl. Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 72. Ergänzungslieferung 2012, § 2 SGB VI Rn. 8). Sofern der Kläger nicht schon als abhängig Beschäftigter der Universität L. anzusehen ist, wäre er - der auch keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer insoweit beschäftigt (anders als die Universität L.) - als Lehrer und damit Versicherungspflichtiger gemäß § 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI anzusehen.
Der Kläger ist hinsichtlich seiner Lehrstuhlvertretung nicht gemäß § 5 SGB VI versicherungsfrei. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger als Beamter oder beamtenähnlich durch die Universität L. bzw. das Land I. versorgt bzw. abgesichert wäre, dies trotz Vergütung in Anlehnung an die Besoldungsgruppe W 2. Auch ist eine geringfügige Beschäftigung bzw. geringfügige selbstständige Tätigkeit gem. § 5 Abs. 2 SGB VI in Verbindung mit §§ 8 f. SGB IV nicht ersichtlich. Der Kläger erfüllt insbesondere weder den Tatbestand der Entgeltgeringfügigkeit (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV) noch den Tatbestand der Zeitgeringfügigkeit (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV). Hinsichtlich letzterem ist anzumerken, dass der Kläger bereits im Wintersemester 2009/2010 die Lehrstuhlvertretung an der Universität L. wahrgenommen hat, also bereits vor dem in Rede stehenden Zeitraum vom 01.10.2009 bis 12.02.2010 für die Universität L. tätig gewesen war.
Allerdings kann sich der Kläger gemäß § 6 SGB VI von der Versicherungspflicht auf Antrag befreien lassen, und dies nicht – wie von der Beklagten angemerkt – pauschal wegen seiner Mitgliedschaft in einem Versorgungswerk. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 SGB VI lautet:
(1) Von der Versicherungspflicht werden befreit 1. Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist,
2. [ ]
(5) Die Befreiung ist auf die jeweilige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit beschränkt. Sie erstreckt sich in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und 2 auch auf eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist und der Versorgungsträger für die Zeit der Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet.
Der Kläger, der einen erforderlichen Antrag gemäß § 6 Abs. 2, 4 SGB VI gestellt hat, ist selbstständig tätiger Rechtsanwalt. Wegen dieser Tätigkeit ist er Pflichtmitglied in der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf, also Mitglied einer berufsständischen Kammer, und zugleich Mitglied des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen, also Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung. Für die Tätigkeit als Rechtsanwalt ist der Kläger – dies wird auch von der Beklagten nicht infrage gestellt – unstreitig nicht versicherungspflichtig. Bestünde im Grundsatz eine Versicherungspflicht, wäre der Kläger gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI von der Versicherungspflicht zu befreien.
Für die Kammer stellte sich bei Anwendung des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI (gegen eine Anwendung der Norm spricht sich in einem vergleichbaren Fall insoweit zu Recht aus: LSG NRW, Urteil vom 16.07.2001, Az: L 3 RA 73/00) mit Blick auch auf § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI schon die Frage, ob die Lehrstuhltätigkeit des Klägers und damit letztlich die Dozententätigkeit des Klägers nicht schon der (befreiten) rechtsanwaltlichen Tätigkeit zuzuordnen wäre (dies verneint die Beklagte und indirekt auch der Kläger in seinen Antragsschreiben). Unter anwaltlicher Tätigkeit versteht man gemeinhin die rechtsberatende, rechtsentscheidende, rechtgestaltende, aber eben auch rechtsvermittelnde Tätigkeit (vgl. Schmidt in Kreikebohm [Hrsg.], SGB VI-Kommentar, 3. Auflage 2008, § 6 Rn. 102 unter Verweis auf Esser, AnwBl 2007, S. 17, 19; Kilger/Prossliner, NJW 2006, S. 3108, 3111; Wirges, NZS 2006, S. 19, 25; Ettwig, SGb 2005, S. 441, 445). Um eine rechtsvermittelnde Tätigkeit könnte es sich vorliegend bei der Lehrtätigkeit im Bereich "Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht" handeln. Hier ist zum einen der sich offensichtlich verschärfende Konkurrenzdruck unter den Rechtsanwälten zu beachten, der nach Eindruck der Kammer mehr und mehr dazu führt, dass durch Dozententätigkeiten unmittelbar oder mittelbar (und sei es durch Angabe der Dozententätigkeit auf Briefkopf oder homepage) Mandanten gewonnen werden sollen. Zum anderen ist speziell an Universitäten zu beobachten, dass die Praxisvermittlung und hierbei insbesondere die Bedeutung des rechtsanwaltlichen Berufsbildes zunimmt. Diese Entwicklung ist auch durch Änderungen einer Vielzahl von Hochschulgesetzen bzw. Studienordnungen und Prüfungsordnungen nachzuvollziehen.
Jedenfalls ist der Kläger nach Auffassung der Kammer gemäß § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI von der Versicherungspflicht zu befreien, da er mit seiner Lehrstuhltätigkeit einer – wie oben ausgeführt - versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgeht, die im Voraus zeitlich begrenzt ist, und der Versorgungsträger für die Zeit vom 01.04.2010 bis 16.07.2010 den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet (bzw. gewährleisten könnte und würde). Die Kammer verkennt dabei nicht, dass der (weitere) Wortlaut gegen dieses Ergebnis spricht, bezieht er sich doch explizit auf "eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit" und setzt damit voraus, dass der Kläger in seiner "Haupttätigkeit", hier der Tätigkeit als Rechtsanwalt, versicherungspflichtig ist. Das ist allerdings gerade nicht der Fall, da der Kläger selbstständig tätiger Rechtsanwalt ist (und die Vorschrift des § 2 SGB VI insoweit nicht greift). Allerdings führt der Wortlaut der Norm zu einem verfassungsrechtlich zweifelhaften Ergebnis. Die verfassungskonforme Auslegung legt es – unter Berücksichtigung der teleologischen und historischen Auslegung – nahe, dass entgegen dem Wortlaut des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI die (Erstreckung der) Befreiung von der Versicherungspflicht nicht nur auf grundsätzlich versicherungspflichtige "Haupttätigkeiten" beschränkt sein darf. Auch wenn eine selbstständige und – wie hier - damit grundsätzlich nicht versicherungspflichtige Haupttätigkeit (hier die Tätigkeit als Rechtsanwalt) ausgeübt wird, die bei angenommener Versicherungspflicht eine Befreiung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI nach sich zöge, kann eine Befreiung für eine Nebentätigkeit unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI auszusprechen sein. Dies ergibt sich aus der teleologischen mitsamt historischen Auslegung unter Berücksichtigung von Art. 12 GG und insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG, unter Berücksichtigung also letztlich von Verfassungsrecht. Die verfassungskonforme Auslegung als Teil der systematischen Auslegung ist dabei durch die sogenannte Wortlautauslegung bzw. grammatikalische Auslegung nicht vorgegeben. Vielmehr ist sie vorrangig zu beachten.
Der systematischen Auslegung gebührt der Vorrang, auch gegenüber der grammatikalischen Auslegung. Zwar wird die Ansicht vertreten, dass der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn nicht nur den Ausgangspunkt, sondern zugleich die Grenze der Auslegung bilde, da das, was jenseits des möglichen Wortsinns liege und mit ihm auch bei weitester Auslegung nicht mehr vereinbar sei, nicht als Inhalt des Gesetzes gelten könne (vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1999, S. 163 f.; siehe auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 182). Allerdings ist festzuhalten, dass die Sprache ein oftmals mehrdeutiges und unsicheres Transportmittel für den von der Gesetzgebung gewollten Gebotsinhalt ist und sich ein übertriebener Buchstabengehorsam trotz der großen Bedeutung des Wortlauts als Irrweg darstellen würde (so zu Recht Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auflage 2008, Rn. 729, 731 ff., 743). Wegen des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung gebührt im Falle der Kollision zwischen mehreren Auslegungskriterien der systematischen Auslegung der Vorrang (vgl. Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 179; siehe auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 565). Jedenfalls ist auch die systematische Interpretation stets heranzuziehen, weil keine Vorschrift für sich alleine steht und trotz scheinbar eindeutigen Wortlauts den Gebotsgehalten später erlassener oder höherrangiger Rechtsvorschriften widersprechen könnte (Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auflage 2008, Rn. 731 ff., 743). Unter der systematischen Auslegung ist hierbei auch die verfassungskonforme Auslegung zu fassen (Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auflage 2008, Rn. 767, 763; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1966, S. 25 f.).
Eine Befreiungsmöglichkeit für die Nebentätigkeit (hier: der Lehrstuhlvertretung) gem. § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI ist – entgegen dem Wortlaut bzw. über diesen hinaus – mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG möglich (siehe aber an dieser Stelle auch BSG, Urteil vom 09.03.2005, Az: B 12 RA 8/03 R [= NZS 2006, 151]; BVerfG, Beschluss vom 31.08.2004, Az: 1 BvR 285/01 [= NZS 2005, 253]; hierzu auch Schmidt in Kreikebohm [Hrsg.], SGB VI-Kommentar, 3. Auflage 2008, § 6 Rn. 100 unter Verweis auf Papier, AnwBl 2007, 97). Die Beeinträchtigung des Art. 3 Abs. 1 GG setzt eine Ungleichbehandlung voraus, d.h. eine unterschiedliche Behandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte (statt vieler: Jarass in Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 10. Auflage 2009, Art. 3 Rn. 6). Vorliegend erscheint es für die erkennende Kammer wenig überzeugend, abhängig Beschäftigte (hier: abhängig beschäftigte und damit grundsätzlich rentenversicherungspflichtige Rechtsanwälte) und Selbstständige (hier selbstständig tätige und damit grundsätzlich nicht rentenversicherungspflichtige Rechtsanwälte) mit Blick auf ihre sozialversicherungsrechtliche Einordnung zu vergleichen (so aber LSG NRW, Urteil vom 16.07.2001, Az: L 3 RA 73/00). Zwar durchzieht die Abgrenzung von Beschäftigten und Selbständigen das gesamte Sozialversicherungsrecht (vgl. etwa schon §§ 7, 2 Abs. 2 SGB IV), gerade im SGB VI wird hiervon aber eine Ausnahme gemacht, wenn in § 2 SGB VI auch Selbständige unter näher genannten Voraussetzungen der Versicherungspflicht unterworfen werden. Auch § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI geht nicht nur von versicherungspflichtigen Beschäftigten aus, sondern explizit von daneben versicherungspflichtigen "selbständig Tätigen". Überzeugender erscheint es daher, folgende Sachverhalte zu vergleichen: Zum einen die grundsätzlich versicherungspflichtigen Beschäftigten und die grundsätzlich versicherungspflichtigen Selbständigen (hier: Rechtsanwälte), die auf Antrag gem. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 2 SGB VI auch in ihrer Nebenbeschäftigung (hier: Lehrstuhlvertretung) – unter den dort näher genannten Voraussetzungen – von der Rentenversicherungspflicht befreit werden. Zum anderen die Selbständigen (hier: Rechtsanwälte), die keinerlei Rentenversicherungspflicht unterworfen sind und die sich nach dem Wortlaut des § 6 SGB VI in ihrer Nebenbeschäftigung (hier: Lehrstuhlvertretung) nicht von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen können, also insoweit in jedem Fall versicherungspflichtig sind. Eine Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung ist für die Kammer nicht ersichtlich. Selbst bei einer großzügigen Prüfung nach der sogenannten Willkürformel läge – bei strenger Befolgung des Wortlauts - eine (ungerechtfertigte) Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes vor, da sich für die Ungleichbehandlung durch die gesetzliche Regelung des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 2 SGB VI kein sachlicher Grund finden ließe und diese Regelung daher als willkürlich zu bezeichnen wäre (zur Willkürprüfung vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.06.1994, Az: 1 BvL 14/88, 1 BvL 15/88 [= BVerfGE 91, 118]; BVerfG, Beschluss vom 17.10.1990, Az: 1 BvR 283/85 [= BVerfGE 83, 1]). Nach objektiven Beurteilungsmaßstäben wäre die Unsachlichkeit der Differenzierung auch evident (zur Evidenz vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.01.1993, Az: 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92 [= BVerfGE 88, 87]; BSG, Urteil vom 16.02.1989, Az: 4 REg 6/88 [= BSGE 64, 296]; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 15.03.1989, Az: 1 BvR 1428/88 [= BVerfGE 80, 48]).
Lässt Art. 3 Abs. 1 GG vorliegend eine Loslösung vom Wortlaut des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI zu, ergibt die teleologische Auslegung - unter Berücksichtigung auch der historischen Auslegung – ein im Sinne des Klagebegehrens vorgezeichnetes, eindeutiges Bild. Sinn und Zweck des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 5 SGB VI ist es zu verhindern, dass Personen "mit einer doppelten Beitragszahlungspflicht belastet" werden (vgl. BT-Drucks. 13/2590, 18), sei es in ihrer Haupttätigkeit oder in der vorübergehend ausgeübten Nebentätigkeit gem. § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI. Es soll die Befreiung von der Beitragspflicht durch Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bei bestehender Beitragspflicht gegenüber der berufsständischen Versorgungseinrichtung ermöglicht werden, um eine doppelte Beitragszahlung zu vermeiden. Offenbar handelt es sich um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers, dass er zwar explizit grundsätzlich versicherungspflichtige Selbständige neben versicherungspflichtig abhängig Beschäftigten diese weitreichende Befreiung ermöglicht, nicht aber nicht versicherungspflichtig tätigen Selbständigen wie dem Kläger als freiberuflichen Rechtsanwalt, und das, obwohl der Kläger die Befreiungsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI bei angenommener Versicherungspflicht (ebenfalls) erfüllen würde. Für die Kammer ergibt sich im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses: Wenn schon ein grundsätzlich versicherungspflichtiger Beschäftigter oder ein grundsätzlich versicherungspflichtiger Selbständiger sich auf Antrag unter den näheren Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI von der Rentenversicherungspflicht auch für eine Nebenbeschäftigung befreien lassen kann, muss dies auch und erst recht für einen (in seiner Haupttätigkeit) schon erst gar nicht der Rentenversicherungspflicht unterworfenen Selbständigen wie den Kläger gelten.
Das gefundene Ergebnis genügt auch dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
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