S 57 AL 703/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
57
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 57 AL 703/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 278/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 01.06.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 17.05.2011 Ge-samtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 394,80 Euro zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen haben. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt als zuständige Einzugsstelle die Zahlung von Pflichtversiche-rungsbeiträgen bei Insolvenzereignis gem. § 208 Sozialgesetzbuch, Drittes Buch in der bis zum 31.03.2012 gültigen Fassung (SGB III a. F.). Dabei ist zwischen den Beteiligten streitig, ob in einem Insolvenzverfahren über nach § 35 Abs. 2 Insolvenzordnung (InsO) freigegebenes Vermögen Gesamtsozialversicherungsbeiträge geltend gemacht werden können, oder ob dies aufgrund einer Sperrwirkung des vorangegangenen Insolvenzer-eignisses ausgeschlossen ist.

Über das Vermögen des Beigeladenen zu 2) wurde am 21.08.2008 das Insolvenzverfah-ren eröffnet (Amtsgericht Bückeburg, Az.: 47 IN 108/08). In der Folgezeit gab der Insolvenzverwalter gem. § 35 Abs. 2 InsO das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit des Beigeladenen zu 2) frei.

Der Beigeladene zu 2) betrieb daraufhin sein Unternehmen selbständig weiter. Im Rah-men dieser Tätigkeit beschäftigte er die Beigeladene zu 1). Seinen aus diesem Beschäf-tigungsverhältnis resultierenden Beitragsverpflichtungen kam er in der Folgezeit nicht mehr nach.

Mit Beschluss vom 05.05.2011 wurde der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Beigeladenen zu 2) aus der freigegebenen Selbständigkeit mangels einer die Kosten des Verfahrens entsprechenden Masse gem. § 26 InsO abge-wiesen (AG Bückeburg, Az.: 47 IN 136/10).

Am 17.05.2011 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Zahlung von rückständigen Pflichtbeiträgen nach § 208 SGB III a. F. für die Beigeladene zu 1). Die rückständigen Beträge bezifferte die Klägerin auf insgesamt 394,80 Euro.

Mit Bescheid vom 01.06.2011 lehnte die Beklagte die Zahlung der geltend gemachten Pflichtbeiträge mit der Begründung ab, bereits aufgrund der Insolvenzeröffnung am 21.08.2008 seien rückständige Pflichtbeiträge für die Beigeladene zu 1) entrichtet wor-den. Dieses Insolvenzverfahren sei noch nicht beendet. Von einer Weiterarbeit/ Arbeits-aufnahme der Beigeladenen zu 1) in Unkenntnis des Insolvenzereignisses könne nicht ausgegangen werden. Der 05.05.2011 komme nicht als erneutes Insolvenzereignis in Betracht.

Am 22.08.2011 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

Die Klägerin ist der Ansicht, bei den Insolvenzereignissen aus dem Jahre 2008 einerseits und dem Jahr 2011 andererseits handele es sich um zwei voneinander unabhängige Insolvenzereignisse. Nur für das zweite Insolvenzereignis werde die Zahlung rückstän-diger Pflichtbeiträge begehrt. Das in dem früheren Insolvenzverfahren freigegebene Vermögen sei streng von dem Vermögen zu trennen, über welches das erste Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Mit der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erkläre der Insolvenzverwalter, dass er hinsicht-lich des freigegebenen Vermögens endgültig und unbedingt auf seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verzichte. Dieser strengen Trennung entspreche es, dass das frei-gegebene Vermögen seinerseits wiederum insolvenzfähig sei. Die Sichtweise der Beklagten widerspreche zudem dem Schutzzweck der §§ 183, 208 SGB III a. F ... Durch die Zahlung des rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeitrages soll in einem Insolvenzfall weder die Versichertengemeinschaft noch der betroffene So-zialversicherungsträger einen Nachteil erleiden. Dieser Schutz würde nach Ansicht der Beklagten bei Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen der freigegebenen selbständi-gen Tätigkeit niemals eingreifen. Ansprüche auf Insolvenzgeld und Gesamtsozialversi-cherungsbeiträge nach §§ 183, 208 SGB III a. F. wären durch das frühere Insolvenzver-fahren immer gesperrt. Dieses Ergebnis könne nicht gewollt sein, denn der Gesetzgeber habe mit der Regelung des § 35 Abs. 2 InsO dem Schuldner durch die Freigabe der selb-ständigen Tätigkeit einen "Neustart" ermöglichen wollen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Bescheid vom 01.06.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auf ihren Antrag vom 17.05.2011 Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 394,80 Euro zu zahlen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf ihre Ausführungen in dem angefochtenen Be-scheid.

Auf gerichtliche Nachfrage hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 15.11.2012 den nach § 208 SGB III a. F. geltend gemachten Betrag dem Grunde und der Höhe nach unstreitig gestellt.

Mit Beschluss vom 17.12.2012 ist die Beiladung der betroffenen Arbeitnehmerin, des Ar-beitgebers sowie der Deutschen Rentenversicherung C erfolgt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Klägerin verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage, über die im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 01.06.2011 beschwert die Klägerin in ihren Rechten gem. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Pflichtbeiträge in Höhe von 394,80 Euro.

Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 208 Abs. 1 S. 1 SGB III a. F ... Nach dieser Vorschrift zahlt die Agentur für Arbeit auf Antrag der zuständigen Einzugs-stelle den Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach § 28d Sozialgesetzbuch, Viertes Buch (SGB IV), der auf Arbeitsentgelte für die letzten dem Insolvenzereignis vorhergehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses entfällt und bei Eintritt des Insolvenzereignisses noch nicht gezahlt worden ist. Der vorliegend geltend gemachte Betrag setzt sich unstreitig aus den Gesamtsozialversi-cherungsbeiträgen zusammen, die auf die Arbeitsentgelte der Beigeladenen zu 1) für die letzten, dem Insolvenzereignis noch vorausgehenden 3 Monate des Arbeitsverhältnisses entfallen und bei Eintritt des Insolvenzereignisses noch nicht gezahlt worden waren.

Zwischen den Beteiligten ist allein streitig, ob der geltend gemachte Anspruch der Kläge-rin dadurch ausgeschlossen ist, dass bereits durch Beschluss vom 21.08.2008 (Az.: 47 IN 108/08) das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beigeladenen zu 1) eröffnet worden war und dieses eine Sperrwirkung für das nachfolgende Insolvenzereignis (Az.: 47 IN 136/10) entfalte, solange nicht Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit des Beige-ladenen zu 1) in der Folgezeit nachgewiesen ist.

Zur Überzeugung der Kammer ist diese Rechtsfrage im Sinne der Klägerin zu beantwor-ten: Das am 21.08.2008 eröffnete Insolvenzverfahren entfaltet keine Sperrwirkung in Hinblick auf das Insolvenzereignis im Mai 2011 (Ablehnung der Eröffnung des Insol-venzverfahrens mangels Masse).

Grundsätzlich besteht zwischen den in § 183 Abs. 1 S. 1 SGB III a.F. aufgeführten Insol-venzereignissen kein Rangverhältnis, es kommt vielmehr auf das Ereignis an, durch das die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erstmals zu Tage getreten ist. Ein Insolvenzge-ldanspruch wird grundsätzlich durch das zeitlich früheste Ereignis ausgelöst und dieses früheste Ereignis schafft für die später eintretenden Insolvenzereignisse eine sog. Sperrwirkung (vgl. Krodel in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Auflage, § 183 Rn. 34 m. w. N.). Von einem erneuten Insolvenzereignis kann in der Regel so lange nicht ausgegangen werden, wie die auf dem frühesten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert (vgl. Krodel a.a.O. § 183 Rn. 37). In den Fällen, in denen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens gem. § 35 Abs. 2 InsO das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit freigegebenen worden ist, liegen jedoch zwei unterschiedliche Vermögensmassen vor, die auch insolvenzrechtlich getrennt von-einander zu betrachten sind. Dementsprechend sieht der Bundesgerichtshof das nach § 35 Abs. 2 InsO freigegebene Vermögen als seinerseits wieder insolvenzfähig an (Be-schluss vom 09.06.2011, Az.: IX ZB 175/10, veröffentlicht in juris).

Durch die Freigabe des Vermögens aus der selbständigen Tätigkeit ist eine neue insol-venzfähige Vermögensmasse entstanden. Über diese konnte der Beigeladene zu 2) frei verfügen. Es gibt deshalb zwei voneinander unabhängige Insolvenzverfahren (so auch Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 31.10.2012, Az.: S 55 AL 686/10, veröffentlicht in ju-ris). Hinsichtlich des freigegebenen Vermögens ist die Ablehnung der Eröffnung des In-solvenzverfahrens am 05.05.2011 (Az.: 47 IN 136/10) das erste Insolvenzereignis im Sin-ne des § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III a. F ...

Die Möglichkeit der Freigabe des Vermögens aus einer selbständigen Tätigkeit ist mit dem Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens vom 13.04.2007 (Bundesge-setzblatt I 2007, 509) in § 35 InsO eingefügt worden. Dem Schuldner soll ein "Neustart" ermöglicht und er zu einer selbständigen Tätigkeit motiviert werden (vgl. Bundestags-drucksache 16/3227 S. 11). Ein Weg zu diesem Ziel war die Möglichkeit einer selbstän-digen Tätigkeit außerhalb des Insolvenzverfahrens (Bundestagsdrucksache 16/3227 S. 17). Aus diesem Gesetzeszweck folgt unzweifelhaft, dass der Schuldner über das freigege-bene Vermögen (wieder) frei verfügen kann und keinerlei Beschränkungen aus dem früheren Insolvenzverfahren unterliegt. Er kann seine erneute selbständige Tätigkeit frei ausüben. Die gewollte Unterstützung des Arbeitsgebers in seiner selbständigen Tätigkeit erfordert dabei aber zwingend, dass die Arbeitnehmer dem vollen Schutz der Insolvenzgeldversi-cherung unterliegen. Durch die Zahlung von Insolvenzgeld soll der regelmäßig vorleis-tungspflichtige Arbeitnehmer vor Lohnausfall geschützt werden, wenn der Arbeitgeber seiner Zahlungspflicht nicht nachkommt. Durch die Zahlung des Gesamtsozialversiche-rungs¬beitra¬ges soll in diesem Fall weder der Versichertengemeinschaft noch den Sozial-versicherungsträgern ein Nachteil entstehen. Die zuständige Einzugsstelle wird vielmehr so gestellt, als stünde ihr weiterhin ein solventer Arbeitgeber gegenüber (Krodel a.a.O. § 208 Rn. 2). Dieser Schutzzweck der §§ 183, 208 SGB III a. F. würde bei Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen der freigegebenen selbständigen Tätigkeit jedoch niemals eingreifen, wären die Beschäftigten von Insolvenzgeldansprüchen mit der Begründung ausgeschlossen, die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers sei bereits in dem früheren Insolvenzverfah-ren hervorgetreten. Es bestünden dann ohne Zweifel Hemmungen, bei diesem Arbeitge-ber tätig zu werden. Dies würde aber das Ziel des § 35 Abs. 2 InsO, dem Schuldner durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit einen Neustart zu ermöglichen, erheblich ge-fährden.

Auf die Frage, ob der Beigeladene zu 2) zu irgendeinem Zeitpunkt seine Zahlungsfähig-keit wiedererlangt hat, kommt es nach alledem nicht an.

Den Einwänden der Beklagten, wonach der Schutzzweck des § 183 SGB III a. F. ledig-lich Arbeitnehmern zu Gute kommen soll, die in Unkenntnis des früheren Insolvenzer-eignisses bei dem Arbeitgeber gearbeitet haben, ist die aufgezeigte Zielsetzung des § 35 Abs. 2 InsO entgegenzuhalten. Zudem dürfte es in der Praxis kaum praktikabel sein, die Kenntnis bzw. Unkenntnis eines Arbeitnehmers von der zu einem früheren Zeitpunkt hervorgetretenen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers festzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsge-richtsordnung (VwGO) und trägt dem Unterliegen der Beklagten Rechnung.

Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, da die vorliegende Streitfra-ge von grundsätzlicher Bedeutung ist und bislang höchstrichterlich noch nicht entschie-den worden ist.
Rechtskraft
Aus
Saved