L 1 KR 468/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 122 KR 2627/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 468/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, welche diese selbst zu tragen haben. Die Revision wird nicht zugelassen. Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 5.000,- EUR.

Tatbestand:

Im Streit steht der Sache nach der Status der Beschäftigung der Beigeladenen zu 1) (Nachfolgend nur noch: "die Beigeladene") in ihrer Tätigkeit als Physiotherapeutin in der Praxis der Klägerin im Zeitraum 1. März 2014 bis 28. Februar 2015.

Die Beigeladene ist Fachphysiotherapeutin für Extremitätendefekte und Querschnittslähmungen, Bobath- und Manual-Therapeutin. Sie war hauptberuflich als Dozentin an einer Schule für Physiotherapie tätig.

Die Klägerin und sie schlossen am 28. Februar 2014 einen Vertrag über "freie Mitarbeit" ab 1. März 2014. Die darin vereinbarte Zusammenarbeit endete zum 28. Februar 2015. In dem Vertrag wurde geregelt, dass die Klägerin den Abrechnungsverkehr für die Beigeladene als "freie Mitarbeiterin" mit den Krankenkassen übernehme. Als Vergütung wurden 30% des Abrechnungsbetrages der von der Beigeladenen erbrachten Behandlungsleistungen vereinbart. Nur die Beigeladene war zur Erbringung bestimmter Krankengymnastikleistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen berechtigt. Privatpatienten behandelte die Beigeladene nicht. Die Klägerin und die Beigeladene führten eine gemeinsame Patientenkartei. Die Beigeladene behandelte Patienten in der Praxis der Klägerin und führte Hausbesuche durch, für die sie ihren eigenen PKW benutzte. Die Beigeladene hatte ein eigenes Behandlungszimmer und benutzte den Sportraum und die Wartezone sowie die Toiletten mit. Im praxisinternen Bestellbuch benutzte die Beigeladene zwei Spalten für sich alleine. Die Terminvereinbarungen erfolgten durch sie selbst. Die Beigeladene stellte am 18. November 2014 bei der Beklagten einen Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status. Die Klägerin gab im Anhörungsverfahren an, es existiere kein Dienstplan. Die Beigeladene bestimme ihre Arbeitszeit selbst. Es gebe für sie keine Vertretung. Niemand anderer in der Praxis habe ihre Qualifikationen. Die Beigeladene arbeite in ihrer Praxis de facto als Untermieterin. Die Klägerin übernehme lediglich die Abrechnung.

Nach vorangegangener Anhörung stellte die Beklagte durch Bescheid vom 13. Februar 2015 fest, dass die Tätigkeit der Beigeladenen in der klägerischen Praxis ab 1. März 2014 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde und Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. Es überwögen die Merkmale für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Die Tätigkeit werde insbesondere in einer fremd bestimmten Arbeitsorganisation ausgeübt. Die Behandlung der Patienten erfolge in den Räumen der Praxis und gerade nicht in einer eigenen Betriebsstätte. Versicherungspflichtige Angestellte würden nicht beschäftigt. Ein unternehmerisches Risiko sei nicht erkennbar. Die fachliche Verantwortung läge bei der Praxisinhaberin. Den Patienten gegenüber träte die Beigeladene nicht als Selbständige auf.

Die Klägerin erhob hiergegen am 12. März 2015 Widerspruch. Diesen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2015 zurück (Zugang: 13. Juli 2015).

Hiergegen hat die Klägerin am 12. August 2015 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Beklagte habe die Besonderheiten des Einzelfalles nicht berücksichtigt. Nach Erhalt des Bescheides der Beklagten sei die hier streitige Zusammenarbeit beendet und zum 1. März 2015 in Form eines Arbeitsvertrages neu begründet worden. Die Praxis habe gezeigt, dass diese neue Vertragsgestaltung nicht dem Willen der Beteiligten entspräche. Die Beklagte hat ihr außergerichtliches Vorbringen wiederholt. Die Beigeladene hat ergänzend ausgeführt, seit 1. März 2015 bekomme sie die Patienten zugewiesen. Sie akquiriere nicht mehr selbst und könne ihre Tätigkeit nicht mehr auf die Spezialbehandlungen beschränken. Sie könne nicht mehr frei entscheiden, wann ihre Hände Ruhe brauchten.

Das SG hat mit Urteil vom 16. August 2016 den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2015 aufgehoben und festgestellt, dass die Beigeladene aufgrund ihrer Tätigkeit als Physiotherapeutin in der Praxis der Klägerin im Zeitraum vom 1. März 2014 bis 28. Februar 2015 nicht der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlegen habe. Zur Begründung hat es ausgeführt, es überwögen hier die Umstände für eine selbständige Tätigkeit. So habe die Beigeladene ein eigenes Unternehmerrisiko gehabt. Der Vertrag zwischen den Beteiligten habe keine arbeitnehmertypischen Regelungen enthalten. Anhaltspunkte für die Begründung eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ließen sich aus ihm nicht entnehmen. Dieser Vertrag sei von den Vertragsparteien auch bis 28. Februar 2015 gelebt worden. Die Beigeladene sei ganz überwiegend weisungsfrei tätig gewesen. Aufgrund der Qualifikation der Beigeladenen als ausgebildete Fachphysiotherapeutin für Extremitätendefekte und Querschnittslähmungen sowie Bobath-Therapeutin habe die Klägerin, die anderweitig spezialisiert sei, keine Behandlungen auf diesen Fachgebieten durchführen können und auch keine Weisungen erteilen können. So erfolgten rein tatsächlich auch keine Weisungen der Klägerin hinsichtlich des Abrechnungsvorganges. Vielmehr sei gemeinsam nach Lösungen gesucht worden. Die Beigeladene habe sich eigenverantwortlich um die etwaig notwendige Vervollständigung der Unterlagen gekümmert und selbst mit den verordnenden Ärzten gesprochen. Die Indizien für eine Eingliederung der Beigeladen in die Arbeitsorganisation der Klägerin (kein eigenes Patienten-Terminbuch, gemeinsame Patientenkartei, Mitbenutzung der Einrichtungen der Praxis) würden aufgewogen durch die eigenen Terminabsprachen mit den Patienten und dem Umstand, dass jeder seine (eigenen) Patienten gehabt habe. Am Markt sei die Beigeladene selbst aufgetreten.

Gegen das ihr am 15. September 2016 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 6. Oktober 2016. Zu deren Begründung hat sie ausgeführt, es überwögen die für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Merkmale. Die Behauptungen im Urteil über die Führung des Terminbuches sowie die Behandlung eigener Patienten seien nicht nachgewiesen. Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. August 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

Die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat darauf hingewiesen, dass die Beklagte in einem vergleichbaren Falle von Selbständigkeit ausgegangen sei.

Entscheidungsgründe:

Es konnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter alleine entschieden werden, §§ 155 Abs. 3, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Alle Beteiligten haben sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt.

Der Berufung muss Erfolg versagt bleiben. Das SG hat den angefochtenen Bescheid vom 13. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2015 zu Recht aufgehoben und festgestellt, dass Versicherungspflicht in der streitgegenständlichen Zeit in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung nicht vorgelegen hat.

Der Eintritt von Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung wegen Aufnahme einer abhängigen Tätigkeit bestimmt sich nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch bzw. § 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch. Die für den Eintritt von Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung sowie der Kranken-, Renten- und sozialen Pflegeversicherung danach erforderliche Beschäftigung wird in § 7 Abs. 1 SGB IV näher definiert. Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Abzugrenzen ist die eine Versicherungspflicht begründende abhängige Beschäftigung von einer selbständigen Tätigkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt Beschäftigung vor, wenn die Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit erbracht wird. Dieses Merkmal ist bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb gegeben, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und mit seiner Tätigkeit einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung erfassenden Weisungsrecht unterliegt. Dabei kann sich die Weisungsgebundenheit insbesondere bei Diensten höherer Art zu einer funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinern. Dagegen ist eine selbständige Tätigkeit durch ein eigenes Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen freie Gestaltung von Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob eine abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit vorliegt, richtet sich danach, welche der genannten Merkmale bei Betrachtung des Gesamtbildes der Verhältnisse überwiegen (vgl. zum Ganzen BSG Urt. v. 28. November 2011 -B 12 R 17/09 R juris-Rdnr. 16 und vom 25. April 2012 – B 12 KR 24/10 R – juris-Rdnr. 16). Ausgangspunkt der Prüfung, ob die Beigeladene in der Praxis der Klägerin im Rahmen einer Beschäftigung oder als Selbständige tätig wurde, sind die für ihre Tätigkeit maßgeblichen vertraglichen Vereinbarungen. Hier ist mit dem SG davon auszugehen, dass die Vertragsparteien eine Beschäftigung auf freier Basis vereinbaren wollten. Auf die Begründung im angefochtenen Urteil wird zur Vermeidung bloßer Wiederholungen verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Allerdings ergibt sich das Entstehen von Versicherungspflicht aus dem Gesetz. Entsprechend kann sie nicht Gegenstand einzelvertraglicher Vereinbarungen sein. Entscheidend für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist deswegen die tatsächliche Ausgestaltung der Verhältnisse, welchen gegebenenfalls sogar stärkeres Gewicht als abweichenden vertraglichen Regelungen zukommen kann (BSG Urt. v. 28. Mai 2008 – B 12 KR 13/07 R – juris-Rdnr. 17; Urt. v. 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris-Rdnr. 17). Die Tätigkeit als Physiotherapeutin gehört den persönlich geprägten Gesundheitsleistungen, die sowohl in der Form einer abhängigen Beschäftigung als auch in der einer selbständigen Tätigkeit erbracht werden (für Logopädin: Beschluss des Senats vom 5. Januar 2015 – L 1 KR 278/13 –, juris-Rdnr. 29).

Der Senat teilt die Auffassung des SG, dass im konkreten Einzelfall weder von einer relevanten Eingliederung der Beigeladenen in der Organisation der Praxis der Klägerin ausgegangen werden kann, noch von Weisungsabhängigkeit. Auf dessen Ausführungen wird verwiesen.

Zunächst ist nicht feststellen, dass die Klägerin andere Kräfte als die Beigeladene auch formal als Arbeitnehmer führte, obwohl sich deren Tätigkeit von der der Beigeladenen nicht wesentlich unterschieden hat. Andere Arbeitnehmer gab es nicht. Auch in nachfolgenden Zeit, in der die Beigeladene förmlich angestellt war, gab es entscheidende Unterschiede: Als Festangestellte musste sie die ihr nunmehr zugewiesenen Patienten betreuen und war auf Anweisung der Klägerin tätig. In der hier streitgegenständlichen Zeit hingegen betreute die Beigeladene weisungsfrei ihre eigenen Patienten. Nur gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen ist sie als Mitarbeiterin der Klägerin geführt worden

Gegen eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation spricht, dass die von der Beigeladenen durchgeführten Physiotherapietechniken (Bobath und Manuelle Therapie) nur von dieser erbracht werden dürfen, nicht von der Klägerin. Eine fachliche Leitung bzw. Verantwortung scheidet insoweit aus.

Die Beigeladene hat -wie im Fall, der dem genannten Beschluss des Senats vom 5. Januar 2015 zu Grunde liegt- gegenüber der Klägerin keine Dienste erbracht, weil sie ihre eigenen Patienten behandelt hat. Sie ist insoweit nicht entlohnt worden, sondern hat ihrerseits die Klägerin bezahlt, indem diese unter anderem für das Abrechnen 30% der Gelder einbehalten durfte. Widersprüche in den Angaben der Klägerin und der Beigeladenen sieht der Senat nicht.

Die Tätigkeit der Beigeladenen war zuletzt auch von einem gewissen Unternehmerrisiko geprägt. Nach Nr. 4 des Vertrages trug die Beigeladene das Risiko für Abrechnungsausfälle. Vereinbart war nämlich, dass eventuelle Korrekturen oder Stornierungen durch Krankenkassen oder andere Versicherungsträger jeweils in den nachfolgenden Abrechnungen entsprechend berücksichtigt würden. Sie hatte also gegenüber der Klägerin keinen Anspruch auf Vergütung sondern nur auf Auskehrung von 70% der tatsächlich vereinnahmten Zahlungen. Sie trug das Ausfallrisiko.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG liegen nicht vor.

Der Beschluss zur Streitwertfestsetzung, der unanfechtbar ist, folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1, Abs. 2 Gerichtskostengesetz.
Rechtskraft
Aus
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