S 3 U 1468/02

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 1468/02
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 266/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 157/08 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 06.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.07.2002 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 16.06.2002 als Arbeitsunfall gemäß § 8 SGB VII anzuerkennen.

2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalles.

Die 1956 geborene Klägerin ist Sozialpädagogin und als Angestellte des Fördervereins C-Schule in D-Stadt bei der Beklagten versichert. Am Samstag, dem 16.06.2001 verunfallte die Klägerin bei einem Fahrradausflug mit Kollegen, indem sie stürzte und sich hierbei eine Handgelenksfraktur links zuzog. Der Unfall wurde der Beklagten durch die Asklepios Klinik A-Stadt am 02.07.2001 angezeigt.

Die Beklagte bat den Arbeitgeber der Klägerin um Erstellung einer Unfallanzeige, nach telefonischer Rücksprache teilte der Zeuge F. als damaliger Vorsitzender des Fördervereins C-Schule D-Stadt e.V. schriftlich mit: " Der Unfall von Frau A. fand an einem Samstag, dem 16.06.2001 im Rahmen einer privaten, untereinander organisierten Radtour von 10 Kolleginnen und Kollegen statt. Laut telefonischer Rücksprache mit Frau H. am 02. August handelt es sich nicht um eine Betriebsgemeinschaftsveranstaltung." Die Klägerin selbst legte weitere Unterlagen zu der Veranstaltung vor, u.a. die Einladung des Kultur- und Vergnügungsausschusses (KUVA) der C-Schule ("Aushang I/2001").

Durch Bescheid vom 06.02.2002 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab, da sich der Unfall anlässlich einer privaten Veranstaltung ereignet habe. Der hiergegen fristgerecht erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.07.2002 als unbegründet zurückgewiesen.

Die Klägerin hat hierauf am 12.08.2002 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.

Die Klägerin trägt vor, sie sei die einzige Angestellte des Fördervereins und ihre Tätigkeit diene der Integration förderungsbedürftiger Schüler neben dem regulären Unterricht. Die Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen der Schule sei für sie besonders wichtig, um Kontakt zu den übrigen Lehrkräften zu halten. Sie erhalte aus diesen Aktivitäten wertvolle Anregungen für ihre berufliche Tätigkeit, insbesondere wenn es um die Integration durch erlebnispädagogische Arbeit gehe. Es gehe keineswegs nur darum, mit Kollegen einen vergnüglichen Tag zu erleben. Es habe sich vielmehr um eine betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung gehandelt, die allen Kollegen offen gestanden habe und von der Schulleitung gebilligt und gefördert worden sei. Derzeit sei die Fraktur am linken Handgelenk beschwerdefrei verheilt.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 06.02.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.07.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihren Unfall vom 16.06.2001 als Arbeitsunfall gemäß § 8 SGB VII anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte vertritt die Auffassung, bei der Veranstaltung am 16.06.2001 habe es sich nicht um eine Betriebsgemeinschaftsveranstaltung im vom Gesetzgeber geforderten Sinne gehandelt, da eine ausgesprochene Billigung oder Förderung durch die Unternehmensleitung nicht erforderlich gewesen sei. Vielmehr sei der Ausflug aufgrund eigenen Entschlusses von Betriebsangehörigen durchgeführt worden.

Das Gericht hat den früheren Vorsitzenden des Fördervereins sowie derzeitigen stellvertretenden Schulleiter der C-Schule, Herrn F., als Zeugen vernommen. Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen, insbesondere zu dem Inhalt der Zeugenaussage, wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhobene Klage ist zulässig und auch im Umfang des Klageantrags begründet.

Der angegriffene Bescheid der Beklagten ist aufzuheben, denn er ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Diese hat Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 16.06.2001 als versicherten Arbeitsunfall, weil es sich um eine dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterfallende schulische Gemeinschaftsveranstaltung gehandelt hat und sie daher während der Ausübung einer versicherten Tätigkeit verunfallt ist.

Nach § 8 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 2, 3 oder 6 SB VII genannten und danach versicherten Tätigkeiten erleidet.

Dazu ist es erforderlich, dass das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist und dass diese versicherte Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (BSG E 61, 127, 128). Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der so genannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sind (st. Rspr. BSG: BSG E 63, 273, 274; SozR 2200 § 548 RVO Nrn 82, 95, 97; SozR 3-2200 § 548 RVO Nr. 27; SozR 3-2200 § 539 RVO Nr. 38).

Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu der der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallsversicherung reicht (BSG E 58, 76, 77; BSG E 61, 127, 128; SozR 3-2200 § 548 RVO Nr. 32). Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen.

Im Regelfall wird die versicherte Tätigkeit durch die Erfüllung der im Arbeitsvertrag festgelegten Arbeitnehmerpflichten konkretisiert. Die Teilnahme der Klägerin an dem Radausflug mit Kollegen am 16.06.2001 war nicht ein aufgrund des Arbeitsvertrages geschuldetes Verhalten.

Versicherungsschutz ergibt sich jedoch zur Überzeugung des Gerichts unter dem Gesichtspunkt einer Betriebsgemeinschaftsveranstaltung. Über die arbeitsvertraglichen Grenzen hinaus besteht nämlich auch ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit während der Teilnahme an so genannten betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen. Auch diese Veranstaltungen sind unfallversicherungsrechtlich geschützt.

Hierfür ist es nach der ständigen Rechtssprechung des Bundessozialgerichts erforderlich, dass die Zusammenkunft der Pflege der Verbundenheit zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft sowie der Betriebsangehörigen untereinander durch die Teilnahmemöglichkeit möglichst aller Betriebsangehörigen dient und an der deshalb grundsätzlich alle Betriebsangehörigen teilnehmen können und sollen, und dass sie von der Unternehmensleitung selbst veranstaltet oder zumindest gebilligt oder von ihr gefördert und von ihrer Autorität als betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung getragen wird (BSG Urteil vom 27.05.1997, Az.: 2 RU 29/96; BSG Urteil vom 26.10.2004, Az. B 2 U 16/04 R). Allein dass die jeweilige Veranstaltung auch zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Betriebsangehörigen beiträgt, begründet den Versicherungsschutz ebenso wenig wie das Führen von Gesprächen über betriebliche Belange anlässlich nicht versicherter Zusammenkünfte.

Vorliegend steht aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme für die Kammer fest, dass sich die Veranstaltung am 16.06.2001 eingefügt hat in eine lange Jahre an der C-Schule praktizierte und noch bestehende Tradition von gemeinsamen Unternehmungen des Lehrerkollegiums mit dem Ziel, über die rein fachspezifischen Aspekte hinaus die kollegiale Verbundenheit aller Erzieher untereinander wie auch mit der Schulleitung zu stärken, um letztlich eine Verbesserung der Zusammenarbeit in der Wahrnehmung des Erziehungsauftrags zum Wohl der Schüler zu erreichen.

Dies hat der Zeuge F. in seiner Vernehmung am 08.09.2005 bestätigt, indem er zunächst die Entwicklung des "KUVA" aus dem seit Jahrzehnten an der Schule bestehenden Vergnügungsausschuss dargestellt und ausgeführt hat, dass in diesem Rahmen sowohl Weihnachtsfeiern und Betriebsausflüge wie auch sportlichere Aktivitäten organisiert worden sind, die sich grundsätzlich an alle Mitglieder des Kollegiums richteten. Weiter hat der Zeuge F. auch die gute Zusammenarbeit der Organisatoren mit der Schulleitung dargestellt und auf die zeitweise bestehende Personalunion zwischen den Ausschussmitgliedern und der Schulleitung hingewiesen. Auch haben Lehrer aus sämtlichen Abteilungen der Schule wie auch die Schulleitung – jeweils im Rahmen ihrer konditionellen Möglichkeiten - nach glaubhafter Angabe des Zeugen an derartigen Veranstaltungen regelmäßig teilgenommen.

Schließlich ergibt sich aus der Tatsache, dass die jeweiligen Unternehmungen sowohl in den jeweiligen Gesamtkonferenzen angekündigt wie auch als Aushang im Lehrerzimmer bekannt gegeben worden sind, dass diese Veranstaltungen von der Schulleitung zumindest gebilligt, teilweise durch Dienstbefreiungen etc. ausdrücklich gefördert und auch gewünscht waren (und sind).

Für das Gericht wird die "gemeinschaftsfördernde" Zielrichtung dieser Veranstaltungen nicht zuletzt auch aus der Angabe des Zeugen (und seit einigen Jahren auch Mitglieds der Schulleitung) deutlich, die Schulleitung nehme grundsätzlich gerne an solchen Ereignissen teil, um eine "corporate identity" zu fördern. Anliegen des Ausschusses durch Veranstaltung derartiger abteilungsübergreifender Unternehmungen sei es, die tendenziell auseinanderstrebenden Einzelinteressen zusammenzuführen.

Dabei ist nicht auf die jeweilige Einzelveranstaltung in der Form abzustellen, dass eine versicherte Unternehmung nur angenommen werden kann, wenn tatsächlich die Mehrzahl der Mitarbeiter einschließlich der jeweiligen Betriebsleitung/Schulleitung daran teilgenommen haben, denn eine derartige Forderung würde in Ansehung der individuellen Selbstbestimmung jedes Einzelnen die Annahme einer versicherten Gemeinschaftsveranstaltung nahezu ausschließen. Den wechselnden Teilnehmerkreis sowie die unterschiedliche Teilnehmerzahl hat der Zeuge hingegen nachvollziehbar mit Hinweis auf die unterschiedlichen konditionellen Fähigkeiten und die Altersstruktur des Kollegiums (in den letzten Jahren sei eine deutliche Verjüngung eingetreten) begründet.

Soweit der Zeuge F. auf dem Formblatt zur Unfallanzeige (Blatt 14 Verwaltungsakte) angegeben hat, es habe sich nicht um eine Betriebsgemeinschaftsveranstaltung gehandelt, so hat er hierzu in der persönlichen Vernehmung glaubhaft ausgesagt, diesen unfallversicherungsrechtlichen Terminus vorher nicht gekannt zu haben. Außerdem ist der Inhalt des Telefonates des Zeugen mit der Mitarbeiterin der Beklagten, das zu dem Text auf Blatt 14 Verwaltungsakte geführt hat, nicht bekannt. Das Gericht hat jedenfalls keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der von dem Zeugen F. bei der persönlichen gerichtlichen Befragung gemachten Angaben.

Zur Überzeugung der Kammer erfüllte danach die Radtour des Lehrerkollegiums der C-Schule am 16.06.201 alle Voraussetzungen für die rechtliche Bewertung als Betriebsgemeinschaftsveranstaltung, so dass der Klage stattzugeben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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