L 1 KR 305/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 36 KR 933/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 305/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Im Streit steht die einstweilige Versorgung des Antragsstellers mit Medizinal-Cannabisblüten, auf welche dieser -nach seinen Angaben- zur Behandlung seiner schweren Migräne angewiesen ist.

Er beantragte dies mit Schreiben vom 21. März 2017, welches spätestens am 23. März 2017 bei der Beklagten einging. Beigefügt waren privatärztliche Erklärungen bzw. Berichte sowie die dem Antragsteller erteilte Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG). (Erst) mit Schreiben vom 19. April 2017 schaltete die Antragsgegnerin den MDK ein und teilte dem Antragsteller mit, es fehle noch die "Arztanfrage" des (privatärztlichen) Behandlers des Antragsstellers Dr. G zur Vorlage beim MDK. Sie habe diesen bereits erinnert. Nachdem der MDK in seiner Stellungnahme vom 8. Mai 2017 zum Ergebnis gelangt war, es gäbe anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende andere Behandlungsmöglichkeiten, lehnte die Antragstellerin den Antrag mit Bescheid vom 9. Mai 2017 mit dieser Begründung ab.

Am 18. Mai 2017 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Berlin (SG) eine Anordnung auf Kostenübernahme beantragt, den die Antragsgegnerin (auch) als Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid ansieht.

Das SG hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 23. Juni 2017 im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, vorläufig für die Zeit vom 17. Mai 2017 bis 31. Dezember 2017, längstens bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, die Kosten einer Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten "Cannabis Flos" in maximaler Tagesdosis von 3,0 g bei einem Vierwochen-Bedarf von 90 g zu übernehmen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, ein Anordnungsgrund liege vor: Der Anspruch folge aus § 13 Abs. 3a S. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Die Genehmigung der beantragten Leistung werde fingiert, da die Antragsgegnerin die drei wöchige Entscheidungs- bzw. Mitteilungspflicht nicht eingehalten habe. Sie habe es versäumt, unverzüglich den MDK um eine gutachterliche Stellungnahme zu bitten und den Antragsteller hierüber zu informieren. Das Mitteilungsschreiben vom 19. April 2017 sei nicht rechtzeitig nach § 13 Abs. 3a S. 5 SGB V erfolgt. Die begehrte Leistung liege auch nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Versorgung mit Cannabis sei nach § 31 Abs. 6 SGB unter den dort aufgeführten Voraussetzungen vom Leistungsumfang erfasst. Das Leistungsbegehren sei so bestimmt gewesen, dass die Antragsstellerein eine rechtsverbindliche Entscheidung (Ja oder Nein) habe treffen können. Die Genehmigungsfiktion betreffe den beantragten Sachleistungsanspruch, der auch nicht an der fehlenden vertragsärztlichen Verordnung scheitere. Die Antragsgegnerin hätte auch hierüber in der Entscheidungsfrist prüfen und entscheiden können. Diese habe die fingierte Genehmigung auch nicht wieder aufgehoben. Der Anordnungsgrund folge aus der Dringlichkeit der Behandlung der Erkrankung und den hohen Sachkosten.

Gegen diesen ihr am 29. Juni 2017 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 14. Juli 2017. Sie ist der Auffassung, die Fiktion könne nur greifen, wenn der Versicherte keine offensichtlich außerhalb des gesetzlichen Leistungskataloges liegende Leistung begehre. Dies sei hier der Fall, weil der hier für den Antragsteller handelnde Arzt entgegen den Anforderungen des § 31 Abs. 6 SGG V kein Vertragsarzt sei und es an einer vertragsärztlichen Betäubungsmittel-Verordnung fehle.

Sie beantragt der Sache nach,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2017 abzuändern und den Antrag insgesamt zurückzuweisen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen. Er trägt vor, die Anspruchsvoraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V lägen in seinem Falle vor, so dass ihm die Leistung auch ohne die eingetretene Fiktion zustehe. Die Antragsgegnerin selbst habe ihn an Dr. G verwiesen. An sich habe ihm der Vertragsarzt Dr. G als erster Arzt Cannabis verordnet.

II. Die Beschwerde ist unbegründet.

Zu Recht hat das SG dem Eilantrag stattgegeben.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Zu Recht hat das SG einen Anordnungsanspruch und einen -grund bejaht. Zur Vermeidung bloßer Wiederholungen wird zunächst hierauf verwiesen, § 142 Abs. 2 S. 3 SGG. Dies gilt insbesondere für das Vorliegen von Eilbedürftigkeit.

Der Senat teilt die Auffassung des SG, dass dem Antragsteller mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der geltend gemachte Sachleistungsanspruch zusteht, weil eine entsprechende Genehmigung fingiert wird.

Nach § 54 Abs. 5 SGG kann (im Hauptsacheverfahren) die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt (§ 77 SGG) vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – Rdnr. 8 mit weit. Nachw.). Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Die Genehmigungsfiktion bewirkt ohne Bekanntgabe (§§ 37, 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -SGB X) einen in jeder Hinsicht voll wirksamen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 S 1 SGB X. Durch den Eintritt der Fiktion verwandelt sich der hinreichend inhaltlich bestimmte Antrag in den Verfügungssatz des fingierten Verwaltungsakts. Er hat zur Rechtsfolge, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten - wie hier - unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht.

Die Voraussetzungen einer fingierten Genehmigung nach § 13 Abs. 3a 7 SGB V (in der seit 26.2.2013 geltenden Fassung des Art 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (PatRVerbG&707; vom 20. Februar 2013, BGBl I 277) sind erfüllt. Damit besteht ein durchsetzbarer Anspruch.

Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch. Ausdrücklich regelt das Gesetz, dass, wenn keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes erfolgt, die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs. 3a S 6 SGB V). Der Naturalleistungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion ermöglicht auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ihren Anspruch zu realisieren. Für diese Auslegung spricht der Sanktionscharakter der Norm (BSG, a. a. O. Rdnr. 12f).

§ 13 Abs. 3a SGB V ist bewusst abweichend von den sonstigen in § 13 SGB V geregelten Kostenerstattungstatbeständen geregelt (vgl. § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V) und erstreckt sich wie der Erstattungsanspruch deshalb nur auf subjektiv "erforderliche" Leistungen (BSG, a. a. O. Rdnr. 13 mit Bezugnahme auf Urteil vom 8. März 2016 -B 1 KR 25/15 R, BSGE 121, 40, Rdnr. 25). Der Sachleistungsanspruch auf medizinisches Cannabis ist von § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V umfasst. Die Regelung betrifft unter anderem -wie hier- Ansprüche auf Krankenbehandlung, nicht dagegen Ansprüche, die unmittelbar auf eine Geldleistung oder auf Leistungen zur medizinischen Reha gerichtet sind (BSG, Urt. v. 8. März 2016 Rdnr 11 ff). Der Antragsteller ist als bei der Antragsgegnerin Versicherter Leistungsberechtigter.

Wie das SG richtig ausgeführt hat, war der Antrag so bestimmt, dass die fiktive Genehmigung ihrerseits dem Erfordernis der Bestimmtheit nach § 33 SGB X genügt (vgl. BSG, a. a. O. Rdnr. 23; LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 27. Juni 2017 -L 9 KR 249/17 BER).

Der Antrag betrifft auch ohne vertragsärztliche Verordnung eine Leistung, die der Antragstellerin für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV lag:

Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich, aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck an, neben dem Sachleistungsanspruch aufgrund § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V auch einen naturalleistungsersetzenden Kostenerstattungsanspruch vorzusehen (BSG, a. a. O. Rdnr. 25). Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (BSG, a. a. O Rdnr. 26 unter Heranziehung der Gesetzesmateriealien und mit weiteren Nachweisen).

Gemessen hieran liegt eine Versorgung mit Cannabis unter Einhaltung aller formellen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V bis auf den Umstand, dass der handelnde Arzt kein Vertragsarzt ist, jedenfalls hier nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs. Die Antragsgegnerin selbst hat sich erst im Nachhinein hierauf berufen. Ein rechtzeitiger Hinweis an den Antragssteller ist unterblieben. Ganz allgemein gibt es Konstellationen, in denen über das Vorliegen der Eigenschaft Vertragsarzt zu sein, Unsicherheiten bestehen können, ganz abgesehen von der -hier vom Antragsteller angedeuteten- Möglichkeit eines Systemversagens, weil es zu wenig geeignete vertragsärztlich tätige Schmerztherapeuten geben könnte. Der Antragsgegnerin wäre es ohne weiteres möglich gewesen, den Antrag innerhalb von drei Wochen abzulehnen, wenn es ihres Erachtens bereits an dieser Formalie fehlte. Gleichermaßen wäre eine rasche Rücknahme der fingierten Genehmigung möglich gewesen. Sie hätte einem von ihr angenommenen rechtsmissbräuchlichen Verhalten ohne großen Aufwand entgegenwirken können. Ein rechtsmissbräuchliche Motivation des Antragsstellers liegt allerdings angesichts dessen Sachverhaltsschilderung (Dr. Gals behandelnder Arzt den in der Zeit vor Einführung des § 31 Abs. 6 SGB V; Schwierigkeiten, einen entsprechenden Schmerztherapeuten zu finden) eher fern.

Hinsichtlich der Nichteinhaltung der Fristen des § 13 Abs. 3a S. 1 bzw. 2 SGB V wird auf den Beschluss des SG verwiesen.

Das SG hat dem Antragsteller entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch nicht mehr zugesprochen als beantragt worden ist. Dessen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht nur auf eine Monatsration an medizinischen Cannabisblüten gerichtet, sondern auf 90g alle vier Wochen. Er hatte seinen Antrag vom 21. März 2017 damit begründet, nur noch für kurze Zeit berechtigt zu sein, 90 g Cannabis Flos im Zeitraum von vier Wochen in der Apotheke zu erwerben. Der Eilantrag bei Gericht ist allgemein auf Übernahme der Kosten hierfür gerichtet.

Der erstinstanzliche Tenor war nach Auffassung des Senats auch nicht mit der Maßgabe zu versehen, dass eine Verpflichtung der Antragsgegnerin nur bestehe, wenn eine ärztliche Verordnung vorliege und unter der weiteren Voraussetzung, dass in der Hauptsache Klage erhoben werde (so Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, B. vom 27. Juli 2017 – L 5 KR 140/17 B ER –, juris-Rdnr. 22, juris).

Dass der Antragsteller die Cannabis-Medikamente nicht ohne ärztliches Rezept von der Apotheke ausgehändigt erhalten kann, versteht sich von selbst. Das von § 31 Abs. 6 SGB V vorausgesetzte Erfordernis der Verordnung durch einen Vertragsarzt steht -wie ausgeführt- aufgrund der weitergehenden Fiktion der Genehmigung dem Anspruch nicht entgegen.

In zeitlicher Hinsicht kann die Antragsgegnerin hier auf die Möglichkeit nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 926 Zivilprozessordnung verwiesen werden, vom Antragsteller eine Klage in der Hauptsache zu verlangen (vgl. zur Zulässigkeit einer allgemeinen Leistungsklage durch den Antragssteller: BSG, Urt. v. 11. Juli 2017 Rdnr. 7 und zur Unbeachtlichkeit der verspäteten Ablehnung: BSG, a. a. O. Rdnr 36). Denn die einstweilige Anordnung gilt von vorneherein nur maximal bis Ende des Jahres.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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