L 21 R 932/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 45 R 271/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 R 932/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers ist zulässig.

Tatbestand:

In der Hauptsache streiten die Beteiligten um Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 00.00.1949 geborene in Spanien wohnhafte Kläger bezieht seit dem 01.11.2014 Regelaltersrente von der Beklagten. Er beantragte zunächst am 17.06.2009 bei der Beklagten Rente wegen voller Erwerbsminderung. Mit Bescheid vom 30.06.2010 wurde dieser Antrag abgelehnt. Daraufhin stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag, den die Beklagte nach Einholung von Befundberichten seiner behandelnden Ärzte in Spanien mit streitgegenständlichem Bescheid vom 07.10.2011 ablehnte. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2012 zurück, wogegen der Kläger unter Bevollmächtigung seiner ebenfalls in Spanien ansässigen Rechtsanwälte fristgerecht Klage erhoben hat.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.06.2010 in der Gestalt des Bescheides vom 07.10.2011 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 20.11.2012 zu verurteilen, ihm rückwirkend ab Antragstellung Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung durch die Einholung eines ambulanten Gutachtens bei Dr. T nach entsprechenden Einverständniserklärungen der Beteiligten die Klage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung am 03.07.2014 als unbegründet abgewiesen. In seiner auch ansonsten richtigen Rechtsmittelbelehrung hat das SG den Kläger u.a. darüber belehrt, dass die Berufungsfrist für ihn drei Monate betrage, weil die Zustellung außerhalb des Geltungsbereichs des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erfolge. Das Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15.07.2014 in Spanien zugestellt worden.

Hiergegen haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen adressiertem Schriftsatz vom 03.10.2014 Berufung eingelegt. Dieser Schriftsatz ist beim Servicio Comun de Registro y Reparto des los Juzgados de Ourense (Servicio) in Spanien am 03.10.2014 und beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen am 16.10.2014 - einem Donnerstag - eingegangen.

Der Senat hat darauf hingewiesen, dass der Eingang der Berufung beim Landessozialgericht die Frist nicht wahre und um Darlegung gebeten, ob es sich beim Servicio um ein dem Sozialgericht oder dem Landessozialgericht entsprechendes Gericht im Sinne von Art. 81 VO (EG) 883/2004 handele.

Hierzu hat der Kläger mitgeteilt, das spanische Gesetz Ley Organica 19/2003 vom 23. Dezember zur Änderung des Gesetzes Ley Organica 6/1985 vom 1. Juli über die Strukturierung der spanischen richterlichen Gewalt habe in Art. 438 Abs. 3 das Justizministerium ermächtigt, innerhalb der jeweiligen Zuständigkeiten gerichtliche Dienststellen einzuführen, die die allen Gerichten gleichermaßen zufallenden Aufgaben der Annahme, Registrierung und Verteilung von eingehenden Schriftstücken, Aufgaben der gerichtlichen Mitteilungen und Zustellungen, Aufgaben der gerichtlichen Amtshilfe, Aufgaben der gerichtlichen Vollstreckungen und Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit in eigener Zuständigkeit für alle anderen Gerichte vor Ort selbständig erledigten. In der Stadt Ourense befinde sich im Parterre des Justizgebäudes (Plaza de Concepcion Arenal, 1 - 32003 Ourense) sein solcher Servicio, der die Annahme, Registrierung und Verteilung der eingehenden Eingaben für alle Gerichte der Provinzialhauptstadt Ourense (vier Sozialgerichte, ein Landessozialgericht, vier Amtsgerichte, zwei Strafgerichte, ein Familiengericht, ein Handelsgericht, zwei Verwaltungsgerichte und ein Landgericht) in eigener Zuständigkeit, geleitet von einem Gerichtssekretär und unter Leitung des örtlichen Dekanrichters, erledige. Die entsprechenden Unterlagen sind im spanischen Original sowie auf Anforderung des Senats hinsichtlich der Art. 435 bis 438 des spanischen Organgesetzes in der aktuell gültigen Fassung mit Schriftsatz vom 04.12.2014 beigefügt bzw. mit Schriftsatz vom 23.04.2015 nachgereicht worden.

Weiterhin haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers eine Bestätigung des Gemeinsamen Dienstes für Registrierung und Geschäftsverteilung in Ourense vom 06.03.2017 vorgelegt, wonach das Leitgericht Ourense laut Beschluss der Generalversammlung der Richter vom 12.01.2004 die Aufgaben der Registrierung und Geschäftsverteilung sowie sonstige damit verbundene Tätigkeiten der Sozialgerichte in Ourense übernommen habe. Seit dem 12.01.2004 sei das Leitgericht Ourense für alle Gerichte im Bezirk Ourense hinsichtlich der Registrierung und Geschäftsverteilung auch von verfahrenseinleitenden Schriftstücken zuständig. Im Eingangsstempel erscheine dann jedenfalls seit 2010 die Bezeichnung Servicio Comun de Registro y Reparto des los Juzgados de Ourense. Letztendlich sei der Gemeinsame Dienst für Registrierung und Geschäftsverteilung der Gerichte von Ourense das zuständige Organ für die Eingabe von Schriftstücken, die an die entsprechenden Justizbehörden der Mitgliedsstaaten der EU, die in den jeweiligen Ländern den (spanischen) Ermittlungs-, Straf-, Verwaltungs- und Sozialgerichten entsprechen, gerichtet sind.

Der Kläger vertritt die Auffassung, der Servicio der Stadt Ourense einspreche der Posteingangsstelle beim Landessozialgericht mit dem einzigen Unterschied, dass der Servicio für sämtliche im Bezirk der Stadt Ourense gelegenen Gerichte die gemeinsame Posteingangsstelle sei.

Mit einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung durch Zwischenurteil ohne mündliche Verhandlung haben sich die Beteiligten einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen, welche ebenso Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Über die Frage der Zulässigkeit der Berufung konnte der Senat - mit Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 I, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung - nach §§ 153 Abs. 1, 130 Abs. 2 SGG vorab durch Zwischenurteil entscheiden, da dies sachdienlich ist. Hieran ist der Senat auch nicht deshalb gehindert, weil bereits das SG - ebenfalls im Einverständnis der Beteiligten - durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. Denn auch dann verbleibt es für die Beteiligten in der Berufungsinstanz bei der Möglichkeit, erneut gemäß § 124 Abs. 2 SGG ihr Einverständnis zu einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu erklären (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 06.05.2010, L 3 AS 588/09, Juris Rn. 12). Überdies handelt es sich bei der Zulässigkeit des Rechtsmittels um eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 130 Abs. 2 SGG, der deshalb hier anwendbar ist. Die Sachdienlichkeit einer Vorabentscheidung folgt daraus, dass bei rechtskräftiger Verneinung der Zulässigkeit des Rechtsmittels weitere Ermittlungen in der Sache zur Frage der Erwerbsfähigkeit entbehrlich blieben.

Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie zur Überzeugung des Senats fristgerecht eingelegt. Am Vorliegen der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen bestehen überdies keine Zweifel.

Bei Zustellungen im Ausland - wie hier an die Prozessbevollmächtigten des Klägers in Spanien - ist in Ermangelung einer § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG entsprechenden Bestimmung in § 151 SGG für die Bestimmung der Berufungsfrist über § 153 Abs. 1 SGG der § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG entsprechend heranzuziehen (Leitherer in Meyer-Ladewig / Keller/ Leitherer / Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage, 2017, Rn. 6 zu § 151 SGG) mit der Folge, dass die Berufung beim Landessozialgericht innerhalb von drei Monaten nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen ist. Die Ausnahme des § 66 Abs. 2 SGG, wonach die - problemlos eingehaltene - Jahresfrist gälte, greift hier nicht, weil die sozialgerichtliche Rechtsmittelbelehrung im Sinne des § 66 Abs. 1 SGG richtig erteilt worden ist. Insbesondere hat das Sozialgericht in ihr zutreffend auf die für den Kläger geltende Drei-Monats-Frist hingewiesen.

Der Kläger hat die Berufung am 03.10.2014 und damit fristgerecht eingelegt. Abzustellen ist auf den für diesen Tag beurkundeten Eingang seiner Berufungsschrift beim Servicio Comun de Registro y Reparto des los Juzgados de Ourense in Spanien. Maßgebend hierfür ist Artikel 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit - "Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe" -, der lautet:

"Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe, die gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht dieses Mitgliedstaats einzureichen sind, können innerhalb der gleichen Frist bei einer entsprechenden Behörde, einem entsprechenden Träger oder einem entsprechenden Gericht eines anderen Mitgliedstaats eingereicht werden. In diesem Fall übermitteln die in Anspruch genommenen Behörden, Träger oder Gerichte diese Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe entweder unmittelbar oder durch Einschaltung der zuständigen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten unverzüglich der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht des ersten Mitgliedstaats. Der Tag, an dem diese Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht des zweiten Mitgliedstaats eingegangen sind, gilt als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht".

Bei dem Servicio Comun de Registro y Reparto des los Juzgados de Ourense handelt es sich um eine dem Landessozialgericht im Sinne des Art. 81 Satz 1 der o.g. Verordnung entsprechende Stelle, so dass zur Berechnung der Berufungsfrist auf den Eingang der Berufungsschrift dort abzustellen ist.

Eine solche "entsprechende Stelle" ist dann anzunehmen, wenn es sich bei ihr um eine Einrichtung handelt, die an der Verwaltung des Systems der sozialen Sicherheit teilnimmt (EuGH, Urteil vom 03.12.1974, C-40/74, Juris Nr. 6; Pabst in Schlegel/Voelzke, JurisPK-SGB I, 2-. Auflage 2011, Stand: 21.03.2017, Rn. 7 zu Art. 81 VO (EG) 883/2004).

Der Servicio nimmt an der Verwaltung des Systems der sozialen Sicherheit teil. Er wurde auf der Grundlage des Art. 438 Abs. 3 des Ley Organica 19/2003 vom 23. Dezember zur Änderung des Gesetzes Ley Organica 6/1985 vom 1. Juli über die Strukturierung der spanischen richterlichen Gewalt in Ourense für alle Gerichte der Provinzialhauptstadt Ourense, insbesondere auch für die in diesem Bezirk befindliche Sozialgerichtsbarkeit, eingerichtet und mit der Annahme, Registrierung und Geschäftsverteilung auch der die Sozialgerichtsbarkeit betreffenden Schriftstücke beauftragt. Ausweislich der Bestätigung des Gemeinsamen Dienstes für Registrierung und Geschäftsverteilung in Ourense vom 06.03.2017 ist der beim Servicio Comun de Registro y Reparto des los Juzgados de Ourense eingerichtete Gemeinsame Dienst für Registrierung und Geschäftsverteilung der Gerichte von Ourense das zuständige Organ für die Eingabe von Schriftstücken, die an die entsprechenden Justizbehörden der Mitgliedsstaaten der EU, die in den jeweiligen Ländern den (spanischen) Ermittlungs-, Straf-, Verwaltungs- und Sozialgerichten entsprechen, gerichtet sind. Bei ihm konnte deshalb gemäß Art. 81 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 innerhalb der gleichen Frist wie beim Landessozialgericht die Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil eingelegt werden, weshalb der Eingang der Berufung beim Servicio Comun de Registro y Reparto des los Juzgados de Ourense am 03.10.2014 die Berufungsfrist wahrt und die Berufung zulässig ist.

Die Kostenentscheidung ergeht mit dem Schlussurteil (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., aaO, Rn. 8 zu § 130 SGG).

Dieses Zwischenurteil kann nicht selbständig, sondern nur mit dem Endurteil angefochten werden (vgl. BSG, Beschluss vom 19.09.2007, B9/9a SB 49/06 B).
Rechtskraft
Aus
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