L 13 SB 40/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 SB 5235/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 40/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Januar 2017 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1943 geborene Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches mit Merkzeichen B.

Mit Bescheid vom 26. September 2013 hatte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen G festgestellt. Dem hatte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:

- Lungenfunktionseinschränkung
- degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit langanhaltenden Nervenwurzelreizerscheinungen und Funktionsbehinderungen, Scheuermannsche Erkrankung, rheumatische Muskel- und Gelenkbeschwerden,
- Restbeschwerden nach Handwurzelknochenfrakturen,
- Verlust der Gallenblase und Gebärmutter, rezidivierende Narbenschmerzen sowie
- Diabetes mellitus.

Am 30. April 2015 beantragte die Klägerin eine Neufeststellung des GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichen B und aG und machte hierzu geltend, sie leide an einer COPD mit Emphysem, einem vorwiegend allergischen Asthma bronchiale und zunehmender Dyspnoe. Nach Einholung eines ärztlichen Befundberichtes lehnte der Beklagte die Neufeststellung mit Bescheid vom 7. Juli 2015 ab und wies auch den hiergegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2015 zurück.

Mit der am 10. November 2015 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren auf Feststellung des Merkzeichens B weiter verfolgt. Hierzu hat sie geltend gemacht, ihre Lungenfunktion sei massiv eingeschränkt. So könne sie bereits alltägliche Verrichtungen nicht mehr ohne fremde Hilfe erledigen. Ihre Atemnot äußere sich etwa in Schwindel. Bei ihr bestehe eine Stand- und Gangunsicherheit. Auch ihre Orientierungsfähigkeit sei eingeschränkt. Zusätzlich sei sie im Bereich der Wirbelsäule beeinträchtigt, die dort entstehenden Schmerzen würden in das linke Bein ausstrahlen. Aufgrund eines Taubheitsgefühls in den Zehen ihres linken Fußes verspüre sie verstärkte Einschränkungen beim Gehen und Stehen und neige zu einer Sturzgefahr. Vor diesem Hintergrund benötige sie außerhalb ihrer eigenen Wohnung fremde Hilfe, vor allem beim Aufsuchen und bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Lungenärzte eingeholt und mit Gerichtsbescheid vom 26. Januar 2017 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Änderung des Bescheides vom 26. September 2013, weil sich in den tatsächlichen Verhältnissen eine wesentliche Veränderung nicht eingestellt habe. Grundlage für die Zuerkennung des begehrten Merkzeichens sei § 146 Abs. 2 SGB IX, wonach schwerbehinderte Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt seien, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen seien. Teil D 2b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) konkretisiere dies dahingehend, dass eine ständige Begleitung bei Schwerbehinderten, bei denen die Voraussetzungen der Merkzeichen G, Gl oder H vorliegen, notwendig sei, die infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen seien. Vor diesem Hintergrund habe die Klägerin keinen Anspruch auf das Merkzeichen, denn sie sei zwar erheblich gehbehindert, könne aber öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ohne dabei regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Es sei für das Gericht nicht erkennbar, dass die bei der Klägerin vorliegenden Lungen- und Atemwegserkrankungen eine derartige Luftnot bei ihr verursachten, dass ihr dauerhaft eine selbständige Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln unmöglich sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Gerichtsbescheid Bezug genommen, der dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 31. Januar 2017 zugestellt worden ist.

Mit der am 24. Februar 2017 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und macht hierzu geltend, ihre Lungenerkrankung mache sich nachteilig auf ihre Gehfähigkeit bemerkbar. Mit ärztlichem Attest vom 31. Mai 2016 sei die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen B ausdrücklich befürwortet worden. Das Gericht habe zu Unrecht weder eine Begutachtung der Klägerin veranlasst, noch sich einen persönlichen Eindruck von ihr verschafft. Dabei habe das Gericht übersehen, dass sie nicht lediglich Atembeschwerden geltend mache, sondern eine Stand- und Gangunsicherheit infolge von Schwindel und eine Einschränkung der Orientierungsfähigkeit erleide. Diese Symptome machten es ihr unmöglich, öffentliche Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe zu benutzen. Ihr fehle die Kraft bzw. die Sicherheit im Stehen und Gehen. Im Übrigen habe sich ihre gesundheitliche Situation kontinuierlich verschlechtert. Sie halte neben der Einholung aktueller Befundberichte auch eine orthopädische Begutachtung für unerlässlich.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Januar 2017 und den Bescheid des Beklagten vom 7. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2015 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches mit Merkzeichen B mit Wirkung ab dem 30. April 2015 festzustellen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Der Beklagte wird beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Beide Voraussetzungen sind hier gegeben. Ein Verfahrensmangel im Sinne der genannten Vorschrift ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist er, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann. Vor diesem Hintergrund leidet die Entscheidung des Sozialgerichts in doppelter Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren, zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.

Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter im Wege des Gerichtsbescheides ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) ihren gesetzlichen Richter, nämlich die Kammer in der von § 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG vorgesehenen Besetzung entzogen. Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht zu erkennen, dass der Sachverhalt geklärt wäre. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhaltes haben wird. So liegt es hier indes nicht, denn das Sozialgericht hat bereits der allgemeinen Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend Rechnung getragen.

Entgegen § 103 SGG hat das Sozialgericht nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen ermittelt bzw. ist hierbei in seiner Verfahrensweise defizitär geblieben. Für die Entscheidung über die Zuerkennung des Merkzeichens B kam es nach eigener Sicht des Sozialgerichts wesentlich darauf an, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei der Klägerin bestehen und in welcher Weise sich diese auf ihre Fähigkeit zur selbständigen Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auswirken. Die Aufklärung eines derartig medizinisch geprägten Sachverhaltes durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das BSG an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt. Danach darf sich in einem medizinisch geprägten Sachgebiet ein Gericht mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse nicht allein auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu eingegangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen stützen. Die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt im Regelfall nicht, um den Erfordernissen der Amtsermittlung gerecht zu werden. Sie sind nur schriftliche Zeugenaussagen, wobei den behandelnden Ärzten überdies oftmals eine sozial-medizinische Schulung und Erfahrung fehlt. Zudem sollte die richterliche Sachaufklärung nicht dazu führen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigt wird, solange geeignetere Methoden der Sachverhaltsaufklärung verfügbar sind. Die Aufklärung eines Sachverhaltes in medizinischer Hinsicht bedarf daher regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens. Dies gilt umso mehr, wenn – wie hier – Atteste eines behandelnden Arztes (lungenfachärztliche Atteste vom 31. Mai und 14. September 2016) eine Einschätzung zum Streitgegenstand enthält, der das Gericht sich aufgrund des weiteren Attestinhaltes nicht anzuschließen vermag. Die Gutachteneinholung ist im Verfahren des ersten Rechtszuges versäumt worden. Beide Verfahrensmängel haben sich potentiell auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Sozialgericht bei ordnungsgemäßer Sachaufklärung und dann in rechtmäßiger Besetzung anderes über die Klage entschieden hätte.

Aufgrund der unvollständigen Sachverhaltsaufklärung bleibt eine umfangreiche und potentiell aufwändige Beweisaufnahme notwendig, nach gegenwärtigem Stand zumindest durch Einholung eines Gutachtens auf lungenärztlichem Gebiet, möglicherweise auch durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens. Bereits mit der Einholung eines Gutachtens ist typischerweise der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung des einzuholenden Gutachtens auch erheblicher personeller Mittel verbunden. Der Senat berücksichtigt bei seiner Entscheidung, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert. Deshalb würde der Verlust einer Tatsacheninstanz besonders ins Gewicht fallen. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Zwar sind hier seit der erstinstanzlichen Entscheidung bereits mehr als sechs Monate vergangen, doch berücksichtigt der Senat insoweit, dass eine zügigere Entscheidung nur deshalb nicht hat ergehen können, weil der bereits für Juli 2017 angesetzte Termin auf Antrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin hat aufgehoben werden müssen.

Das Sozialgericht wird auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.

Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Saved