L 13 SB 8/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 192 SB 3928/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 8/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2015 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 26. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2014 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 2. Oktober 2015 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 1. April 2017 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zu 1/3 zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).

Im Jahre 2009 hatte der Beklagte auf der Grundlage des Gutachtens des Arztes Dr. Y vom 17. Juli 2008 bei der 1969 geborenen Klägerin einen GdB von 30 festgestellt.

Den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 21. Oktober 2013, mit dem sie auch das Merkzeichen G verfolgte, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 26. März 2014 ab. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, worauf der Beklagte das Gutachten des Arztes H vom 5. Oktober 2014 einholte. Der Gutachter bewertete den Gesamt-GdB bei der Klägerin mit 30 und lehnte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G ab. Der Gutachter ging hierbei von folgenden Einzelbehinderungen aus:

1. psychische Störungen (Neurosen), psychosomatische Störungen (Einzel-GdB 20), 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, Spinalkanalstenose (Einzel-GdB 20), 3. Bluthochdruck bei Adipositas (Einzel-GdB 10), 4. Diabetes mellitus (Einzel-GdB 10), 5. chronische Harnwegsentzündung (Einzel-GdB 10), 6. chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB 10), 7. Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseits (Einzel-GdB 10).

Dem Gutachten folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2014 zurück.

Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin einen GdB von mindestens 60 und das Merkzeichen G begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin B vom 19. August 2015 eingeholt, der den Gesamt-GdB bei der Klägerin auf 40 eingeschätzt hat. Der Gutachter hat hierzu folgende Funktionsbehinderungen ermittelt:

1. Beinödem rechts mit Stauungszeichen (Einzel-GdB 30), 2. Somatisierungsstörung (Einzel-GdB 20), 3. Zuckerstoffwechselstörung mit Tabletten und Insulin behandelt (Einzel-GdB 20), 4. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), 5. Funktionseinschränkung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10), 6. Funktionseinschränkung der Kniegelenke (Einzel-GdB 10).

Der Beklagte hat daraufhin mit Schriftsatz vom 2. Oktober 2015 erklärt, er werde mit Wirkung ab 21. Oktober 2013 bei der Klägerin einen GdB von 40 anerkennen. Dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgesetzt. Mit Urteil vom 1. Dezember 2015 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Es ist hierbei im Wesentlichen dem Sachverständigen gefolgt. Dem Beklagten sind 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt worden.

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung hat die Klägerin zunächst einen GdB von 50 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. G vom 6. April 2017 mit ergänzender Stellungnahme vom 10. Juni 2017. Auf der Grundlage der Untersuchung vom 3. April 2017 stellte der Sachverständige folgende Einzelbehinderungen fest:

1. psychische Störungen (Neurosen), psychosomatische Störung und Somatisierung (Einzel-GdB 30), 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 20), 3. Diabetes mellitus (Einzel-GdB 20), 4. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10), 5. chronische Harnwegsentzündung (Einzel-GdB 10), 6. chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB 10), 7. Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseits (Einzel-GdB 10).

Den Gesamt-GdB hat der Gutachter auf 40 eingeschätzt. Er hat ferner darauf verwiesen, dass die Klägerin ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahr für sich oder andere im Ortsverkehr übliche Wegstrecken zurücklegen kann.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Klägerin erklärt, das Begehren auf einen GdB von 50 ab April 2017 zu beschränken und die Zuerkennung des Merkzeichens G im vorliegenden Verfahren nicht mehr zu verfolgen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2015 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 26. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2014 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 2. Oktober 2015 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 1. April 2017 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Dier Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. Er hält einen Gesamt-GdB von 40 für ausreichend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist, soweit sie diese aufrechterhalten hat, begründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 50 mit Wirkung ab dem 1. April 2017.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.

Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass sich das psychische Leiden der Klägerin verschlimmert hat. War die seelische Erkrankung der Klägerin, wie der in der ersten Instanz herangezogene Sachverständige B nachvollziehbar dargelegt hat, zunächst mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, hat die am 3. April 2017 durch den Sachverständigen Prof. Dr. G durchgeführte Untersuchung der Klägerin ergeben, dass bei ihr eine agitiert depressive Störung, die mittelgradig ausgeprägt ist, bei rezidivierenden depressiven Episoden und somatoformen Reaktionen besteht. Der Senat folgt dem sich an den Vorgaben in Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV orientierenden Vorschlag des Sachverständigen, diese Behinderung für den noch streitigen Zeitraum mit einem Einzel-GdB von 30 zu belegen.

Für die Behinderungen im Funktionssystem der unteren Extremitäten ist ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen. Neben Funktionsbehinderungen beider Kniegelenke (Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV) liegt bei der Klägerin nach den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen eine chronisch-venöse Insuffizienz (Teil B Nr. 9.2.3 der Anlage zu § 2 VersMedV) vor. Während bei der Untersuchung durch den Sachverständigen B mäßiggradige Ödeme am rechten Bein bestanden, war bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Prof. Dr. G eine mäßig ausgeprägte Ödembildung im Bereich beider Unterschenkel nachweisbar. Entgegen der Ansicht des letztgenannten Gutachters darf eine Bewertung dieser Behinderung nicht deshalb unterbleiben, weil sie Ausdruck einer unterschiedlichen verursachenden Störung ist. Denn der GdB ist nach Teil A Nr. 2a der Anlage zu § 2 VersMedV auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache (also final) bezogen. Maßgeblich sind die Funktionseinschränkungen, die der Sachverständige B im Hinblick auf die Ödembildung nachvollziehbar als mittelgradig eingeschätzt hat.

Für die Wirbelsäulenschäden der Klägerin ist nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen.

Der Diabetes mellitus, der mit Insulininjektionen und Tabletten behandelt wird, bedingt nach Teil B Nr. 15.1 der Anlage zu § 2 VersMedV einen Einzel-GdB von 20.

Mit jeweils einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind der Bluthochdruck, die chronische Harnwegsentzündung und die chronische Magenschleimhautentzündung.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Bei dem Kläger ist der Gesamt-GdB danach mit 50 festzusetzen. Der Einzel-GdB von 30 für das psychische Leiden ist nach Überzeugung des Senats im Hinblick auf die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden Behinderungen im Bereich der unteren Extremitäten um einen Zehnergrad (auf 40) heraufzusetzen. Eine Anhebung um einen weiteren Zehnergrad (auf 50) ist im Hinblick auf die jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und des Diabetes mellitus geboten, da die Auswirkungen dieser Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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