L 13 SB 78/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 41 SB 1482/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 78/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Januar 2015 wird, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist, zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu einem Viertel zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung des Merkzeichens G.

Der Beklagte hatte 2011 bei dem 1968 geborenen Kläger einen GdB von 40 festgesetzt. Den Feststellungsantrag des Klägers vom 29. Oktober 2012 lehnte er durch Bescheid vom 5. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2013 mit der Begründung ab, dass der GdB weiterhin 40 betrage und die Voraussetzungen des ebenfalls beantragten Merkzeichens G nicht vorlägen. Hierbei ging er verwaltungsintern von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:

a) Bandscheibenschäden (Einzel-GdB von 30), b) Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung (Einzel-GdB von 30), c) Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig (Einzel-GdB von 10), d) Funktionsbehinderung des Handgelenks rechts (Einzel-GdB von 10).

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. K vom 17. Januar 2014 eingeholt, der den GdB auf orthopädischem Fachgebiet auf 40 eingeschätzt hat. Diese Bewertung hat der Sachverständige auf der Grundlage folgender Funktionsbeeinträchtigungen getroffen:

e) Erkrankung der Hals- und Lendenwirbelsäule (Einzel-GdB von 20), f) Erkrankung der Schultergelenke (Einzel-GdB von 10), g) Erkrankung der Hände (Einzel-GdB von 20), h) Erkrankung der Kniegelenke (Einzel-GdB von 30), i) Erkrankung der Sprunggelenke (Einzel-GdB von 10).

Ferner hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Un-fallchirurgie sowie Rheumatologie Dr. G vom 14. April 2014 eingeholt, der folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt hat:

a) im Funktionssystem Wirbelsäule (Einzel-GdB von 30), b) Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung (Einzel-GdB von 30), c) im Funktionssystem der unteren Extremitäten (Einzel-GdB von 20), d) Polyneuropathie (Einzel-GdB von 10).

Insgesamt hat der Sachverständige den GdB auf orthopädisch-rheumatologischem Fachgebiet mit 40 bewertet.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage durch Urteil vom 13. Januar 2015 mit der Begründung abgewiesen, aus den überzeugenden Gutachten ergebe sich, dass der Gesamt-GdB bei dem Kläger lediglich 40 betrage.

Mit der Berufung gegen die Entscheidung des Sozialgerichts verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie Prof. Dr. S vom 10. Dezember 2015 mit ergänzender Stellungnahme vom 22. September 2016 zu insgesamt 29 Fragen des Klägers. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers am 20. November 2015 folgende GdB-relevante Behinderungen ermittelt:

a) degenerative Umformungen der Wirbelsäule mit geringgradigen funktionellen Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten (Einzel-GdB von 20), b) Schuppenflechte mit Schuppenflechtenrheuma, trotz intensiver immunsuppressiver Therapie therapeutisch nicht ausreichend beeinflusst (Einzel-GdB von 50), c) Kniearthrose beidseits und Knick-Senk-Spreizfuß (Einzel-GdB von 20), d) Polyneuropathie (Einzel-GdB von 10), e) Großwuchs (Einzel-GdB von 10).

Der Gutachter hat vorgeschlagen, bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen. Er hat darauf hingewiesen, dass seit 2014 eine Dynamisierung des rheumatischen Prozesses eingetreten ist: Die Gelenkergüsse haben zugenommen; die therapeutische Beeinflussbarkeit ist gering. Die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G lägen nicht vor.

Mit Schriftsatz vom 15. März 2016 hat der Beklagte erklärt, er werde bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 50 ab Januar 2014 feststellen. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgesetzt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Januar 2015 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 5. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2013 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 15. März 2016 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 29. Oktober 2012 einen GdB von 50, ab September 2013 einen GdB von 70 und ab dem 29. Oktober 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit sie nicht durch das angenommene Teilanerkenntnis erledigt ist, unbegründet.

1. Hinsichtlich des Zeitraumes vom 29. Oktober 2012 bis zum 31. Dezember 2013 kann der Kläger keinen Gesamt-GdB von mehr als 40 und hinsichtlich des Zeitraumes ab dem 1. Januar 2014 keinen Gesamt-GdB von mehr als 50 erfolgreich beanspruchen.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.

Der Senat ist nach den nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. S davon überzeugt, dass die Schuppenflechte mit Schuppenflechtenrheuma mit einem Einzel-GdB von 50 – und damit am oberen Rand der in Teil B Nr. 17.7 der Anlage zu § 2 VersMedV vorgesehenen GdB-Spanne von 30 bis 50 – zu würdigen ist. Der Senat konnte aber nicht die Überzeugung gewinnen, dass dieser Zustand bereits vor dem 1. Januar 2014 bestanden hat. Denn der Sachverständige Prof. Dr. S hat darauf hingewiesen, dass seit 2014 eine Dynamisierung des rheumatischen Prozesses eingetreten ist. Im Zeitraum vom 29. Oktober 2012 bis zum 31. Dezember 2013 rechtfertigte die Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung lediglich einen Einzel-GdB von 30, da nach den Feststellungen des in der ersten Instanz herangezogenen Sachverständigen Dr. G im Bereich der Hände, dem Fokus der Erkrankung, lediglich leichtgradige Funktionseinbußen vorlagen. Der Sachverständige Prof. Dr. S hat sich dieser Bewertung ausdrücklich angeschlossen.

Die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers mit geringgradigen funktionellen Einschränkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten bedingt, wie der Gutachter Prof. Dr. S ausgeführt hat, durchgängig einen Einzel-GdB von 20. Der Senat schließt sich dieser überzeugenden Bewertung an. Ein höherer Einzel-GdB ist, gemessen an den Vorgaben in Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV, nicht zu rechtfertigen.

Die Behinderungen im Funktionssystem der unteren Extremitäten, die Kniearthrose beidseits und der Knick-Senk-Spreizfuß, sind durchgängig mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.

Für die Polyneuropathie und den Großwuchs des Klägers ist ein Einzel-GdB von jeweils 10 in Ansatz zu bringen.

Unter Berücksichtigung der einzelnen Behinderungen des Klägers ist der Gesamt-GdB als Ausdruck der Gesamtbeeinträchtigung für den Zeitraum vom 29. Oktober 2012 bis zum 31. Dezember 2013 mit 40 und für den Zeitraum ab 1. Januar 2014 mit 50 zu bilden.

Liegen mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.

Für den Zeitraum vom 29. Oktober 2012 bis zum 31. Dezember 2013 ist der Einzel-GdB von 30 für die Schuppenflechte mit Gelenkbeteiligung führend. Unter Berücksichtigung des Wirbelsäulenleidens und der Funktionseinschränkungen im Funktionssystem der unteren Extremitäten, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind, ist der von dem Kläger begehrte Gesamt-GdB von 50 nicht zu rechtfertigen. Auch eine Erhöhung mit Rücksicht auf die Polyneuropathie und den Großwuchs kommt nicht in Betracht. Denn zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen, von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.

Für den Zeitraum ab 1. Januar 2014 ist der einzusetzende Einzel-GdB von 50 für die Schuppenflechte mit Schuppenflechtenrheuma mit Rücksicht auf die Wirbelsäulenerkrankung und die Behinderungen im Funktionssystem der unteren Extremitäten, die weiterhin jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind, nicht anzuheben. Denn sie wirken sich, wie der Sachverständige Prof. Dr. S überzeugend ausgeführt hat, nicht besonders nachteilig aufeinander aus, sondern stehen weitgehend beziehungslos nebeneinander und verstärken die Haupterkrankung nicht. Aus den genannten Gründen kommt auch eine Erhöhung des Gesamt-GdB im Hinblick auf die Polyneuropathie und den Großwuchs nicht in Betracht, da sie nur einen GdB von 10 bedingen.

2. Soweit sich der Kläger gegen die von dem Beklagten in dem angefochtenen Bescheid vom 5. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2013 getroffene Ablehnung der Zuerkennung des Merkzeichens G wendet, hat das Sozialgericht die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Der Kläger hat hierauf keinen Anspruch.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 13 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens G in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen G unverändert aus den AHP übernommen hat. Den genannten Bedenken hat der Gesetzgeber inzwischen mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) Rechnung getragen, indem er in § 70 Abs. 2 SGB IX mit Wirkung ab 15. Januar 2015 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt hat, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21) verbleibt es für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/3190, S. 5).

Die Aufzählung der Regelbeispiele in Teil D Nr. 1d bis Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV enthält indes keine abschließende Listung der in Betracht kommenden Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen: Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat – über die genannten Regelbeispiele hinausgehend – vielmehr auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist (siehe BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R –, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21). Denn der umfassende Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventions-rechtlichen Diskriminierungsverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UN-BRK) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 a.a.O. unter Hinweis auf das Urteil vom 13.8.1997 – 9 RVs 1/96 –, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Gemessen an diesen Maßstäben ist der Kläger nicht erheblich gehbehindert.

Der Sachverständige Prof. Dr. S hat in seinem Gutachten vom 10. Dezember 2014 nachvollziehbar herausgearbeitet, dass der Kläger die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht erfüllt. Denn nach der überzeugenden Einschätzung des Gutachters, der sich der Senat anschließt, ist das Gehvermögen des Klägers nicht so weit eingeschränkt, dass er nicht Wegstrecken im Ortsverkehr bewältigen könnte, die üblicherweise zu Fuß zurückgelegt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
Saved