L 1 KR 415/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 18 KR 289/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 415/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 1. September 2017 wird abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin eine Liposuktionsbehandlung beider Beine zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

I. Die Antragstellerin begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit einer Liposuktionsbehandlung.

Sie ist 1966 geboren und Mitglied der Antragsgegnerin. Sie leidet unter anderem unter Lipödemen beider Beine in fortgeschrittenem Stadion. Bereits 2011 hatte sie eine Liposuktionsbehandlung beantragt. Eine Klage gegen den ablehnenden Bescheid nahm sie im Jahr 2014 zurück. Am 22. Februar 2016 beantragte sie erneut die Kostenübernahme für die bei ihr medizinisch notwendige Liposuktion. Ergänzend reichte sie einen Entlassungsbericht der Sklinik Z Fachklinik für Lymphologie und Ödemkrankheiten, vom 1. März 2016 ein. Die Antragsgegnerin schrieb daraufhin zunächst unter dem 2. März 2016, es hätten sich Rückfragen ergeben. Die Antragstellerin solle bitte anrufen. Mit Datum vom 10. März 2016 schrieb die Antragsgegnerin an die Antragstellerin unter dem Betreff "Zwischennachricht", die Bearbeitung des Antrages verzögere sich. Es sei erforderlich, eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einzuholen. Unter dem 29. März 2016 teilte sie mit, eine Entscheidung über den Antrag innerhalb der gesetzlichen Frist sei leider nicht möglich, weil die Unterlagen des MDK noch nicht vorlägen. Der MDK Berlin-Brandenburg gelangte in den sozialmedizinischen Gutachten vom 29. März 2016 sowie vom 22. Juni 2016 jeweils zu dem Ergebnis, dass die medizinischen Indikationen für einen geplanten operativen Eingriff (Liposuktion) nicht vorlägen. Daraufhin lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 24. Juni 2016 den Antrag auf Kostenübernahme ab. Den Widerspruch hiergegen wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2017 zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin Klage beim Sozialgericht Cottbus (SG) erhoben (Aktenzeichen S 18 KR 77/17).

Am 23. August 2017 hat sie zudem beim SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.

Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 1. September 2017 (Zustellung: 6. September 2017) abgewiesen. Es fehle unter anderem an einem Anordnungsgrund. Eilbedürftigkeit sei zu verneinen, weil die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht habe, die Kosten für die von ihr für erforderlich gehaltene Maßnahme auch nur ratenweise bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens nicht übernehmen zu können.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 2. Oktober 2017.

Zu deren Begründung hat sie unter anderem ausgeführt, als Erwerbsminderungsrentnerin mit einer Rente im Bereich der Grundsicherung die enormen Kosten einer solchen Behandlung nicht aufbringen zu können, zumal sich die Behandler nicht auf Ratenzahlung einlassen müssten.

Sie beantragt, 1. der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 1. September 2017 wird aufgehoben. 2. die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin auf ihren Antrag vom zwei 20. Februar 2016 mit einer stationären Liposuktion der beiden Beinen, hilfsweise mit einer solchen ambulanten Behandlung, in medizinisch notwendigen Umfang zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie führt unter anderem aus, die Voraussetzungen einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) lägen nicht vor. Aufgrund des für die Antragstellerin negativen Ausgangs des Antragsverfahrens 2011 sei ihr bekannt, dass ihr ein Anspruch nicht zustehe. Sie habe also gewusst, dass ihr es sich nicht um eine erforderliche Leistung im Sinne des § 13 Abs. 3a SGB V handele.

II.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Hier sind ein Anordnungsanspruch und ein -grund zu bejahen.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben. Der Antragstellerin steht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der geltend gemachte Sachleistungsanspruch zu, weil eine entsprechende Genehmigung fingiert wird.

Nach § 54 Abs. 5 SGG kann (im Hauptsacheverfahren) die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt (§ 77 SGG) vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 26/16 R – Rdnr. 8 mit weit. Nachw.). Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Die Genehmigungsfiktion bewirkt ohne Bekanntgabe (§§ 37, 39 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -SGB X) einen in jeder Hinsicht voll wirksamen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 S 1 SGB X. Durch den Eintritt der Fiktion verwandelt sich der hinreichend inhaltlich bestimmte Antrag in den Verfügungssatz des fingierten Verwaltungsakts. Er hat zur Rechtsfolge, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und der Versicherten - wie hier - unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht.

Die Voraussetzungen einer fingierten Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V (in der seit 26.Februar 2013 geltenden Fassung des Art 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (PatRVerbG&707; vom 20. Februar 2013, BGBl I 277) sind erfüllt. Damit besteht ein durchsetzbarer Anspruch.

Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch. Ausdrücklich regelt das Gesetz, dass, wenn keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes erfolgt, die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs. 3a S 6 SGB V). Der Naturalleistungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion ermöglicht auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ihren Anspruch zu realisieren. Für diese Auslegung spricht der Sanktionscharakter der Norm (BSG, a. a. O. Rdnr. 12f).

§ 13 Abs. 3a SGB V ist bewusst abweichend von den sonstigen in § 13 SGB V geregelten Kostenerstattungstatbeständen geregelt (vgl. § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V) und erstreckt sich wie der Erstattungsanspruch deshalb nur auf subjektiv "erforderliche" Leistungen (BSG, a. a. O. Rdnr. 13 mit Bezugnahme auf Urteil vom 8. März 2016 -B 1 KR 25/15 R, BSGE 121, 40, Rdnr. 25).

Der Sachleistungsanspruch auf eine stationäre oder ambulante Liposuktionsbehandlung ist von § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V umfasst. Die Regelung betrifft unter anderem -wie hier- Ansprüche auf Krankenbehandlung, nicht dagegen Ansprüche, die unmittelbar auf eine Geldleistung oder auf Leistungen zur medizinischen Reha gerichtet sind (BSG, Urt. v. 8. März 2016 Rdnr 11 ff).

Der dem vorliegenden Verfahren zu Grund liegende Antrag war so bestimmt, dass die fiktive Genehmigung ihrerseits dem Erfordernis der Bestimmtheit nach § 33 SGB X genügt (vgl. BSG, a. a. O. Rdnr. 23). Ein Antragtragsteller kann sich insoweit darauf beschränken, medizinisch erforderliche Leistungen zu begehren. Einschränkungen auf die Leistungsarten stationär oder ambulant oder gar hinsichtlich der Methode sind nicht erforderlich (so Bundessozialgericht -BSG-, Urt. v. 11. Juli 2017 -B 1 KR 1/17 R- Rdnr. 19f gerade zu einem Antrag auf Liposuktion). Es genügt nämlich, wenn das Behandlungsziel klar ist. Die Antragstellerin hatte in ihrem Antrag vom 22. Februar 2016 Kostenübernahme für die medizinisch notwendigen Liposuktionsbehandlungen beantragt.

Der Antrag betrifft auch eine Leistung, die die Antragstellerin für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich, aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck an, neben dem Sachleistungsanspruch aufgrund § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V auch einen naturalleistungsersetzenden Kostenerstattungsanspruch vorzusehen (BSG, Urt. vom 8. März 2016, Rdnr. 25). Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (BSG, a. a. O Rdnr. 26 unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien und mit weiteren Nachweisen). Gemessen hieran liegt eine Versorgung mit einer Liposuktionsbehandlung weder stationär noch ambulant nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs. Die Antragstellerin hat ihren Antrag gestellt, kurz nachdem sie in stationärer Behandlung in der Fachklinik für Lymphologie und Ödemkrankheiten gewesen war, welche die Liposuktionen aufgrund der anhaltenden Schmerzen und von Wulstungen im Oberschenkelbereich befürwortet hat. Es reicht allgemein aus, wenn der Antragsteller aufgrund der Empfehlung der behandelnden Ärzte die Behandlung für geeignet und erforderlich halten kann (BSG, Urt. v. 11.07.2017 -B 1 KR 1/17 R- Rdnr. 22). Dies ist hier ungeachtet der Ablehnung des 2011 gestellten Antrages angesichts der verstrichenen Zeit und der neuen Sachlage zu bejahen.

Die Genehmigungsfiktion ist hier mit hinreichender Sicherheit eingetreten: Nach § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, bis spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Hält die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (Satz 2). Nach § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V hat die Krankenkasse, sofern sie Fristen nach Satz 1 nicht einhalten kann, dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mitzuteilen. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6).

Die Frist begann am Folgetag nach der Antragstellung am 22. Februar 2016, also am 23. Februar 2016 (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Die Dreiwochenfrist endete am 14. März 2016 (§ 26 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 188 Abs. 2 BGB), die Fünfwochenfrist am Dienstag (nach Ostern, § 26 Abs. 3 SGB X), den 29. März 2016.

Hier ist jedenfalls die Frist von fünf Wochen nicht eingehalten. Die Antragsgegnerin hat die Antragstellerin zwar innerhalb von drei Wochen -aber nicht unverzüglich- informiert, den MDK einzuschalten. Die Ablehnung selbst ist aber erst im Juni 2016 erfolgt. Eine rechtzeitige Mitteilung, die Frist im Sinne des § 13 Abs. 3a S. 5 SGB V nicht einhalten zu können, ist nicht erfolgt. Diese Information hätte die Antragstellerin spätestens am 29. März 2016 erreichen müssen. Das entsprechende Schreiben der Antragsgegnerin trägt allerdings genau dieses Datum und kann die Adressatin frühestens am 30. März und damit zu spät erreicht haben.

Der Ablehnungsbescheid vom 24. Juni 2016 ist deshalb erst ergangen, nachdem die fiktive Genehmigung bereits wirksam war.

Ob die fiktiv genehmigte Liposuktion stationär oder ambulant durchzuführen ist, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit. Mehr als das dazu Erforderliche hat die Antragstellerin nicht begehrt. Die Beschwerde war im Übrigen -klarstellend- zurückzuweisen.

Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Der Antragsteller hat hinreichend glaubhaft gemacht, nicht über die finanziellen Mittel zu verfügen, die Behandlung privat vorzufinanzieren.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG. Es ist in der Sache von einem ganz überwiegenden Erfolg der Antragstellerin auszugehen.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Bundessozialgericht nicht gegeben (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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