Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
199
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 199 SB 4173/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Nach neuer Rechtslage ab 30.12.2016 sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht.
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheids vom 26.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2015 verpflichtet, bei der Klägerin ab 31.8.2016 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin das Merkzeichen aG zuzuerkennen ist.
Die schwerbehinderte Klägerin (vom Beklagten festgestellter Grad der Behinderung von 80) stellte am 13.11.2014 beim Beklagten einen Antrag auf Neufeststellung wegen der Verschlimmerung bestehender und des Hinzutretens neuer Behinderungen. Sie beantragte unter anderem die Zuerkennung des Merkzeichens aG.
Mit Bescheid vom 26.2.2015 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG lägen nicht vor.
Im dagegen erhobenen Widerspruch vertiefte die Klägerin die Schilderung ihrer Leiden und berief sich auf die Angaben ihrer behandelnden Ärzte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.8.2015 wies der Beklagte den Widerspruch unter Verweis auf die im Widerspruchsverfahren vorgenommenen medizinischen Ermittlungen zurück.
Mit ihrer Klage vom 15.09.2015 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen an, sie sei schwerst gehbehindert. Es sei ihr nicht möglich, mehr als einige Schritte ohne Sitzpause zu bewältigen, wozu sie den Rollator benutze.
Das Gericht hat Befundberichte des Facharztes für Orthopädie, Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. F., des Facharztes für Innere Medizin und Kardiologie Dr. L. sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin F.-S. eingeholt. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. W.-R. gelangt in seinem Gutachten vom 16.1.2017 zu der Einschätzung, dass sich bei der Klägerin alle Veränderungen am Achsenorgan, an den unteren Extremitäten sowie hochgradige Lymphstauungen negativ auf die Fortbewegung bei der Klägerin auswirken. Die Veränderungen am Achsenorgan bewertet der Sachverständige mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50, die Veränderungen im Bereich der unteren Extremitäten mit einem GdB von 40 und die Lymphstauungen mit einem GdB von 10. Er kommt weiter zu dem Schluss, dass die festgestellten Behinderungen ab September 2016 dazu geführt haben, dass sich die Klägerin in Zukunft dauerhaft nur noch mit fremder Hilfe oder/und mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 26.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2015 zu verpflichten, bei ihr ab Antragstellung die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass ein mobilitätsbezogener GdB von 80 bei der Klägerin nicht erreicht werde. Die Wirbelsäulenbehinderung betreffe das gesamte Achsenorgan, also auch die Halswirbelsäule, diese habe jedoch keinen Anteil am Zustandekommen des mobilitätsbezogenen GdB. Auch das mit Einzel-GdB von 10 bewertete Lymphödem erhöhe den mobilitätsbezogenen GdB nicht. Somit sei der mit 80 bewertete Gesamt-GdB, in denen weitere, nicht mobilitätsbezogene Behinderungen einflössen, nicht mit dem mobilitätsbezogenen GdB gleichzusetzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Beklagtenakten verwiesen, die dem Gericht bei der Entscheidung vorlagen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Klage ist teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide sind ab 31.8.2016 rechtswidrig und verletzen die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG.
Anspruchsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist. Die Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung ergeben sich nunmehr aus § 146 Abs. 3 SGB IX, der durch Art. 2 Nr. 13 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) neu geschaffen wurde und die am 1. Januar 2018 in Kraft tretende Regelung des § 229 Abs. 3 SGB IX n.F. mit Wirkung ab 30. Dezember 2016 vorwegnimmt (Art. 26 Abs. 2 BTHG). Nach § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 146 Abs. 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
In Abkehr von der bisherigen Rechtslage, die nach Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO – Teil D Nr. 3 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I 2412) war mangels einer gesetzlichen Ermächtigung nichtig, da § 70 Abs. 2 SGB IX nach Art. 2 des Änderungsgesetzes vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) erst am 15. Januar 2015 in Kraft getreten ist – durch die Differenzierung in Regelbeispiele und Gleichstellungsfälle geprägt war, normiert § 146 Abs. 3 SGB IX nunmehr zwei kumulative Voraussetzungen: Bei dem Betroffenen muss eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, die einem GdB von mindestens 80 entspricht.
Beide Voraussetzungen erfüllt die Klägerin ab 31.08.2016. Bei der Klägerin liegt ab diesem Zeitpunkt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, da sie sich wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Zur Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche Schwere der Beeinträchtigung vorliegt, kann auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die zur Rechtslage für die sog. Gleichstellungsfälle ergangen ist. Das Bundessozialgericht setzte insoweit beim Restgehvermögen der schwerbehinderten Person an. Es führt wie folgt aus (Urteil vom 11.8.2015, B 9 SB 2/14 R):
"Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 18) oder prozentuale Zeitwerte - wie vom LSG errechnet - geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich "nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung". Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei kann ua Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl insgesamt BSG, aaO, RdNr 18 f). Denn schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung kann zB erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 Metern, diese darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann (BSG, aaO, RdNr 24; BSGE 90, 180, 184 f = SozR 3-3250 § 69 Nr 1)."
Der in der Beurteilung sozialmedizinischer Sachverhalte sehr erfahrene Sachverständige Dr. W.-R. kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass die Klägerin nach dem Auftreten von osteoporotischen Spontanfrakturen und den damit verbundenen hochgradigen Schmerzen nur mit einem Rollator wenige Meter laufen kann. Eine Wegstrecke von 50 m würde mit einer nicht zumutbaren Anstrengung verbunden sein, wobei er darauf hinweist, dass die Klägerin hierbei bereits unter dem Einfluss hochpotenter Schmerzmittel (Opiate) steht. Der Sachverständige stellt ferner fest, dass es ohne äußerlichen Anlass zur Sinterung gekommen ist und auch in Zukunft kommen kann. Dies bedeute eine hochgradige Gefährdung für die Klägerin nicht nur in der Wohnung, sondern vor allem beim Fortbewegen außerhalb der Wohnung oder im öffentlichen Nahverkehr. Das von der Klägerin eingenommene Schmerzmittel löse nicht selten eine Schwank- und Fallneigung aus. Die Kammer hat keinen Anlass, an dieser Einschätzung zu zweifeln. Der Sachverständige hat sein Gutachten umfassend, in sich schlüssig und für den medizinischen Laien nachvollziehbar erstattet. Vor diesem Hintergrund hat die Kammer keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin – jedenfalls ab 31.8.2016 (siehe unten) – eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 146 Abs. 3 SGB IX vorliegt.
Die vom Sachverständigen angeführten Wirbelfrakturen sind am 31.08.2016 festgestellt worden. Dies ergibt sich aus dem Arztbrief des V. Klinikums vom 29.9.2016. Vor diesem Zeitpunkt kann die Kammer eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung nicht feststellen. Insoweit ist auf den Bericht des D.-Krankenhauses vom 12.07.2016 zu verweisen. Am Ende der dortigen stationären geriatrischen Behandlung vom 20.06.2016 bis 12.07.2016 hat das Krankenhaus folgenden Entlassungsbefund erhoben:
"Die Patientin bewältigt die Transfers selbstständig, sie läuft am Rollmobil über 100 m und eine Etage Treppe im Nachstellschritt, bei mäßig bis geringer Sturzgefahr. Es konnte die aktive Beweglichkeit der Hüftgelenke moderat gesteigert werden. Ebenso ließen sich die Kraft der Extremitäten, Belastbarkeit/Ausdauer, Gleichgewicht und Gangsicherheit steigern. Die Schmerzen im Bereich der LWS und BWS treten verringert auf. Eine weitere physiotherapeutische Behandlung erscheint notwendig."
Die Kammer teilt die Auffassung des Sachverständigen, dass damit ein Mobilitätslevel beschrieben ist, welches nicht den Schluss auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung zulässt. Die Klägerin konnte sich zu diesem Zeitpunkt nicht "vom ersten Schritt an" nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen.
Die ab 31.08.2016 bestehende erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung entsprach einem GdB von mindestens 80. Damit liegt ab diesem Zeitpunkt auch die zweite Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG vor.
Die Kammer teilt die auch insoweit nachvollziehbare Auffassung des Sachverständigen, dass sich bei der Klägerin alle Veränderungen am Achsenorgan, an den unteren Extremitäten sowie hochgradige Lymphstauungen negativ auf die Fortbewegung auswirken. Anders als der Beklagte geht die Kammer mit dem Sachverständigen davon aus, dass auch die Funktionsbeeinträchtigungen an der Halswirbelsäule mobilitätsbezogen sind. So hat die Klägerin dem Sachverständigen mitgeteilt, dass sie bereits nach wenigen Schritten starke Schmerzen in der gesamten Wirbelsäule spüre. Bei der Überprüfung des Achsenorgans durch den Sachverständigen drehte die Klägerin den Kopf zu beiden Seiten und äußerte frühzeitig starke Schmerzen in der Nacken-/Hinterhautpartie. Die Kopfvor-/-rückneige vermied die Klägerin, da sie einen Schwindel befürchtete. Die Kammer ist der Auffassung, dass damit Funktionen der Halswirbelsäule betroffen sind, die für die Gehfähigkeit relevant sind und nicht aus dem mobilitätsbezogenen GdB "ausgeklammert" werden können. Wer sich als Fußgänger bewegt, muss dabei auch den Kopf drehen können, um zur Abwendung von Gefahren den Verkehr und die Umgebung zu beobachten. Zudem darf bei der Bestimmung der Höhe des Einzel-GdB nicht allein darauf abgestellt werden, inwieweit die Gehfähigkeit des Betroffenen eingeschränkt ist. Denn nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (ab 1.1.2018: § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX) bildet der GdB die Auswirkungen der Behinderungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ab, und zwar "in allen Lebensbereichen" (Teil A Nr. 2 lit. a S. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV (Lemke, NZS 2017, 655, 659)).
Der Beklagte hat für die Funktionseinschränkungen an der Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 50 bzw. an den unteren Extremitäten von 40 anerkannt. Diese Auffassung teilt der Sachverständige in seinem Gutachten. Die Kammer ist der Auffassung, dass diese Wertungen nicht zu hoch angesetzt sind.
Bei der Klägerin liegen nach den Feststellungen des Sachverständigen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor. Dabei werden die Beeinträchtigungen an der Halswirbelsäule nachvollziehbar als mittelgradig und die an der Lendenwirbelsäule als hochgradig eingeschätzt Dies entspricht nach den Maßstäben des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit der aufgrund von § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) im Ausgangspunkt einem Einzel-GdB von 30-40. Da bei der Klägerin nach den Feststellungen des Sachverständigen zudem ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom vorliegt, wobei Auswirkungen von knöchernen Einengungen der Nervenkanäle wahrscheinlich sind, ist gemäß Teil B Nr. 18.9 Anlage VersMedV für die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule in Übereinstimmung mit dem Beklagten und dem Sachverständigen von einem Einzel-GdB von 50 auszugehen.
Der Sachverständige hat die Beweglichkeit der Kniegelenke überprüft und folgende Werte festgestellt: Beugung/Streckung beidseitig 90°- 10°- 0°. Dies entspricht nach Teil B Nr. 18.14 Anlage VersMedV einer Bewegungseinschränkung im Kniegelenk mittleren Grades, die bereits einen Einzel-GdB von 40 bedingt. Hinzu kommt eine generalisierte Schmerzhaftigkeit bei Betroffenheit aller Gelenkgruppen an beiden Beinen.
Bei der Beurteilung, welchen Einzel-GdB die bei der Klägerin vorliegenden Lymphstauungen bedingen, weicht die Kammer von der Auffassung des Beklagten und des Sachverständigen ab. Der Sachverständige hat bei der Klägerin erhebliche venös-lymphatische Einlagerungen, ausgehend von den Knöcheln bis in die Oberschenkel hinein, festgestellt. Dadurch war eine gezielte Untersuchung der Gelenkräume unmöglich. An anderer Stelle spricht er von "monströs anmutenden" venös-lymphatischen Einlagerungen. Diese verschlechterten das Laufvermögen zusätzlich. Der enorme Gewebedruck führe erfahrungsgemäß zu zusätzlichen Schmerzen. Gem. Nr. 9.2.3 VersMedV bedingen Lymphödeme mit stärkerer Umfangsvermehrung (mehr als 3 cm) je nach Funktionseinschränkung einen GdB von 20-40. Es ist davon auszugehen, dass eine solche stärkere Umfangsvermehrung hier vorliegt, da der Sachverständige die Einlagerungen als monströs bezeichnet. Die Kammer geht hier mindestens von einem Einzel-GdB von 30 aus.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX ist in dem Fall, dass mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen, wobei sich nach Teil A Nr. 3 Buchst. a) VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethoden, d. h. insbesondere die schlichte Addition der Einzel-GdB verbietet. Vielmehr ist gemäß Teil A Nr. 3 d) der Anlage zu § 2 VersMedV zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden und damit ineinander aufgehen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen ggf. gegenseitig verstärken.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist bei der Klägerin von einem mobilitätsbezogenen GdB von 80 auszugehen. Die Funktionsbeeinträchtigungen an der Wirbelsäule (Einzel-GdB 50), an den unteren Extremitäten (Einzel-GdB 40) und durch die Lymphödeme (Einzel-GdB mindestens 30) verstärken sich in Bezug auf die Gehfähigkeit der Klägerin gegenseitig. Die Beeinträchtigungen an jedem einzelnen dieser Funktionssysteme wirken sich negativ auf die Mobilität der Klägerin aus. Exemplarisch sei auf die Ausführungen des Sachverständigen verwiesen. Danach verschlechterten die Lymphödeme das Laufvermögen zusätzlich. Der enorme Gewebedruck führe erfahrungsgemäß zu zusätzlichen Schmerzen. Eine Überschneidung der Auswirkungen der einzelnen Behinderungen ist nicht zu erkennen.
Die Voraussetzungen des Merkzeichens aG liegen bei der Klägerin auch dann (erst) ab 31.8.2016 vor, wenn man für die Zeit vor dem 30.12.2016 davon ausgeht, dass der neu geschaffene § 146 Abs. 3 SGB IX nicht anwendbar ist. Bis zum Inkrafttreten des § 146 Abs. 3 SGB IX waren die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht gesetzlich geregelt. Ausgangspunkt für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung war bis dahin Abschnitt II Nr.1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO. Danach ist außergewöhnlich gehbehindert i.S.d § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte [ ] sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzusetzen sind. Insoweit ist auf die bereits dargestellte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den so genannten Gleichstellungsfällen zu verweisen. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung in diesem Sinne lässt sich bei der Klägerin erst ab 31.8.2016 feststellen (siehe oben).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Klage erst für den Zeitraum ab 31.8.2016 erfolgreich war, hat der Beklagte die Hälfte der Kosten der Klägerin zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin das Merkzeichen aG zuzuerkennen ist.
Die schwerbehinderte Klägerin (vom Beklagten festgestellter Grad der Behinderung von 80) stellte am 13.11.2014 beim Beklagten einen Antrag auf Neufeststellung wegen der Verschlimmerung bestehender und des Hinzutretens neuer Behinderungen. Sie beantragte unter anderem die Zuerkennung des Merkzeichens aG.
Mit Bescheid vom 26.2.2015 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG lägen nicht vor.
Im dagegen erhobenen Widerspruch vertiefte die Klägerin die Schilderung ihrer Leiden und berief sich auf die Angaben ihrer behandelnden Ärzte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.8.2015 wies der Beklagte den Widerspruch unter Verweis auf die im Widerspruchsverfahren vorgenommenen medizinischen Ermittlungen zurück.
Mit ihrer Klage vom 15.09.2015 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen an, sie sei schwerst gehbehindert. Es sei ihr nicht möglich, mehr als einige Schritte ohne Sitzpause zu bewältigen, wozu sie den Rollator benutze.
Das Gericht hat Befundberichte des Facharztes für Orthopädie, Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. F., des Facharztes für Innere Medizin und Kardiologie Dr. L. sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin F.-S. eingeholt. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. W.-R. gelangt in seinem Gutachten vom 16.1.2017 zu der Einschätzung, dass sich bei der Klägerin alle Veränderungen am Achsenorgan, an den unteren Extremitäten sowie hochgradige Lymphstauungen negativ auf die Fortbewegung bei der Klägerin auswirken. Die Veränderungen am Achsenorgan bewertet der Sachverständige mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50, die Veränderungen im Bereich der unteren Extremitäten mit einem GdB von 40 und die Lymphstauungen mit einem GdB von 10. Er kommt weiter zu dem Schluss, dass die festgestellten Behinderungen ab September 2016 dazu geführt haben, dass sich die Klägerin in Zukunft dauerhaft nur noch mit fremder Hilfe oder/und mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 26.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.8.2015 zu verpflichten, bei ihr ab Antragstellung die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass ein mobilitätsbezogener GdB von 80 bei der Klägerin nicht erreicht werde. Die Wirbelsäulenbehinderung betreffe das gesamte Achsenorgan, also auch die Halswirbelsäule, diese habe jedoch keinen Anteil am Zustandekommen des mobilitätsbezogenen GdB. Auch das mit Einzel-GdB von 10 bewertete Lymphödem erhöhe den mobilitätsbezogenen GdB nicht. Somit sei der mit 80 bewertete Gesamt-GdB, in denen weitere, nicht mobilitätsbezogene Behinderungen einflössen, nicht mit dem mobilitätsbezogenen GdB gleichzusetzen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Beklagtenakten verwiesen, die dem Gericht bei der Entscheidung vorlagen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Klage ist teilweise begründet. Die angefochtenen Bescheide sind ab 31.8.2016 rechtswidrig und verletzen die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs mit Merkzeichen aG.
Anspruchsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist. Die Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung ergeben sich nunmehr aus § 146 Abs. 3 SGB IX, der durch Art. 2 Nr. 13 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) neu geschaffen wurde und die am 1. Januar 2018 in Kraft tretende Regelung des § 229 Abs. 3 SGB IX n.F. mit Wirkung ab 30. Dezember 2016 vorwegnimmt (Art. 26 Abs. 2 BTHG). Nach § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 146 Abs. 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
In Abkehr von der bisherigen Rechtslage, die nach Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO – Teil D Nr. 3 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I 2412) war mangels einer gesetzlichen Ermächtigung nichtig, da § 70 Abs. 2 SGB IX nach Art. 2 des Änderungsgesetzes vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) erst am 15. Januar 2015 in Kraft getreten ist – durch die Differenzierung in Regelbeispiele und Gleichstellungsfälle geprägt war, normiert § 146 Abs. 3 SGB IX nunmehr zwei kumulative Voraussetzungen: Bei dem Betroffenen muss eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, die einem GdB von mindestens 80 entspricht.
Beide Voraussetzungen erfüllt die Klägerin ab 31.08.2016. Bei der Klägerin liegt ab diesem Zeitpunkt eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, da sie sich wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Zur Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche Schwere der Beeinträchtigung vorliegt, kann auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die zur Rechtslage für die sog. Gleichstellungsfälle ergangen ist. Das Bundessozialgericht setzte insoweit beim Restgehvermögen der schwerbehinderten Person an. Es führt wie folgt aus (Urteil vom 11.8.2015, B 9 SB 2/14 R):
"Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke (BSG Urteil vom 29.3.2007 - B 9a SB 1/06 R - Juris RdNr 18) oder prozentuale Zeitwerte - wie vom LSG errechnet - geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich "nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung". Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei kann ua Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl insgesamt BSG, aaO, RdNr 18 f). Denn schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung kann zB erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 Metern, diese darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann (BSG, aaO, RdNr 24; BSGE 90, 180, 184 f = SozR 3-3250 § 69 Nr 1)."
Der in der Beurteilung sozialmedizinischer Sachverhalte sehr erfahrene Sachverständige Dr. W.-R. kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass die Klägerin nach dem Auftreten von osteoporotischen Spontanfrakturen und den damit verbundenen hochgradigen Schmerzen nur mit einem Rollator wenige Meter laufen kann. Eine Wegstrecke von 50 m würde mit einer nicht zumutbaren Anstrengung verbunden sein, wobei er darauf hinweist, dass die Klägerin hierbei bereits unter dem Einfluss hochpotenter Schmerzmittel (Opiate) steht. Der Sachverständige stellt ferner fest, dass es ohne äußerlichen Anlass zur Sinterung gekommen ist und auch in Zukunft kommen kann. Dies bedeute eine hochgradige Gefährdung für die Klägerin nicht nur in der Wohnung, sondern vor allem beim Fortbewegen außerhalb der Wohnung oder im öffentlichen Nahverkehr. Das von der Klägerin eingenommene Schmerzmittel löse nicht selten eine Schwank- und Fallneigung aus. Die Kammer hat keinen Anlass, an dieser Einschätzung zu zweifeln. Der Sachverständige hat sein Gutachten umfassend, in sich schlüssig und für den medizinischen Laien nachvollziehbar erstattet. Vor diesem Hintergrund hat die Kammer keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin – jedenfalls ab 31.8.2016 (siehe unten) – eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 146 Abs. 3 SGB IX vorliegt.
Die vom Sachverständigen angeführten Wirbelfrakturen sind am 31.08.2016 festgestellt worden. Dies ergibt sich aus dem Arztbrief des V. Klinikums vom 29.9.2016. Vor diesem Zeitpunkt kann die Kammer eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung nicht feststellen. Insoweit ist auf den Bericht des D.-Krankenhauses vom 12.07.2016 zu verweisen. Am Ende der dortigen stationären geriatrischen Behandlung vom 20.06.2016 bis 12.07.2016 hat das Krankenhaus folgenden Entlassungsbefund erhoben:
"Die Patientin bewältigt die Transfers selbstständig, sie läuft am Rollmobil über 100 m und eine Etage Treppe im Nachstellschritt, bei mäßig bis geringer Sturzgefahr. Es konnte die aktive Beweglichkeit der Hüftgelenke moderat gesteigert werden. Ebenso ließen sich die Kraft der Extremitäten, Belastbarkeit/Ausdauer, Gleichgewicht und Gangsicherheit steigern. Die Schmerzen im Bereich der LWS und BWS treten verringert auf. Eine weitere physiotherapeutische Behandlung erscheint notwendig."
Die Kammer teilt die Auffassung des Sachverständigen, dass damit ein Mobilitätslevel beschrieben ist, welches nicht den Schluss auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung zulässt. Die Klägerin konnte sich zu diesem Zeitpunkt nicht "vom ersten Schritt an" nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeugs bewegen.
Die ab 31.08.2016 bestehende erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung entsprach einem GdB von mindestens 80. Damit liegt ab diesem Zeitpunkt auch die zweite Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG vor.
Die Kammer teilt die auch insoweit nachvollziehbare Auffassung des Sachverständigen, dass sich bei der Klägerin alle Veränderungen am Achsenorgan, an den unteren Extremitäten sowie hochgradige Lymphstauungen negativ auf die Fortbewegung auswirken. Anders als der Beklagte geht die Kammer mit dem Sachverständigen davon aus, dass auch die Funktionsbeeinträchtigungen an der Halswirbelsäule mobilitätsbezogen sind. So hat die Klägerin dem Sachverständigen mitgeteilt, dass sie bereits nach wenigen Schritten starke Schmerzen in der gesamten Wirbelsäule spüre. Bei der Überprüfung des Achsenorgans durch den Sachverständigen drehte die Klägerin den Kopf zu beiden Seiten und äußerte frühzeitig starke Schmerzen in der Nacken-/Hinterhautpartie. Die Kopfvor-/-rückneige vermied die Klägerin, da sie einen Schwindel befürchtete. Die Kammer ist der Auffassung, dass damit Funktionen der Halswirbelsäule betroffen sind, die für die Gehfähigkeit relevant sind und nicht aus dem mobilitätsbezogenen GdB "ausgeklammert" werden können. Wer sich als Fußgänger bewegt, muss dabei auch den Kopf drehen können, um zur Abwendung von Gefahren den Verkehr und die Umgebung zu beobachten. Zudem darf bei der Bestimmung der Höhe des Einzel-GdB nicht allein darauf abgestellt werden, inwieweit die Gehfähigkeit des Betroffenen eingeschränkt ist. Denn nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (ab 1.1.2018: § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX) bildet der GdB die Auswirkungen der Behinderungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ab, und zwar "in allen Lebensbereichen" (Teil A Nr. 2 lit. a S. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV (Lemke, NZS 2017, 655, 659)).
Der Beklagte hat für die Funktionseinschränkungen an der Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 50 bzw. an den unteren Extremitäten von 40 anerkannt. Diese Auffassung teilt der Sachverständige in seinem Gutachten. Die Kammer ist der Auffassung, dass diese Wertungen nicht zu hoch angesetzt sind.
Bei der Klägerin liegen nach den Feststellungen des Sachverständigen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor. Dabei werden die Beeinträchtigungen an der Halswirbelsäule nachvollziehbar als mittelgradig und die an der Lendenwirbelsäule als hochgradig eingeschätzt Dies entspricht nach den Maßstäben des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit der aufgrund von § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) im Ausgangspunkt einem Einzel-GdB von 30-40. Da bei der Klägerin nach den Feststellungen des Sachverständigen zudem ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom vorliegt, wobei Auswirkungen von knöchernen Einengungen der Nervenkanäle wahrscheinlich sind, ist gemäß Teil B Nr. 18.9 Anlage VersMedV für die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule in Übereinstimmung mit dem Beklagten und dem Sachverständigen von einem Einzel-GdB von 50 auszugehen.
Der Sachverständige hat die Beweglichkeit der Kniegelenke überprüft und folgende Werte festgestellt: Beugung/Streckung beidseitig 90°- 10°- 0°. Dies entspricht nach Teil B Nr. 18.14 Anlage VersMedV einer Bewegungseinschränkung im Kniegelenk mittleren Grades, die bereits einen Einzel-GdB von 40 bedingt. Hinzu kommt eine generalisierte Schmerzhaftigkeit bei Betroffenheit aller Gelenkgruppen an beiden Beinen.
Bei der Beurteilung, welchen Einzel-GdB die bei der Klägerin vorliegenden Lymphstauungen bedingen, weicht die Kammer von der Auffassung des Beklagten und des Sachverständigen ab. Der Sachverständige hat bei der Klägerin erhebliche venös-lymphatische Einlagerungen, ausgehend von den Knöcheln bis in die Oberschenkel hinein, festgestellt. Dadurch war eine gezielte Untersuchung der Gelenkräume unmöglich. An anderer Stelle spricht er von "monströs anmutenden" venös-lymphatischen Einlagerungen. Diese verschlechterten das Laufvermögen zusätzlich. Der enorme Gewebedruck führe erfahrungsgemäß zu zusätzlichen Schmerzen. Gem. Nr. 9.2.3 VersMedV bedingen Lymphödeme mit stärkerer Umfangsvermehrung (mehr als 3 cm) je nach Funktionseinschränkung einen GdB von 20-40. Es ist davon auszugehen, dass eine solche stärkere Umfangsvermehrung hier vorliegt, da der Sachverständige die Einlagerungen als monströs bezeichnet. Die Kammer geht hier mindestens von einem Einzel-GdB von 30 aus.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX ist in dem Fall, dass mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen, wobei sich nach Teil A Nr. 3 Buchst. a) VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethoden, d. h. insbesondere die schlichte Addition der Einzel-GdB verbietet. Vielmehr ist gemäß Teil A Nr. 3 d) der Anlage zu § 2 VersMedV zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden und damit ineinander aufgehen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen ggf. gegenseitig verstärken.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist bei der Klägerin von einem mobilitätsbezogenen GdB von 80 auszugehen. Die Funktionsbeeinträchtigungen an der Wirbelsäule (Einzel-GdB 50), an den unteren Extremitäten (Einzel-GdB 40) und durch die Lymphödeme (Einzel-GdB mindestens 30) verstärken sich in Bezug auf die Gehfähigkeit der Klägerin gegenseitig. Die Beeinträchtigungen an jedem einzelnen dieser Funktionssysteme wirken sich negativ auf die Mobilität der Klägerin aus. Exemplarisch sei auf die Ausführungen des Sachverständigen verwiesen. Danach verschlechterten die Lymphödeme das Laufvermögen zusätzlich. Der enorme Gewebedruck führe erfahrungsgemäß zu zusätzlichen Schmerzen. Eine Überschneidung der Auswirkungen der einzelnen Behinderungen ist nicht zu erkennen.
Die Voraussetzungen des Merkzeichens aG liegen bei der Klägerin auch dann (erst) ab 31.8.2016 vor, wenn man für die Zeit vor dem 30.12.2016 davon ausgeht, dass der neu geschaffene § 146 Abs. 3 SGB IX nicht anwendbar ist. Bis zum Inkrafttreten des § 146 Abs. 3 SGB IX waren die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht gesetzlich geregelt. Ausgangspunkt für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung war bis dahin Abschnitt II Nr.1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO. Danach ist außergewöhnlich gehbehindert i.S.d § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeugs bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte [ ] sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzusetzen sind. Insoweit ist auf die bereits dargestellte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den so genannten Gleichstellungsfällen zu verweisen. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung in diesem Sinne lässt sich bei der Klägerin erst ab 31.8.2016 feststellen (siehe oben).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Da die Klage erst für den Zeitraum ab 31.8.2016 erfolgreich war, hat der Beklagte die Hälfte der Kosten der Klägerin zu tragen.
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