Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 60/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1248/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 17.05.2016 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtsstreit durch Klagerücknahmefiktion beendet ist.
Mit Bescheid vom 08.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2015 nahm der Beklagte die Leistungsbewilligung für Februar 2014 und März 2014 teilweise zurück und verpflichtete den Kläger, insgesamt 1.577,10 EUR zu erstatten. Der Kläger habe aus einer Tätigkeit als Taxifahrer im Februar 2014 zu berücksichtigendes Einkommen iHv 1.000 EUR und im März 2014 iHv 1.334 EUR erzielt. Dies führe dazu, dass im Februar 2014 nur ein Anspruch von 137,10 EUR und im März 2014 kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II bestehe.
Der Kläger hat am 24.03.2015 beim Sozialgericht Münster Klage erhoben. Die Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Taxifahrer hätten 184 EUR und 284 EUR betragen. Die Auszahlung sei in bar erfolgt. Auf Aufforderung durch das Sozialgericht hat der Kläger am 12.05.2015 zur Niederschrift erklärt, im Taxigewerbe sei es üblich, dass man am Ende eines Arbeitstages 45 Prozent vom Umsatz einbehalte. Es gebe ein Formular, in dem die Fahrten, die gefahrenen Kilometer und der Umsatz einzutragen seien. Es erfolge dann die anteilige Einbehaltung des Geldes. So sei es auch in seinem Fall gewesen. Er sei im Besitz von zwei Nachweisen über niedrigere Einkünfte als die behaupteten 1.500 EUR. Er werde diese Nachweise einreichen.
Mit Verfügung vom 13.05.2015 hat das Sozialgericht den Kläger aufgefordert, "die entsprechenden Formulare über Fahrten, Kilometer und Umsatz vorzulegen." Am 13.05.2015 hat der Kläger Lohnabrechnungen für Februar 2014 (brutto: 450 EUR, netto: 349,97 EUR) und März 2014 (brutto: 600 EUR, netto: 505,53 EUR) sowie eine Kopie der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für das Jahr 2014 eingereicht und hierzu ausgeführt: " Ich habe tatsächlich nur die von mir erwähnten 180 EUR bzw. 284 EUR erhalten. Dies kann ich allerdings nicht belegen ". Mit Verfügung vom 15.06.2015 hat das Sozialgericht den Kläger darauf hingewiesen, "dass es laut der Niederschrift vom 12.05.2015 Formulare geben soll, in denen Kilometer und Umsatz festgehalten werden. Bitte legen Sie diese Formulare nunmehr vor!".
An die Einreichung der Formulare ist der Kläger mit Verfügungen vom 10.07.2015, 13.08.2015 und 17.09.2015 erinnert worden, zuletzt verbunden mit der Anfrage, ob noch Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits besteht.
Mit Verfügung vom 19.10.2015 hat das Sozialgericht den Kläger aufgefordert, das Klageverfahren durch Vorlage des Formulars, aus dem Fahrtkilometer und Umsätze in den Monaten Februar 2014 und März 2014 ersichtlich sind, zu betreiben. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, falls er dieser Aufforderung nicht binnen drei Monaten nachkomme. Die Verfügung ist mit vollem Namen des Kammervorsitzenden unterschrieben. Ausweislich des Zustellvermerks auf der Zustellungsurkunde ist die gerichtliche Verfügung durch Einlegung in einen zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung durch den Bediensteten der Deutschen Post AG am 22.10.2015 zugestellt worden. Nachdem der Kläger hierauf nicht reagiert hatte, hat das Sozialgericht die Beteiligten mit Verfügung vom 27.01.2016 darüber informiert, dass das Verfahren nach § 102 Abs. 2 SGG ausgetragen worden ist.
Am 29.01.2016 hat der Kläger die Weiterführung des Verfahrens beantragt. Er habe das Schreiben des Gerichts vom 15.06.2015 nebst Erinnerungen sowie die Betreibensaufforderung nicht erhalten.
Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
das Verfahren fortzusetzen sowie den Bescheid vom 08.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2015 aufzuheben.
Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
festzustellen, dass die Klage als zurückgenommen gilt, hilfsweise die Klage abzuweisen.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid vom 17.05.2016 festgestellt, die Klage gelte als zurückgenommen. Die Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme gem. § 102 Abs. 2 SGG lägen vor. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden. Die Nichteinreichung des vom Kläger erwähnten und vom Sozialgericht mehrfach angeforderten Formulars zeige das fehlende Interesse an dem Rechtsstreit. Bei dem Vortrag des Klägers, er habe die Schreiben des Gerichts nicht erhalten, handele es sich um eine prozessual unbeachtliche unsubstantiierte Behauptung ins Blaue hinein.
Mit der am 16.06.2016 eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Ziel der Fortsetzung des Klageverfahrens weiter. Er habe die Betreibensaufforderung vom 19.10.2016 nicht erhalten. Ob und inwieweit eine Zustellbenachrichtigung aus seinem Briefkasten entwendet worden sei, könne er nicht beurteilen. Tatsächlich seien in der Vergangenheit wiederholt Schriftstücke bei ihm nicht angekommen. Nach Zugang von gerichtlichen Schreiben spreche er grundsätzlich bei Gericht vor. Der Umstand, dass er nach Übersendung der Betreibensaufforderung nicht bei Gericht vorgesprochen habe, mache deutlich, dass er diese nicht erhalten habe. Ihm lägen weitere Formulare als die bereits vorgelegten Gehaltsbögen nicht vor. Eine Aufforderung zu einem objektiv nicht möglichen Verhalten könne nicht zu einer Verletzung prozessualer Pflichten führen. Er habe deutlich gemacht, dass er einmal 180 EUR und einmal 284 EUR Entgelt erhalten habe. Hierüber könne er jedoch keine Nachweise einreichen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 17.05.2016 aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil, die er für zutreffend hält.
Auf Nachfrage durch den Senat hat der Kläger ausgeführt, ihm sei nicht bekannt, dass in dem von ihm bewohnten Mehrfamilienhaus Briefe gestohlen worden seien oder verloren gingen
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG lagen vor.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG. Diese Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG führt zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Beteiligter ein von ihm eingeleitetes Verfahren auch durchführen will. Die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG darf weder als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eingesetzt werden, noch stellt die Vorschrift ein Hilfsmittel zur Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen dar. Sie soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BSG Urteile vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09, B 13 R 74/09; zur Parallelvorschrift des § 92 Abs. 2 VwGO BVerfG Beschluss vom 17.09.2012 - 1 BvR 2254/11 mwN).
Bei der Beurteilung der sachlichen Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses ist auf eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls abzustellen, die die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung berücksichtigt. Prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten können auch durch gerichtliche Anfragen entstehen. Allerdings genügt für eine Klagerücknahmefiktion nach Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungsobliegenheit, vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die das Sozialgericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG Urteil vom 04.04.2017 - B 4 AS 2/16).
Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung iSd § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sind erfüllt. Sie ist vom zuständigen Richter verfügt, mit vollem Namen unterzeichnet worden und konkret und klar. Der Kläger ist auf die Rechtsfolgen, die eintreten, falls er der Aufforderung nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt, hingewiesen worden.
Die Betreibensaufforderung ist dem Kläger zugegangen. Sie ist ihm am 22.10.2015 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden. Der Postzusteller hat in der über die Zustellung aufgenommenen Urkunde bekundet, das Schreiben in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt zu haben, weil eine Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung nicht möglich war. Dieser Vermerk hat auch dann, wenn er von einem Bediensteten der Deutschen Post AG ausgestellt wird, die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde im Sinne des § 418 ZPO, begründet also den vollen Beweis der in der Urkunde bezeichneten Tatsachen. Der Gegenbeweis ist darauf gerichtet, der Postbedienstete habe mit dem Ausfüllen der Postzustellungsurkunde eine Falschbeurkundung vorgenommen (BSG Beschluss vom 28.09.1998 - B 11 AL 83/98 B). Zum Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen, den § 418 Abs. 2 ZPO eröffnet, genügt es nicht, die Tatsache pauschal zu bestreiten. Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde (§ 418 Abs. 1 ZPO) würde weitgehend entwertet, wenn schon schlichtes Bestreiten eine Amtsermittlungspflicht im Rahmen des § 418 Abs. 2 ZPO auslöste. Für eine Falschbeurkundung sprechende Umstände hat der Kläger nicht vorgetragen, so dass die angeregte Vernehmung des Postbediensteten nicht erforderlich war.
Ob das Schriftstück nach Einlegung in den Hausbriefkasten auf irgendeine Art verloren gegangen ist, so dass es den Kläger nicht erreicht hat (wofür vorliegend allerdings nichts spricht, vielmehr hat der Kläger selbst erklärt, dass ihm nicht bekannt sei, dass in dem von ihm bewohnten Haus Briefe gestohlen werden oder sonst abhandenkommen), ist unbeachtlich, da es ausreichend ist, wenn das Schriftstück durch Einlegung in den Briefkasten so in den Machtbereich des Klägers gelangt ist, dass mit einer Kenntnisnahme durch ihn gerechnet werden kann und evtl. abweichende Geschehensabläufe dem Kläger zuzurechnen sind (BSG Beschluss vom 13.11.2008 - B 13 R 138/07 B).
Die Aufforderung des Sozialgerichts war auf Äußerungen zu entscheidungserheblichen Tatsachen gerichtet. Es ging für das Sozialgericht darum zu klären, ob und in welcher Höhe der Kläger anrechenbares Einkommen in den Aufhebungsmonaten erzielt hat. Nachdem der Kläger das Bestehen eines solchen Formulars erstmalig am 12.05.2015 erwähnt hatte, durfte das Sozialgericht davon ausgehen, dass diese Unterlagen dem Kläger vorliegen und sie entscheidungsrelevant sind. Die Anforderung des Formulars war daher nicht zu beanstanden. Entgegen der Behauptung des Klägers im Erörterungstermin ist der Niederschrift des Urkundsbeamten über die Vorsprache am 12.05.2015 nicht zu entnehmen, dass die Vorlage des angeforderten Formulars für den Kläger unmöglich gewesen ist.
Aufgrund der Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung durfte das Sozialgericht unter Würdigung des Klägerverhaltens annehmen, dass der Kläger das Interesse an dem Rechtsstreit verloren hat. Das Sozialgericht hat den Kläger mehrfach aufgefordert bzw. erinnert, das Formular vorzulegen. Das Sozialgericht durfte mit Recht erwarten, dass ein Beteiligter, der noch Interesse an der Durchführung des Verfahrens hat, auf die zahlreichen Aufforderungen bzw. Erinnerungen mindestens dergestalt reagiert, dass er erläutert, weshalb er der Aufforderung nicht nachkommt bzw. nicht nachkommen kann. Daher ist der Einwand des Klägers, es dürfe nichts Unmögliches von ihm verlangt werden, unbeachtlich. Die Rechtsfolge des § 102 Abs. 2 SGG ist vorliegend nicht daran geknüpft, dass der Kläger die angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt hat, sondern dass er über einen Zeitraum von mehr als sieben Monaten auf die gerichtlichen Aufforderungen nicht reagiert hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtsstreit durch Klagerücknahmefiktion beendet ist.
Mit Bescheid vom 08.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2015 nahm der Beklagte die Leistungsbewilligung für Februar 2014 und März 2014 teilweise zurück und verpflichtete den Kläger, insgesamt 1.577,10 EUR zu erstatten. Der Kläger habe aus einer Tätigkeit als Taxifahrer im Februar 2014 zu berücksichtigendes Einkommen iHv 1.000 EUR und im März 2014 iHv 1.334 EUR erzielt. Dies führe dazu, dass im Februar 2014 nur ein Anspruch von 137,10 EUR und im März 2014 kein Anspruch auf Arbeitslosengeld II bestehe.
Der Kläger hat am 24.03.2015 beim Sozialgericht Münster Klage erhoben. Die Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Taxifahrer hätten 184 EUR und 284 EUR betragen. Die Auszahlung sei in bar erfolgt. Auf Aufforderung durch das Sozialgericht hat der Kläger am 12.05.2015 zur Niederschrift erklärt, im Taxigewerbe sei es üblich, dass man am Ende eines Arbeitstages 45 Prozent vom Umsatz einbehalte. Es gebe ein Formular, in dem die Fahrten, die gefahrenen Kilometer und der Umsatz einzutragen seien. Es erfolge dann die anteilige Einbehaltung des Geldes. So sei es auch in seinem Fall gewesen. Er sei im Besitz von zwei Nachweisen über niedrigere Einkünfte als die behaupteten 1.500 EUR. Er werde diese Nachweise einreichen.
Mit Verfügung vom 13.05.2015 hat das Sozialgericht den Kläger aufgefordert, "die entsprechenden Formulare über Fahrten, Kilometer und Umsatz vorzulegen." Am 13.05.2015 hat der Kläger Lohnabrechnungen für Februar 2014 (brutto: 450 EUR, netto: 349,97 EUR) und März 2014 (brutto: 600 EUR, netto: 505,53 EUR) sowie eine Kopie der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für das Jahr 2014 eingereicht und hierzu ausgeführt: " Ich habe tatsächlich nur die von mir erwähnten 180 EUR bzw. 284 EUR erhalten. Dies kann ich allerdings nicht belegen ". Mit Verfügung vom 15.06.2015 hat das Sozialgericht den Kläger darauf hingewiesen, "dass es laut der Niederschrift vom 12.05.2015 Formulare geben soll, in denen Kilometer und Umsatz festgehalten werden. Bitte legen Sie diese Formulare nunmehr vor!".
An die Einreichung der Formulare ist der Kläger mit Verfügungen vom 10.07.2015, 13.08.2015 und 17.09.2015 erinnert worden, zuletzt verbunden mit der Anfrage, ob noch Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits besteht.
Mit Verfügung vom 19.10.2015 hat das Sozialgericht den Kläger aufgefordert, das Klageverfahren durch Vorlage des Formulars, aus dem Fahrtkilometer und Umsätze in den Monaten Februar 2014 und März 2014 ersichtlich sind, zu betreiben. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, falls er dieser Aufforderung nicht binnen drei Monaten nachkomme. Die Verfügung ist mit vollem Namen des Kammervorsitzenden unterschrieben. Ausweislich des Zustellvermerks auf der Zustellungsurkunde ist die gerichtliche Verfügung durch Einlegung in einen zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung durch den Bediensteten der Deutschen Post AG am 22.10.2015 zugestellt worden. Nachdem der Kläger hierauf nicht reagiert hatte, hat das Sozialgericht die Beteiligten mit Verfügung vom 27.01.2016 darüber informiert, dass das Verfahren nach § 102 Abs. 2 SGG ausgetragen worden ist.
Am 29.01.2016 hat der Kläger die Weiterführung des Verfahrens beantragt. Er habe das Schreiben des Gerichts vom 15.06.2015 nebst Erinnerungen sowie die Betreibensaufforderung nicht erhalten.
Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
das Verfahren fortzusetzen sowie den Bescheid vom 08.12.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2015 aufzuheben.
Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
festzustellen, dass die Klage als zurückgenommen gilt, hilfsweise die Klage abzuweisen.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid vom 17.05.2016 festgestellt, die Klage gelte als zurückgenommen. Die Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme gem. § 102 Abs. 2 SGG lägen vor. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden. Die Nichteinreichung des vom Kläger erwähnten und vom Sozialgericht mehrfach angeforderten Formulars zeige das fehlende Interesse an dem Rechtsstreit. Bei dem Vortrag des Klägers, er habe die Schreiben des Gerichts nicht erhalten, handele es sich um eine prozessual unbeachtliche unsubstantiierte Behauptung ins Blaue hinein.
Mit der am 16.06.2016 eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Ziel der Fortsetzung des Klageverfahrens weiter. Er habe die Betreibensaufforderung vom 19.10.2016 nicht erhalten. Ob und inwieweit eine Zustellbenachrichtigung aus seinem Briefkasten entwendet worden sei, könne er nicht beurteilen. Tatsächlich seien in der Vergangenheit wiederholt Schriftstücke bei ihm nicht angekommen. Nach Zugang von gerichtlichen Schreiben spreche er grundsätzlich bei Gericht vor. Der Umstand, dass er nach Übersendung der Betreibensaufforderung nicht bei Gericht vorgesprochen habe, mache deutlich, dass er diese nicht erhalten habe. Ihm lägen weitere Formulare als die bereits vorgelegten Gehaltsbögen nicht vor. Eine Aufforderung zu einem objektiv nicht möglichen Verhalten könne nicht zu einer Verletzung prozessualer Pflichten führen. Er habe deutlich gemacht, dass er einmal 180 EUR und einmal 284 EUR Entgelt erhalten habe. Hierüber könne er jedoch keine Nachweise einreichen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 17.05.2016 aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil, die er für zutreffend hält.
Auf Nachfrage durch den Senat hat der Kläger ausgeführt, ihm sei nicht bekannt, dass in dem von ihm bewohnten Mehrfamilienhaus Briefe gestohlen worden seien oder verloren gingen
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG lagen vor.
Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG. Diese Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG führt zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Beteiligter ein von ihm eingeleitetes Verfahren auch durchführen will. Die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG darf weder als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eingesetzt werden, noch stellt die Vorschrift ein Hilfsmittel zur Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen dar. Sie soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BSG Urteile vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09, B 13 R 74/09; zur Parallelvorschrift des § 92 Abs. 2 VwGO BVerfG Beschluss vom 17.09.2012 - 1 BvR 2254/11 mwN).
Bei der Beurteilung der sachlichen Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses ist auf eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls abzustellen, die die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung berücksichtigt. Prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten können auch durch gerichtliche Anfragen entstehen. Allerdings genügt für eine Klagerücknahmefiktion nach Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungsobliegenheit, vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die das Sozialgericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG Urteil vom 04.04.2017 - B 4 AS 2/16).
Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung iSd § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sind erfüllt. Sie ist vom zuständigen Richter verfügt, mit vollem Namen unterzeichnet worden und konkret und klar. Der Kläger ist auf die Rechtsfolgen, die eintreten, falls er der Aufforderung nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt, hingewiesen worden.
Die Betreibensaufforderung ist dem Kläger zugegangen. Sie ist ihm am 22.10.2015 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung zugestellt worden. Der Postzusteller hat in der über die Zustellung aufgenommenen Urkunde bekundet, das Schreiben in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt zu haben, weil eine Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung nicht möglich war. Dieser Vermerk hat auch dann, wenn er von einem Bediensteten der Deutschen Post AG ausgestellt wird, die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde im Sinne des § 418 ZPO, begründet also den vollen Beweis der in der Urkunde bezeichneten Tatsachen. Der Gegenbeweis ist darauf gerichtet, der Postbedienstete habe mit dem Ausfüllen der Postzustellungsurkunde eine Falschbeurkundung vorgenommen (BSG Beschluss vom 28.09.1998 - B 11 AL 83/98 B). Zum Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen, den § 418 Abs. 2 ZPO eröffnet, genügt es nicht, die Tatsache pauschal zu bestreiten. Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde (§ 418 Abs. 1 ZPO) würde weitgehend entwertet, wenn schon schlichtes Bestreiten eine Amtsermittlungspflicht im Rahmen des § 418 Abs. 2 ZPO auslöste. Für eine Falschbeurkundung sprechende Umstände hat der Kläger nicht vorgetragen, so dass die angeregte Vernehmung des Postbediensteten nicht erforderlich war.
Ob das Schriftstück nach Einlegung in den Hausbriefkasten auf irgendeine Art verloren gegangen ist, so dass es den Kläger nicht erreicht hat (wofür vorliegend allerdings nichts spricht, vielmehr hat der Kläger selbst erklärt, dass ihm nicht bekannt sei, dass in dem von ihm bewohnten Haus Briefe gestohlen werden oder sonst abhandenkommen), ist unbeachtlich, da es ausreichend ist, wenn das Schriftstück durch Einlegung in den Briefkasten so in den Machtbereich des Klägers gelangt ist, dass mit einer Kenntnisnahme durch ihn gerechnet werden kann und evtl. abweichende Geschehensabläufe dem Kläger zuzurechnen sind (BSG Beschluss vom 13.11.2008 - B 13 R 138/07 B).
Die Aufforderung des Sozialgerichts war auf Äußerungen zu entscheidungserheblichen Tatsachen gerichtet. Es ging für das Sozialgericht darum zu klären, ob und in welcher Höhe der Kläger anrechenbares Einkommen in den Aufhebungsmonaten erzielt hat. Nachdem der Kläger das Bestehen eines solchen Formulars erstmalig am 12.05.2015 erwähnt hatte, durfte das Sozialgericht davon ausgehen, dass diese Unterlagen dem Kläger vorliegen und sie entscheidungsrelevant sind. Die Anforderung des Formulars war daher nicht zu beanstanden. Entgegen der Behauptung des Klägers im Erörterungstermin ist der Niederschrift des Urkundsbeamten über die Vorsprache am 12.05.2015 nicht zu entnehmen, dass die Vorlage des angeforderten Formulars für den Kläger unmöglich gewesen ist.
Aufgrund der Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung durfte das Sozialgericht unter Würdigung des Klägerverhaltens annehmen, dass der Kläger das Interesse an dem Rechtsstreit verloren hat. Das Sozialgericht hat den Kläger mehrfach aufgefordert bzw. erinnert, das Formular vorzulegen. Das Sozialgericht durfte mit Recht erwarten, dass ein Beteiligter, der noch Interesse an der Durchführung des Verfahrens hat, auf die zahlreichen Aufforderungen bzw. Erinnerungen mindestens dergestalt reagiert, dass er erläutert, weshalb er der Aufforderung nicht nachkommt bzw. nicht nachkommen kann. Daher ist der Einwand des Klägers, es dürfe nichts Unmögliches von ihm verlangt werden, unbeachtlich. Die Rechtsfolge des § 102 Abs. 2 SGG ist vorliegend nicht daran geknüpft, dass der Kläger die angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt hat, sondern dass er über einen Zeitraum von mehr als sieben Monaten auf die gerichtlichen Aufforderungen nicht reagiert hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
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