S 3 R 320/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 320/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 13 R 1049/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Bescheide der Beklagten vom 12. November 2007, 29. November 2007 und der Widerspruchsbescheid vom 4. April 2008 werden aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Erstattung der Kosten der Langzeittherapie (6. Dezember 2007 bis 5. Juni 2008) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
III. Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist die Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte Maßnahme der medizinischen Rehabilitation.

Der 1982 geborene Kläger hat den Beruf des Industriemechanikers erlernt und sich außerdem zum CNC-Fräser weitergebildet. Im erlernten Beruf war er bis Dezember 2005 versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 14. Lebensjahr konsumiert er Drogen. Eine am 05.04.2005 begonnene stationäre Entwöhnungsmaßnahme wurde am 12.05.2005 aus disziplinarischen Gründen vorzeitig beendet. Mit rechtskräftigem Urteil vom 21.03.2006 verhängte das Amtsgericht B-Stadt gegen ihn eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten wegen vorsätzlichem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln. Am 19.04.2007 verurteilte ihn das Amtsgericht B-Stadt wegen Diebstahls ("Beschaffungskriminalität") zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten, die nicht (mehr) zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Am 29.10.2007 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erbringung einer stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitskranke. Zur Durchführung einer Entgiftung begab er sich ab 02.11.2007 stationär in das Bezirkskrankenhaus B-Stadt. Die Beklagte stellte fest, dass die versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt sind, verneinte jedoch eine hinreichende Erfolgsaussicht, da der Kläger die Maßnahme nur zur Vermeidung eines Gefängnisaufenthaltes anstrebe und lehnte daraufhin mit Bescheid vom 12.11.2007 den Antrag ab. Auch den Überprüfungsantrag vom 14.11.2007 verbeschied sie negativ. Am 06.12.2007 begab sich der Kläger unmittelbar aus der Entgiftung zur Langzeittherapie in die Reha-Einrichtung B ... Seine Mutter hatte zugesagt die Therapiekosten vorzustrecken. Am 17.12.2007 entschied schließlich die Staatsanwaltschaft, die Strafvollstreckung aus dem Urteil vom 21.03.2006 (der Bewährungsausspruch war mit Beschluss vom 11.07.2007 widerrufen worden) zur Durchführung der Therapie in B. zurückzustellen. In einem Zwischenbericht vom März 2008 bescheinigte die Einrichtung dem Kläger trotz bestehender extrinsischer Motivationsfaktoren einen hohen Grad an Veränderungsbereitschaft und eine zwischenzeitlich eingetretene authentische Therapiemotivation. Der Ärztliche Dienst der Beklagten schlug daraufhin die Kostenübernahme des Heilverfahrens zu Lasten der Rentenversicherung vor. Fachabteilung und Widerspruchstelle folgten diesem Vorschlag nicht, da bezogen auf die anzustellende prospektive Betrachtung im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung bzw. des Erlasses des Ausgangsbescheides keine tragende Eigenmotivation gegeben gewesen sei. Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 04.04.2008 zurückgewiesen.

Mit seiner Klage macht der Kläger nun geltend, schon zu Beginn der Maßnahme und unabhängig von der drohenden Haft über eine hinreichende Eigenmotivation verfügt zu haben. Er habe die Therapie am 05.06.2008 erfolgreich abgeschlossen und stehe ab 16.06.2008 in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Das Gericht hat Befundberichte bei der Hausärztin Ch. D., dem Internisten Dr. C., dem Nervenarzt Dr. G. sowie dem Bezirkskrankenhaus B-Stadt beigezogen und anschließend den Nervenarzt Dr. E. mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. In seinem Gutachten vom 28.04.2009 stellt er zunächst fest, dass der Kläger aktuell wieder drogenrückfällig geworden ist. Bezogen auf November 2007 sieht er zwar eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen des erheblichen Drogenkonsums, meint aber auch, dass die rasche Aufnahme der Entwöhnungstherapie fremd motiviert gewesen sei. Allerdings sei Anfang April 2008 von einer ausreichend tragfähigen Motivation zur dauerhaften Beendigung des Drogenkonsums auszugehen. Der Kläger habe im Rahmen der stationären Therapie gezeigt, dass er durchaus auch selbst motiviert sei. Die Beklagte hat eingewandt, dass beim Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung keine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit gegeben gewesen sei und er zum Zeitpunkt der Antragstellung im November 2007 vorrangig extrinsische Motive gehabt habe.

Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verpflichten, die Kosten für die Drogenlangzeittherapie in der Therapieeinrichtung B. ,im Zeitraum vom 06.12.2007 bis 05.06.2008 rückwirkend vollständig zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Auf Vorschlag des Gerichts haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt.

Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Sie waren ebenso wie die Gerichtsakte Gegenstand der Entscheidung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die Bescheide der Beklagten vom 12.11.2007, 29.11.2007 und 04.04.2008 waren rechtswidrig, soweit die Beklagte dem Grunde nach den klägerischen Anspruch auf Durchführung einer medizinischen Suchttherapie verneint hat. Der Kläger hat deswegen gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung von Aufwendungen, über dessen Umfang diese in Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens im Rahmen eines weiteren Verwaltungsaktes zu entscheiden hat.

Gegenstand der Klage ist ein Anspruch auf Erstattung der Kosten der selbst durchgeführten stationären Langzeittherapie. Rechtsgrundlage hierfür ist § 15 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), wobei offen bleiben kann, ob diese Norm unmittelbar als Anspruchsnorm oder nur mittelbar durch entsprechende Heranziehung von § 13 Abs. 3 SGB V anzuwenden ist (zum Diskussionsstand siehe Bundessozialgericht - BSG - vom 21.08.2008, B 13 R 33/07 R).

Nach § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX ist ein Reha-Träger zur Erstattung von Aufwendungen für eine selbstbeschaffte erforderliche Leistung verpflichtet, wenn er eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.

Der Kläger hat der Beklagten, bevor er sich die begehrte Maßnahme selbst beschafft hat, Gelegenheit gegeben seinen Anspruch zu prüfen und zu verbescheiden. Die Anwendung von § 15 SGB IX ist deshalb nicht von vornherein ausgeschlossen. Die dem Kläger entstandenen Kosten sind kausal durch die rechtswidrige Ablehnung seines Antrags durch die Beklagte verursacht worden.

Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, dem Kläger Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu gewähren. Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidungen ist der der letztmaligen Verwaltungsentscheidung und somit der Erlass des Widerspruchsbescheides am 04.04.2008. Nach § 78 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat die Widerspruchstelle im Vorverfahren Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes zu überprüfen. Bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung kommt es dabei auf die Recht- und Zweckmäßigkeit im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides an. Dies gilt auch für den Fall, dass im Ausgangsbescheid eine Prognose getroffen wurde. Dauert die Wirkung des angefochtenen Verwaltungsaktes bei Erlass des Widerspruchsbescheides noch an, muss die entscheidende Stelle bei ihrer Prüfung die dann gegebenen Verhältnisse und Erkenntnisse berücksichtigen. Soweit abweichend davon die Beklagte (bzw. ihre Fachabteilung) die Rechtsauffassung vertritt, dass für die Beurteilung von Prognoseentscheidungen im Widerspruchsverfahren auf den Zeitpunkt der Antragstellung bzw. des Erlasses des Ausgangsbescheides abzustellen sei verkennt sie, dass sie als Leistungsträger gemäß § 17 SGB I verpflichtet ist darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen erhält. Diese Verpflichtung obliegt dem Leistungsträger im Rahmen jeglicher Entscheidung mit Außenwirkung für die Dauer des Verwaltungsverfahrens und damit einschließlich des Widerspruchsverfahrens. Auch das BSG stellt bei der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Prognoseentscheidungen der Verwaltung auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides ab (BSG vom 26.09.1990, 9b/11 RaR 151/88; siehe auch BayLSG, 23.10.2008, L 8 AL 310/07).

Voraussetzung für einen Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist, dass der Versicherte sowohl die versicherungsrechtlichen (§ 11 SGB VI) wie auch die persönlichen (§ 10 SGB VI) Voraussetzungen erfüllt. Dies hat die Beklagte selbst verwaltungsintern bejaht. Diese Einschätzung steht insbesondere hinsichtlich der persönlichen Voraussetzungen im Einklang mit den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. E. ebenso wie der damaligen Hausärztin des Klägers, die ihm aufgrund seiner Drogenabhängigkeit Erwerbsunfähigkeit bescheinigte.

Fehlerhaft sind die Verwaltungsakte der Beklagten deshalb, weil sie die Erbringung der begehrten Leistung auch noch im Widerspruchsverfahren wegen fehlender Motivation ablehnte. Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme ist diese Einschätzung nicht zutreffend. Gestützt auf den Zwischenbericht von B. vom April 2008 überwog beim Kläger zwar im Zeitpunkt der Antragstellung eine extrinsische Motivationslage. Diese änderte sich jedoch in den ersten Wochen der Maßnahme dergestalt, dass schließlich ein hoher Grad an Veränderungsbereitschaft und eine letztlich authentische Therapiemotivation bescheinigt wurden. Sowohl der im Widerspruchsverfahren gehörte Sachverständige der Beklagten wie auch der des Gerichts haben sich dieser Einschätzung angeschlossen und bezogen auf den rechtlich maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung eine hinreichende intrinistische Motivation bejaht. Die Kammer hat keine Bedenken sich diesen fachlichen Einschätzungen anzuschließen.

Im gerichtlichen Verfahren sind behördliche Prognoseentscheidungen nur begrenzt überprüfbar. Sie sind dann fehlerfrei und verbindlich, wenn sie aufgrund der vorhandenen Umstände und Zahlen nachvollziehbar sind, insbesondere nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen. Abgestellt werden darf dabei nur auf die der Verwaltung bekannten oder zumindest erkennbaren Umstände (BSG, 30.08.2007, B 10 EG 6/06 R). In Anwendung dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung war die von der Beklagten noch im Widerspruchsbescheid getroffene Prognose nicht fehlerfrei und damit nicht verbindlich. Fehlerhaft war sie zum einen deshalb, weil sie (siehe oben) für die prospektive Betrachtung nicht auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abgestellt hat und zum anderen auch deshalb, weil sie aufgrund der vorhandenen Umstände, insbesondere der Zwischenmitteilung von B. und deren sachverständigen Auswertung durch ihren eigenen Ärztlichen Dienst nicht nachvollziehbar ist. Das Gericht war daher nicht gehindert, die auf dieser fehlerhaften Prognose beruhenden Verwaltungsakte aufzuheben. Eine antragsgemäße Entscheidung ist dem Gericht indes verwehrt, weil die Beklagte über das "Wie" der zu erbringenden Reha-Leistung eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte.

Erfüllt ein Versicherter die rechtlichen und persönlichen Voraussetzungen für eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, bestimmt nach § 13 SGB VI der Träger der Rentenversicherung unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistung sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 39 SGB I). In Erfüllung des Anspruchs des Klägers aus § 15 SGB IX hat die Beklagte diese Ermessensentscheidung (fiktiv) nachzuholen. Sie wird auch darüber zu befinden haben, ob sie den Anspruch des Klägers auf Aufwendungsersatz auf der Grundlage einer ambulanten oder einer stationären Drogenentwöhnungstherapie erfüllt. Es wäre allerdings möglicherweise rechtsfehlerhaft, diese Entscheidung allein nach Wirtschaftlichkeits- und Sparsamkeitsgrundsätzen zu treffen. Denn gewichtig zu beachten ist auch, dass der Kläger sich nach der ablehnenden Erstentscheidung für eine Maßnahme entschieden hat, die nicht nur nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme zumindest gleichwertig in Betracht kam, sondern auch vom medizinischen Sachverständigen der Beklagten selbst befürwortet wurde und ihm im Übrigen auch von der Justiz so auferlegt worden war. Der Erstattungsanspruch des Klägers ist allerdings der Höhe nach gemäß § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX auf den Betrag begrenzt, den die Beklagte für eine Sachleistung hätte aufwenden müssen.

Im Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen erschien der Kammer angemessen, der Beklagten die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers (§ 193 SGG) aufzuerlegen.
Rechtskraft
Aus
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