L 6 AS 2459/16 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 23 SF 3/16 E
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 AS 2459/16 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 10.11.2016 geändert. Die Vergütung wird auf 1069,56 EUR festgesetzt. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist die Festsetzung der zutreffenden Höhe der Vergütung des beigeordneten Rechtsanwaltes nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG).

Im zugrundeliegenden Klageverfahren stritten die Beteiligten um die Rückforderung überzahlter Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II vom Kläger durch den Beklagten für den Monat April 2014 in Höhe von 526,65 EUR. Die am 06.07.2015 erhobene Klage und den PKH-Antrag begründete der durch den Beschwerdeführer anwaltlich vertretene Kläger mit einem 1 ½ seitigen Schriftsatz, in dem er bestimmte Erklärungen des für ihn zuständigen Sachbearbeiters des Beklagten anlässlich einer Vorsprache in Begleitung seiner Mutter behauptete. Anschließend beantragte und erhielt der Beschwerdeführer Einsicht in die Verwaltungsakten (1 Band) und legte auf einen Hinweis des Gerichts in einem zweiseitigen Schriftsatz nach erneuter Rücksprache mit dem Kläger und dessen Mutter den Inhalt des Gesprächs und seine Auffassung zur Beweiserheblichkeit dar. Im Termin zur mündlichen Verhandlung und zur Beweisaufnahme, der am 09.11.2017 um 11.55 Uhr begann, wurden die Mutter und der Sachbearbeiter als Zeugen vernommen. Die Beweisaufnahme war um 12.30 Uhr beendet. Um 12.45 Uhr wurde die mündliche Verhandlung unterbrochen, um dem Bevollmächtigten und dem Kläger Gelegenheit zur Rücksprache zu geben. Fünf Minuten später wurde die Verhandlung wieder aufgenommen. In der Sitzungsniederschrift heißt es:

Die Beteiligten vereinbaren, dass der Kläger die Rückforderung in Höhe von 526,65 EUR in monatlichen Raten zu 50,00 EUR ab Monat November zurückzahlt.

Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage erklärt der Kläger-Bevollmächtigte in Übereinstimmung mit dem Kläger:

"Ich nehme die Klage zurück."

Vorläufig auf Tonträger aufgenommen, abgespielt und genehmigt.

Der Beschwerdeführer, der dem Kläger durch Beschluss vom 17.08.2015 im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden war, beantragte am 12.11.2015 die Festsetzung folgender Gebühren und Auslagen:

Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG 300,00 EUR
Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG 280,00 EUR
Einigungsgebühr nach Nr. 1006 VV RVG 300,00 EUR
Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR
Fahrtkosten Termin 09.11.2015, 32 km 9,60 EUR
Abwesenheitsgeld, 4 Std. 25,00 EUR
Zwischensumme 934,60 EUR
Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG 177,46 EUR
abzgl Vorschüsse und sonstige Zahlungen 42,50 EUR
Gesamtsumme 1.069,56 EUR

Am 15.12.2015 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen fest. Dabei lehnte sie die geltend gemachte Einigungsgebühr nach Nr. 1006 Vergütungsverzeichnis - VV - RVG in Höhe von 300 EUR ab und reduzierte dementsprechend die Umsatzsteuer auf 112,50 EUR, so dass sich ein Gesamterstattungsanspruch in Höhe von 704,60 EUR ergab. Zur Begründung führte sie aus, es sei kein Vergleich geschlossen worden. Der Rechtsstreit sei vielmehr durch Klagerücknahme im Termin erledigt worden. Die Vereinbarung über die ratenweise Rückzahlung sei kein Prozessvergleich.

Gegen diese Festsetzung legte der Beschwerdeführer am 29.12.2015 Erinnerung ein. Er trug vor, die Vergleichsgebühr sei angefallen. Es habe ein gegenseitiges Nachgeben der Prozessparteien derart vorgelegen, dass der Kläger die Klage zurückgenommen und der Beklagte auf sofortige Zahlung des dann fälligen, überzahlten Betrages verzichtet und dem Kläger die Ratenzahlungsmöglichkeit eingeräumt habe. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat der Erinnerung nicht abgeholfen.

Das SG, das die Voraussetzungen für die Festsetzung der Einigungsgebühr bejaht hat, hat durch Beschluss vom 03.03.2016 die PKH-Vergütung antragsgemäß auf 1.069,56 EUR festgesetzt. Dagegen hat der Beschwerdegegener (Bezirksrevisor) am 17.03.2016 Beschwerde eingelegt und zur Begründung u.a. ausgeführt, die Ratenzahlungsvereinbarung sei lediglich eine Regelung der Erstattungsmodalitäten, die Entstehung der Gebühr setze mindestens zwei Erklärungen voraus. Hier habe aber bereits die eine Erklärung (Rücknahme durch den Kläger) das Verfahren beendet.

Das SG hat der Beschwerde des Bezirksrevisors abgeholfen und durch Beschluss vom 10.11.2016 die PKH-Vergütung erneut auf 704,60 EUR festgesetzt. Der Rechtsstreit sei beendet worden durch Klagerücknahme nach § 102 SGG, wobei der Kläger die Rückforderung des Beklagten für den streitgegenständlichen Zeitraum in voller Höhe anerkannt habe. Die vereinbarte Ratenzahlung sei lediglich eine Regelung der Rückzahlungsmodalitäten, mit der der Beklagte den finanziellen Verhältnissen des Klägers Rechnung getragen habe. Es handele sich hierbei nicht um eine Erklärung mit verfahrensbeendender Wirkung, damit auch um keinen Vergleich.

Nach Zustellung am 17.11.2016 hat der Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss am 23.11.2016 Beschwerde eingelegt. Zutreffend weise das SG darauf hin, dass die jetzige Einigungsgebühr nach dem RVG einen weiteren Anwendungsbereich habe als die frühere Vergleichsgebühr. Sie könne auch anfallen, wenn zusätzlich zu einem Anerkenntnis oder einem Verzicht etwas anderes vereinbart werde. Sodann habe das SG jedoch übersehen, dass eine Klagerücknahme wie hier bei gleichzeitiger Vereinbarung der Ratenzahlung ein prozessuales Nachgeben darstelle. Das wiederum reiche für den Anfall der Einigungsgebühr. Der Kläger im Ausgangsverfahren sei nicht verpflichtet gewesen, die Klage zurückzunehmen, der Beklagte seinerseits nicht, Ratenzahlung zu vereinbaren. Dieser habe darauf verzichtet, den fälligen Gesamtbetrag sofort zu vereinnahmen. Der Kläger habe auf die Abfassung eines Urteils und die damit verbundene Möglichkeit der Berufungseinlegung verzichtet. Ein gegenseitiges Nachgeben - und sei es auch nur in prozessualer Hinsicht - genüge aber bereits für die Einigungsgebühr.

Der Bezirksrevisor hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und das PKH-Beiheft Bezug genommen.

II.

Über die Beschwerde entscheidet der Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern, §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 RVG.

Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstands, die Differenz zwischen den als PKH-Vergütung beantragten 1.069,56 EUR und den vom SG zuletzt festgesetzten 704,60 EUR incl. Umsatzsteuer 364,96 EUR beträgt, mithin erkennbar 200 EUR übersteigt, § 56 Abs. 2 S. 1 1. Alt. RVG iVm § 33 Abs. 3 S. 1 RVG. Die Beschwerdefrist von zwei Wochen (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 3 RVG) ist gewahrt. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen (§ 33 Abs. 4 S. 1 RVG).

Die Beschwerde ist begründet. Dem Beschwerdeführer stehen Gebühren und Auslagen in der am 12.11.2015 beantragten Höhe zu.

Anders als das SG in dem angefochtenen Beschluss sieht der Senat die Voraussetzungen für die Entstehung der Einigungsgebühr nach Nrn. 1000 Abs. 1 und Abs. 4, 1006 VV RVG als erfüllt an.

Es spricht Einiges dafür, dass hier eine Ratenzahlungsvereinbarung iSv Nr. 1000 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 1006 VV RVG getroffen wurde (zu den Voraussetzungen s auch LSG NRW Beschluss vom 01. 02.2017 - L 19 AS 1408/16 B -, juris Rn. 43 ff, mwN). Dies kann im Ergebnis aber offen bleiben, da jedenfalls eine Einigung im Sinne der Nr. 1000 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VV RVG erfolgt ist (vgl. Müller-Rabe, a.a.O., Nr. 1000 VV RVG Rn. 231). Diese bestand ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 09.11.2015 zunächst in einer Ratenzahlungsvereinbarung zur Erfüllung der Rückforderung. Die protokollierte Ratenzahlungsvereinbarung bedarf der Auslegung, da sich der Kläger allein nach deren Wortlaut dazu verpflichtet, die Rückforderung in Höhe von 526,65 EUR unabhängig vom Ausgang des zu diesem Zeitpunkt noch laufenden Klageverfahrens zurückzuzahlen und mit der (ratenweisen) Zahlung sofort ("ab November") zu beginnen. Der Protokollierung ist nicht zu entnehmen, dass der Beklagte dem Kläger für den Fall der Klagerücknahme eine solche Ratenzahlungsvereinbarung nur in Aussicht gestellt hat; in diesen Fällen wird jedenfalls die prozessbeendende Erklärung zuerst aufgenommen und anschließend die weiteren Zahlungsmodalitäten niedergelegt. Vor diesem Hintergrund macht die Ratenzahlungsvereinbarung keinen Sinn, wenn sie nicht in einem inneren Zusammenhang mit der nachfolgenden Klagerücknahme gesehen wird: Ratenzahlungsvereinbarung und Klagerücknahme sind Teil einer Einigung über die Erledigung des anhängigen Verfahrens und weiterer Punkte, die nicht Streitgegenstand waren. Denn mit dieser Einigung erhält der Beklagte sofort beginnend Zahlungen, die zur Tilgung der Forderung in einem überschaubaren Zeitraum führen. Eine Rückzahlung in dieser Höhe wäre ungeachtet des damit verbundenen finanziellen/zeitlichen Aufwandes voraussichtlich auch nicht im Wege der Aufrechnung oder Zwangsvollstreckung aus dem angefochtenen Bescheid zu erreichen gewesen, da dem Kläger trotz seines ab April erzielten Einkommens ratenfreie PKH zu bewilligen war. Mit der Rücknahme der Klage verfügt der Beklagte über einen Vollstreckungstitel, verzichtet aber seinerseits darauf, die Forderung insgesamt geltend zu machen, ggfs zu vollstrecken, da er dem Kläger nachgelassen hat, die Forderung ratenweise zu erfüllen. Er verzichtet damit jedenfalls für die Dauer der ordnungsgemäßen Erfüllung der Vereinbarung konkludent auch auf die Erhebung von Verzugs-/Stundungszinsen. In dieser Gesamtschau liegt hier - anders als regelmäßig bei den den der Klagerücknahme "nachlaufenden" Regelung von Zahlungsmodalitäten - nicht lediglich ein Anerkenntnis bzw. Verzicht vor, der für die zusätzliche Einigungsgebühr nicht ausreicht, sondern materiellrechtlich vielmehr ein Vergleich. Er enthält ein gegenseitiges Nachgeben i.S.v. 54 Abs. 1 SGB X, denn diese Vorschrift verlangt nicht, dass sich das Nachgeben ausschließlich auf materielle Rechtspositionen bezieht (LSG NRW Beschluss vom 01. 02.2017 - L 19 AS 1408/16 B - juris Rn. 43 ff.). Auch das Nachgeben in verfahrensrechtlichen Positionen, wie hier Rücknahme der Klage beim SG, wird von Abs. 1 jedenfalls dann erfasst, wenn dadurch eine weitergehende materielle Rechtsposition nicht mehr aufrechterhalten wird (vgl. Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 54 Rn. 11b m.w.N.; BSG Urteil vom 17.05.1989 - 10 RKg 16/88 - SozR 1500 § 101 Nr. 8). An dem Vergleich hat der Beschwerdeführer, wie das Protokoll belegt, beratend mitgewirkt. Mit der Zuerkennung einer Einigungsgebühr in diesem Fall wird auch dem Anliegen des Gesetzgebers, verhaltenssteuernd zur Entlastung der Justiz zu wirken, entsprochen (s. BT-Drucks. 15/1971 vom 11.11.2003, S. 204 ; vgl. zur Justizentlastung auch Bundesgerichtshof - BGH - Urteil vom. 20.11.2008 - IX ZR 186/07 - FamRZ 2009, 30).

Gegen die Bemessung der Rahmengebühren nach Maßgabe des § 14 Abs. 1 RVG hat der Beschwerdegegner keine Einwände erhoben; jedenfalls sieht das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, dass die Bestimmung der Gebühr unbillig und damit unverbindlich sein könnte (§ 14 Abs. 1 S. 4 RVG; zum Toleranzrahmen bei der Unbilligkeitsprüfung s. BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R - juris Rn.19 m.w.N.). Es handelt sich unter Beachtung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Kriterien um einen "Normalfall", in dem sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt aller sozialrechtlichen Fälle abhebt (BSG, a.a.O., juris Rn. 24 = BSGE 104, 30). Dabei ist zu beachten, dass die in § 14 Abs. 1 RVG aufgezählten fünf Bemessungskriterien selbstständig und gleichwertig nebeneinander stehen. Sämtliche Kriterien sind geeignet, ein Abweichen von der Mittelgebühr nach oben oder unten zu begründen, das Abweichen eines Bemessungskriteriums kann aber von jedem anderen Bemessungskriterium kompensiert werden (BSG, aaO., juris Rn 38).

Hiervon ausgehend ist der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit im Vergleich zu sonstigen Sozialgerichtsverfahren als durchschnittlich anzusehen. Die Verfahren nach dem SGB II sind mittlerweile wegen ihrer großen Zahl doch schon von prägender Bedeutung, die sich in der Vergangenheit eher aus den Verfahren mit medizinischer Sachverhaltsermittlung gespeist hat. Die Klagebegründung, Akteneinsicht und Reaktion auf einen gerichtlichen Hinweis nach erneuter Mandantenbesprechung und Befragung potentieller Zeugen belegen einen mindestens durchschnittlichen Umfang der anwaltlichen Tätigkeit. Inhaltlich handelt es sich um einen Routinefall von durchschnittlicher Schwierigkeit. Die Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger ist wirtschaftlich geprägt und angesichts seiner weiterhin beengten wirtschaftlichen Verhältnisse eher überdurchschnittlich. Das Haftungsrisiko des Beschwerdeführers ist von unterdurchschnittlicher Bedeutung.

Bei Abwägung aller Kriterien ist der Ansatz der Verfahrensgebühr, dem der der Einigungsgebühr folgt, mit 300 EUR jedenfalls nicht unbillig; die zutreffende Gebühr wird hier nicht um mindestens 20 Prozent überschritten. Die Bestimmung der Terminsgebühr mit 280 EUR bleibt bei einer durch Zeugenvernehmung bestimmten Dauer der mündlichen Verhandlung von einer Stunde ebenfalls verbindlich (zur durchschnittlichen Terminsdauer LSG NRW Beschluss vom 01. 02.2017 - L 19 AS 1408/16 B - juris Rn. 43 ff. )

Zusammen mit der Pauschale nach Nr. 7002 VV RVG, Fahrtkosten zum Termin (für 32 km iHv 9,60 EUR), Abwesenheitsgeld (für 4 Stunden iHv 25 EUR) und Umsatzsteuer sind die Gebühren wie beantragt festzusetzen.

Das Verfahren ist gebührenfrei (§ 56 Abs. 2 S. 2 RVG).

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 56 Abs. 2 S. 3 RVG).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 4 S. 3 RVG).
Rechtskraft
Aus
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