L 5 P 46/17 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 54 P 181/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 P 46/17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 20.3.2017 geändert. Der Streitwert wird auf 80.000 EUR festgesetzt. Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist die Höhe des durch das Sozialgericht (SG) mit Beschluss vom 20.3.2017 festgesetzten Streitwerts.

Nach einer Qualitätsprüfung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) am 4.12.2013 mit festgestellten Qualitätsmängeln in einer Pflegeeinrichtung der Klägerin beanstandeten die Beklagten mit Maßnahmenbescheid vom 14.5.2014 unter Bezugnahme auf den Prüfbericht vom 12.12.2013 insgesamt 16 Mängel. Sie forderten die Klägerin dazu auf, bis zum 30.6.2014 im Kapitel 12 (Behandlungspflege) drei Mängel, im Kapitel 13 (Sturz-, Dekubitus- und Kontrakturprophylaxe) sechs Mängel, im Kapitel 14 (Ernährung und Flüssigkeitsversorgung) 4 Mängel, im Kapitel 15 (Urininkontinenz) zwei Mängel und im Kapitel 16 (Demenz) einen Mangel zu beseitigen. Hinsichtlich der Einzelheiten des Bescheids wird auf Bl. 607 ff der Akten der Klägerin Bezug genommen.

Gegen den Maßnahmenbescheid vom 14.5.2014 hat die Klägerin am 16.6.2014 Klage beim SG erhoben. Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit am 20.2.2017 einvernehmlich für erledigt und sich bereit erklärt hatten, die Kosten des Rechtsstreits hälftig zu teilen, hat das SG den Streitwert mit Beschluss vom 20.3.2017 endgültig auf 5.000,- EUR festgesetzt. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des LSG NRW (10. Senat, z.B. Beschluss vom 26.2.2014 - L 10 P 120/13 B ER) halte es eine Aufteilung der mit dem Maßnahmebescheid angeordneten Maßnahme in einzelne Maßnahmekomplexe, denen dann jeweils der Auffangstreitwert von 5.000,- EUR zugeordnet werde, nicht für angezeigt. Es schließe sich vielmehr der überzeugenden Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 2.5.2016 - L 30 P 75/15 B) an. Da mit dem Instrument des Maßnahmenbescheids die Qualität einer Einrichtung insgesamt verbessert werden solle, sei bereits fraglich, ob der Maßnahmebescheid verschiedene Einzelmaßnahmen mit Regelungscharakter enthalte. Regelungszweck sei vielmehr die Qualitätssicherung insgesamt. Da die Landesverbände erst bei einer Fristversäumnis hinsichtlich der Mängelbeseitigung je nach Schwere des Mangels zu einer Kündigung berechtigt seien, komme erst dieser eine weitergehende wirtschaftliche Bedeutung zu. Da der Maßnahmebescheid selbst noch keine messbaren wirtschaftlichen Folgen habe, scheide eine Bestimmung des Streitwerts nach § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) aus, sodass nur einmalig der Regelstreitwert nach § 52 Abs. 2 GKG anzusetzen sei.

Gegen den ihr am 3.4.2017 zugestellten Beschluss hat der Klägerbevollmächtigte am 24.4.2017 Beschwerde beim SG (am 12.5.2017 beim LSG eingegangen) eingelegt. Er vertritt die Ansicht, dass der Streitwert im vorliegenden Fall entsprechend der Rechtsprechungspraxis des LSG NRW auf 25.000 EUR festzusetzen sei, da in dem Maßnahmebescheid die Bereiche "Verfahrensrechtliche Probleme hinsichtlich der Durchführung der Prüfung", "personelle Besetzung anhand der Dienstpläne", "Einhaltung der konzeptionellen Grundlagen und Standards bzgl. Ernährung und sozialer Betreuung", "Kontrakturprophylaxe/ Sturzrisiko- und Schmerzeinschätzung" sowie "Einhaltung der Hygienestandards" betroffenen seien.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Beschluss vom 8.5.2017).

Die Beklagten verweisen auf die Ausführungen des ihrer Ansicht nach zutreffenden Beschlusses des SG Dortmund vom 20.3.2017 und die Rechtsauffassung des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 2.5.2016 - a.a.O.). Sollte der Streitwert entgegen ihrer Rechtsauffassung nach Maßnahmekomplexen gebildet werden, so sehe sie hier nur die drei Komplexe "Art und Ausführung der Pflege", "Ausgestaltung und Dokumentation der Ernährung" und "Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen".

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und die Unterlagen der Klägerin Bezug genommen.

II.

Über Beschwerden gegen die Festsetzung des Streitwerts durch das SG entscheidet auch im Verfahren vor dem Landessozialgericht grundsätzlich der Berichterstatter im Verfahren als Einzelrichter (LSG NRW, Beschluss vom 2.4.2017 - L 1 KR 922/16 B und vom 7.3.2012 - L 4 P 19/12 B, a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2.5.2016 - L 30 P 75/15 B und LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 2.10.2012 - L 4 P 19/12 B). Im vorliegenden Fall entscheidet der Senat gemäß § 68 Abs. 2 Satz 7 i.V.m. § 66 Abs. 6 Satz 2 GKG mit drei Berufsrichtern, da er der Sache wegen der divergierenden obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzliche Bedeutung zumisst und zu der hier streitigen Rechtsfrage in eigener Zuständigkeit noch keine Stellung bezogen hat.

Die Beschwerde ist zulässig.

Der Senat geht davon aus, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung im eigenen Namen und nicht im Namen der Klägerin eingelegt hat und deshalb selbst Beschwerdeführer ist. Denn er hat die Beschwerde - anders als die Klage - nicht "Namens und in Vollmacht der Klägerin" eingelegt und auch nicht auf eine durch die Klägerin erteilte Vollmacht Bezug genommen. Da er ein erkennbares gebührenrechtliches Interesse an der Festsetzung eines höheren Streitwertes hat, ist er beschwerdebefugt. Er kann gemäß § 32 Abs. 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) i.V.m. § 68 Abs. 1 GKG aus eigenem Recht die Heraufsetzung des Streitwertes geltend machen.

Die Beschwerde ist nach Maßgabe des § 68 Abs. 1 Satz 1 GKG statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,- Euro übersteigt. Bei der im Beschwerdeverfahren begehrten Festsetzung eines Streitwerts von 25.000 Euro erhöhte sich der Vergütungsanspruch des Beschwerdeführers nach dem RVG um mehr als 200 Euro.

Die Beschwerde wurde fristgerecht und ordnungsgemäß beim SG erhoben (§§ 68 Abs. 1 Satz 3 und 5, 66 Abs. 5 Satz 5 und § 63 Abs. 3 Satz 2 GKG). Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen; § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Die Beschwerde ist begründet. Das SG hat den Streitwert der Klage gegen einen Maßnahmebescheid nach § 115 Abs. 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) mit Beschluss vom 20.3.2017 zu Unrecht auf 5.000,- EUR festgesetzt. Der Senat ist nicht gehindert, den Streitwert abweichend vom Antrag des Beschwerdeführers auf 80.000 EUR festzusetzen, da der Grundsatz des "ne ultra petita" im Rahmen der Streitwertbeschwerde keine Anwendung findet (Hartmann, Kostengesetze, 45. Auflage 2015, § 68 GKG, Rn 17).

Nach § 197 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG ist in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Betrifft der Antrag eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend; § 52 Abs. 3 GKG. Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5.000 EUR anzunehmen; § 52 Abs. 2 GKG. In demselben Verfahren und in demselben Rechtszug werden die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit nichts anderes bestimmt ist; § 39 Abs. 1 GKG.

Nach diesen Grundsätzen ist der Streitwert bei der Klage der Klägerin gegen den Maßnahmebescheid vom 14.5.2014 nach § 115 Abs. 2 SGB XI auf 80.000 EUR festzusetzen.

Bei einer Anfechtungsklage ist für die Streitwertfestsetzung das Interesse des Klägers am Wegfall des Verwaltungsakts zu bemessen (Straßfeld in "Streitwertfestsetzung im sozialgerichtlichen Verfahren", Sgb 2/2008, S. 80, 82). Die Anfechtungsklage der Klägerin richtet sich gegen einen Maßnahmenbescheid, in dem die Klägerin in den fünf betroffenen Kapiteln dazu verpflichtet wird, 16 Beanstandungen zu beseitigen. Anhaltspunkte, welche wirtschaftlichen Auswirkungen der Bescheid im Einzelnen haben wird, sind nicht ersichtlich, sodass nur der Auffangstreitwert nach § 52 Abs. 2 GKG zu Grunde gelegt werden kann.

Ob der Auffangstreitwert bei Anfechtungsklagen gegen Maßnahmebescheide nach § 115 Abs. 2 SGB XI durch Addition der Anzahl der Einzelmaßnahmen (so früher der 27. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, z.B. Beschlüsse vom 7.7.2010 - L 27 P 12/10 B, vom 5.10.2011 - L 27 P 23/11 B, vom 31.7.2013 - L 27 P 32/12 B und L 27 P 66/11 B sowie vom 18.9.2014 - L 27 P 46/14 B), durch Addition der Anzahl der Maßnahmekomplexe nach § 39 Abs. 1 GKG (so der früher für Streitigkeiten nach dem SGB XI zuständige 10. Senat des LSG NRW: Beschluss vom 26.5.2010 - L 10 B 41/09 R und vom 7.3.2012 - L 10 P 133/11 B) zu bemessen ist oder nur einmalig der Regelstreitwert zu Grunde zu legen ist (so unter ausdrücklicher Aufgabe der Rechtsprechung des 27. Senats der 30. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2.5.2016 - L 30 P 75/15 B; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.1.2010 - L 15 P 69/09 B und wohl auch Bay. LSG, Urteil vom 8.7.2014 - L 2 P 80/13) ist umstritten (siehe auch Darstellung des Meinungsstands im Streitwertkatalog für die Sozialgerichtsbarkeit 5. Aufl. 2017).

Der erkennende Senat gibt die Rechtsprechung des 10. Senats des LSG NRW ausdrücklich auf und schließt sich im Ergebnis der Rechtsprechung des 27. Senats des LSG Berlin-Brandenburg an. Ein Maßnahmebescheid enthält eine oder mehrere Beanstandungen von Mängeln, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt beseitigt werden sollen. Darin werden unterschiedliche Mängel (hier z.B. "Behandlungspflege entspricht nicht den ärztlichen Anordnungen", "individuelle Ernährungsressourcen und Risiken werden nicht ausreichend erfasst" oder "Notwendigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme wird nicht regelmäßig überprüft") sowie passend dazu unterschiedliche Handlungsaufforderungen ("Die Durchführung der behandlungspflegerischen Maßnahmen muss den ärztlichen Anordnungen entsprechen", "Individuelle Ernährungsressourcen und Risiken müssen erfasst werden", "Die Notwendigkeit der freiheitseinschränkenden Maßnahmen müssen regelmäßig überprüft werden") angeführt, deren Rechtswidrig- oder Rechtmäßigkeit jeweils einzeln angegriffen und auch unterschiedlich beurteilt werden kann. Da jede Beanstandung gesondert zu bewerten ist, bildet jede einen eigenständigen Steitgegenstand, sodass der Regelstreitwert dementsprechend mehrfach anzusetzen und gem. § 39 Abs. 1 GKG zusammenzurechnen ist (so bei unterschiedliche Wahlämter betreffenden Anfechtungsklagen auch BSG, Beschluss vom 14.9.2006 - B 6 KA 24/06 B und vom 19.9.2006 - B 6 KA 30/06 B und bei einer mehrere Äußerungen betreffenden Unterlassungsklage - Beschluss vom 8.4.2005 - B 6 KA 60/04 B). Die Rechtsauffassung des 30. Senats des LSG Berlin-Brandenburg, der sich das SG angeschlossen hatte, lässt bei der Zugrundelegung des Regelstreitswerts außer Acht, dass es sich bei den Beanstandungen um verschiedene Regelungen und somit verschiedene Streitgegenstände handelt. Zwar ist nach dem Wortlaut des § 52 Abs. 2 GKG ist "ein Streitwert von 5.000 EUR anzunehmen". Dies bedeutet jedoch nur, dass der Betrag, der als Regelstreitwert zu Grunde zu legen ist, nach der Wertung des Gesetzgebers 5.000 EUR beträgt. Daraus lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass bei mehreren Streitgegenständen nach § 39 Abs. 1 GKG eine Addition des Regelstreitwerts nicht nur möglich, sondern geboten ist. Gegen die Rechtsprechung des 10. Senats des LSG NRW spricht, dass auch bei Bildung von Maßnahmekomplexen (wie hier z.B. "Kontrakturprophylaxen, Sturzrisiko- und Schmerzeinschätzung") außer Acht gelassen wird, dass die innerhalb dieses Komplexes erfolgten Beanstandungen (hier 6 verschiedene) rechtlich jeweils unterschiedlich bewertet werden können. Unabhängig von diesem Gesichtspunkt kann die Frage, wie einzelne Beanstandungen zu Maßnahmekomplexen zusammenzufassen sind, zu nicht unerheblichen Rechtsunsicherheiten führen. Bei seiner Ermessensentscheidung verkennt der Senat nicht, dass die Addition des Auffangstreitwerts bei einer großen Anzahl von Beanstandungen möglicherweise zu einem Streitwert führen kann, der die tatsächliche wirtschaftliche Bedeutung für den Kläger im Einzelfall überschreiten mag. Richtig ist auch, dass die Nichtbefolgung eines nicht vollstreckungsfähigen Maßnahmebescheids keine unmittelbaren Konsequenzen für den Träger hat, da eine Kündigung des Versorgungsvertrags rechtlich davon unabhängig ist. Diese Gesichtspunkte können jedoch nicht dazu führen, dass von einer Addition des Regelstreitwerts gemäß § 39 GKG im Einzelfall abgesehen werden kann. Denn der Gesetzgeber pauschaliert einen nicht bestimmbaren Streitwert regelhaft mit 5.000 EUR, sodass es -wie bei allen Pauschalierungen- im Einzelfall dazu kommen kann, dass die tatsächliche Bedeutung der Sache deutlich unter- oder überschritten wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 68 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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