L 2 KG 1/18 B ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 35 KG 6/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 KG 1/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Bei einer Regelungsanordnung besteht eine Wechselwirkung dahingehend, dass an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes geringere Anforderungen zu stellen sind, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist.
1. Der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Januar 2018 wird aufgehoben und die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin ab 1. November 2017 für die weitere Dauer dieses Verfahrens vorläufig und längstens bis zur Bestandskraft des Beschlusses der Antragsgegnerin vom 17. Januar 2018 Kindergeld zu zahlen. 2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes die Zahlung von Kindergeld für sich selbst.

Die am xxxxx 1998 geborene Antragstellerin lebte bis zum 31. Juli 2017 im Haushalt ihrer Pflegemutter, an die auch das Kindergeld ausgezahlt wurde. Die Zahlung endete zum 1. August 2017, da die Antragstellerin in eine Wohngemeinschaft zog. Die Antragstellerin bezieht eine monatliche Ausbildungsvergütung in Höhe von 629 Euro, eine Ausbildungsbeihilfe in Höhe von monatlich 93 Euro sowie nach eigenen Angaben ein monatliches Darlehen ihres früheren Pflegevaters in Höhe von 257 Euro.

Am 11. August 2018 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Auszahlung des anteiligen Kindergeldes an sich selbst. Mit Bescheid vom 21. August 2017 lehnte die Antragsgegnerin einen Antrag der Antragstellerin vom 18. August 2018 auf "Abzweigung des Kindergeldes" ab, da eine Abzweigung des Kindergeldes aus dem Anspruch der Pflegeeltern heraus nicht möglich sei, da die Pflegeeltern nicht unterhaltspflichtig seien. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos, da die Antragsgegnerin die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht als erfüllt ansah.

Gegen diese am 25. September 2017 zur Post gegebene Entscheidung hat die Antragstellerin am 30. Oktober 2017 Klage bei dem Sozialgericht Hamburg erhoben und zugleich im Wege einer einstweiligen Anordnung beantragt, ihr für die Dauer des Klageverfahrens vorläufig Kindergeld zu bezahlen. Sie hat vorgetragen, dass die Antragsgegnerin ihren Antrag missverstanden habe, da sie keine Abzweigung des erloschenen Kindergeldanspruchs ihrer Pflegeeltern, sondern Kindergeld für sich selbst habe beantragen wollen. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) lägen vor, da sie ihren Wohnsitz in Deutschland habe, den Aufenthaltsort ihrer leiblichen Eltern nicht kenne und sie bei keiner anderen Person als Kind zu berücksichtigen sei.

Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 2. Januar 2018 abgelehnt, da die Antragstellerin einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht habe. Angesichts ihrer Einkommensverhältnisse sei eine finanzielle Notlage der Antragstellerin nicht erkennbar, zumal die angeforderten Kontounterlagen nicht vorgelegt worden seien.

Gegen diese ihrem Prozessbevollmächtigten am 5. Januar 2018 zugestellte Entscheidung hat die Antragstellerin am 8. Januar 2018 Beschwerde eingelegt und beanstandet, dass das Sozialgericht den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt habe. Auch müssten die Erfolgsaussichten in der Hauptsache berücksichtigt werden.

Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass auch kein Anordnungsanspruch bestehe. Nach ihren Recherchen lebe zumindest der Vater der Antragstellerin in Deutschland, bei dem diese als Kind zu berücksichtigen sei, sodass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG nicht vorlägen. Mit Bescheid vom 17. Januar 2018 hat die Antragsgegnerin den Antrag auf Kindergeld der Antragstellerin an sie selbst abgelehnt, da ihr – der Antragsgegnerin – der Aufenthaltsort des Vaters der Antragstellerin bekannt sei.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und begründet. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt. Da die Voraussetzungen eines Anspruchs der Antragstellerin auf Kindergeld an sie selbst (§ 1 Abs. 2 BKKG) offensichtlich erfüllt sind, ist ein Erfolg in der Hauptsache sehr wahrscheinlich, sodass an den Anordnungsgrund geringere Anforderungen zu stellen sind.

1. Das Begehren der Antragstellerin kann in der Hauptsache grundsätzlich mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht werden, so dass hier § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes darstellt. Danach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Antragstellerin ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1998 – 2 BvR 745/88, BVerfGE 79, 69 (74); Beschluss vom 19. Oktober 1977 – 2 BvR 42/76, BVerfGE 46, 166 (179); Beschluss vom 22. November 2002 – 2 BvR 745/88, NJW 2003, 1236).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat die Antragstellerin glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung; Keller in Meyer-Ladewig/Kel- ler/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn 41).

Zu Recht weist die Antragstellerin darauf hin, dass zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch eine Wechselbeziehung bestehe. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05, Breith 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

2. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

a) Die in Deutschland lebende Antragstellerin erfüllt auch die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG, da sie den Aufenthalt ihrer Eltern nicht kennt. Dass die Antragsgegnerin den Aufenthaltsort des Vaters der Antragstellerin zu kennen behauptet, ist insoweit unbeachtlich, zumal sie den Aufenthaltsort auch im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nicht mitgeteilt hat. Es kommt für den hier geltend gemachten Anspruch nicht auf einen objektiven Maßstab an in dem Sinne, dass der Aufenthalt unbekannt ist, also von niemandem, weder der Antragstellerin noch der Behörde, zu ermitteln ist. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG ist vielmehr erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab (vgl. BSG, Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 KG 1/14 R, BSGE 119, 33 unter Verweis auf BSG, Urteil vom 8. April 1992 – 10 RKg 12/91, SozR 3-5870 § 1 Nr. 1). Da auch die Antragsgegnerin nicht vorträgt, der Antragstellerin den Aufenthaltsort ihres Vaters mitgeteilt zu haben, ist davon auszugehen, dass ihr der Aufenthaltsort nach wie vor unbekannt ist.

b) Schließlich liegt – bei der hier gebotenen vorläufigen Bewertung – auch kein Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG vor, weil die Antragstellerin bei ihrem leiblichen Vater als einer "anderen Person" als Kind zu berücksichtigen wäre. Nicht entscheidend ist hingegen, ob sie tatsächlich auch berücksichtigt wird (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Kommentar, BKGG § 1, Rn. 127). Als andere Person kommt jeder nach § 62 EStG oder § 1 Abs. 1 und 3 BKGG Berechtigte in Betracht.

Aus gesetzessystematischen Gründen dürfte damit aber nicht die Person der Eltern gemeint sein, von denen die Antragstellerin zum Vorliegen des Anspruchs auf eigenes Kindergeld den Aufenthalt ja nicht kennen darf. Gemeint sein dürften nur andere mögliche Leistungsberechtigte wie Stiefeltern, Großeltern oder Pflegeeltern (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. Juni 2016 – L 5 KG 1/15, juris; Durchführungsanweisung 101.74 zum BKGG der Familienkasse Direktion, Stand Dezember 2011). Würde aber als "andere Person" auch der Vater oder die Mutter unbekannten Aufenthalts gelten, könnte ein eigener Kindergeldanspruch nur dann entstehen, wenn diese sich nicht in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten. Dies ließe sich - bei unbekanntem Aufenthalt - tatsächlich kaum aufklären.

3. Der Anspruch der Antragstellerin auf Leistung von Kindergeld an sich selbst nach § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG ist somit offensichtlich begründet. Unter diesen Umständen ist bei der gebotenen Interessenabwägung darauf abzustellen, dass die Antragstellerin angesichts der geringen ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel schutzbedürftig ist und ihr nicht weiter zugemutet werden kann, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Ihr sind deshalb die beantragten Kindergeldzahlungen vorläufig ab Eingang des Eilantrages bei Gericht (vgl. dazu Keller in Meyer-Ladewig, Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn 35a) zu gewähren.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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