L 19 AS 133/18 B ER und L 19 AS 134/18 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 49 AS 5194/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 133/18 B ER und L 19 AS 134/18 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerden der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 22.12.2017 werden zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die zulässigen Beschwerden der Antragsteller sind unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag der Antragsteller auf einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R - und Beschluss vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B).

Die Antragsteller haben keinen Anordnungsanspruch auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht.

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II sind bereits nicht gegeben, so dass es entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht darauf ankommt, ob ein Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II verwirklich ist.

Die Antragsteller zu 2) bis 6) sind in den Jahren 2008, 2010, 2013, 2016 und 2017 geboren und haben daher noch nicht das 15. Lebensjahr vollendet (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Sie könnten daher nur als Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft, vermittelt über ihre Mutter, die Antragstellerin zu 1), Leistungen nach dem SGB II erhalten (§ 7 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Die Antragstellerin zu 1) ist jedoch nicht leistungsbedingt, da sie keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II). Nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er sich an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (BSG, Urteil vom 29.05.1991 - 4 RA 38/90). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 18 m.w.N.).

Eine fehlende Dauerhaftigkeit des Aufenthalts im Sinne einer nicht vorhandenen Zukunftsoffenheit liegt bei Unionsbürgern regelmäßig nur dann vor, wenn ihr Aufenthalt nach einer bereits vorliegenden Entscheidung der dafür allein zuständigen Ausländerbehörde auflösend befristet oder auflösend bedingt ist. Das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern ergibt sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht. Ihr Aufenthalt kann daher nur unter den Voraussetzungen der §§ 5 Abs. 4, 6 und 7 FreizügG/EU wegen des Wegfalls, des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, also nach Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, beendet werden (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 20 m.w.N.).

Diese Voraussetzung eines zukunftsoffenen Aufenthalts erfüllt die Antragstellerin zu 1) nicht, da diesem die wirksame Feststellung über den Verlust ihres Freizügigkeitsrechts im Bundesgebiet entgegensteht.

Sind die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen oder liegen diese nicht vor, kann durch die Ausländerbehörde der Verlust der Freizügigkeitsberechtigung durch Verwaltungsakt festgestellt werden (Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 S. 1 FreizügG/EU). Erst die förmliche Verlustfeststellung begründet nach § 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU die sofortige Ausreisepflicht, wenn nicht Rechtsschutz in Anspruch genommen wird (BSG, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - juris Rn. 55 m.w.N.). Nach der durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 erfolgten Änderung des § 7 FreizügG/EU entsteht die Ausreisepflicht nicht mehr erst dann, wenn die Ausländerbehörde unanfechtbar festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, sondern grundsätzlich bereits mit der bloßen Feststellung des Verlustes (BT-Drucks. 16/5065, S. 211). Somit wirkt auch schon die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung einer Verfestigung des Aufenthalts entgegen bzw. der Aufenthalt kann nicht mehr als verfestigt i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.2016 (BGBl. I S. 3155) angesehen werden (so auch BT-Drucks. 18/10211 S. 14: "Sollte die Ausländerbehörde allerdings feststellen, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ist der Aufenthalt nicht mehr verfestigt"; vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.05.2017 - L 15 AS 62/17 B ER - juris Rn. 12 m.w.N.; Beschluss des Senats vom 06.10.2017 - L 19 AS 1761/17 B ER).

Mit Verfügung vom 31.05.2011 hat die Stadt E den Verlust des Rechts der Antragstellerin zu 1) auf Freizügigkeit nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU (i.d.F. des Gesetzes vom 19.08.2007 - a.F.; seit dem 29.01.2013 § 5 Abs. 4 FreizügG/EU) festgestellt und sie aufgefordert, das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen. Für den Fall, dass sie dieser Ausreisepflicht bis zum 15.07.2011 nicht nachkomme, hat sie die Abschiebung der Antragstellerin zu 1) nach Rumänien angedroht (§ 7 Abs. 1 FreizügG/EU a.F.). Die Stadt E hat die sofortige Vollziehung der Verfügung angeordnet.

Diese Ordnungsverfügung der Stadt E über die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung ist der Antragstellerin zu 1) bekannt gegeben und somit wirksam geworden. Da sie seitdem weder zurückgenommen oder aufgehoben wurde noch sich auf sonstige Weise erledigt hat, ist sie auch weiterhin wirksam (§ 43 Abs. 2 VwVfG NRW). Insofern nimmt der Senat auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses des Sozialgerichts Bezug, § 142 Abs. 2 S. 3 SGG.

Ergänzend weist er darauf hin, dass dieser allgemeine Grundsatz des Verwaltungsverfahrensrechts auch für Verwaltungsakte über die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung gilt. Die Verfügung der Ausländerbehörde der Stadt E vom 31.05.2011 ist bislang weder zurückgenommen, widerrufen noch aufgehoben worden. Sie hat sich auch nicht auf andere Weise - etwa durch eine im erstinstanzlichen Verfahren noch behauptete Aus- und Wiedereinreise - erledigt. Die Freizügigkeitsberechtigung der Antragstellerin zu 1) ist auch nicht von selbst - etwa durch Zeitablauf - "wieder aufgelebt". Eine solche Rechtsfolge findet im Gesetz keine Grundlage. Weder § 5 Abs. 4 FreizügG/EU noch § 7 Abs. 1 FreizügG/EU sehen vor, dass die Verlustfeststellung allein aufgrund einer Änderung der Sach- oder Rechtslage ihre Wirkung verliert. Zwar wird in der Literatur vertreten, dass die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU gegenstandslos werde, wenn der Grund für die Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU (vormals § 5 Abs. 5 FreizügG/EU a.F.) entfalle, weil der Betroffene erneut Freizügigkeit erlangt habe, also wenn ein neues Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU entstanden sei (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 7 FreizügG/EU Rn. 25). Jedoch tritt diese Rechtsfolge auch nach dieser Ansicht nicht von selbst, also allein durch Zeitablauf oder aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage ein. Vielmehr ist die Verlustfeststellung mit ex nunc-Wirkung aufzuheben (Dienelt, a.a.O.), also durch einen entsprechenden, dies feststellenden Verwaltungsakt der zuständigen Behörde und auch nur gerichtet auf die Zukunft. Eine solche Aufhebung der Feststellung über das Nichtbestehen der Freizügigkeit ist erforderlich, weil damit die Freizügigkeitsvermutung wieder auflebt und zugleich für Dritte - etwa Sozialleistungsbehörden - erkennbar wird, dass der Betroffene sich wieder rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Dienelt, a.a.O.).

Hierdurch wird deutlich, dass den Sozialleistungsträgern wie auch den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eine eigenständige Prüfung der materiellen aufenthaltsrechtlichen Lage nach Erlass einer Verlustfeststellung verwehrt ist. Denn den Verwaltungsakten der Ausländerbehörden über die Feststellung des Bestehens wie des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung und der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht verbunden mit einer Abschiebungsandrohung kommt Tatbestandswirkung zu, so dass diese ohne Rücksicht auf ihre materielle Richtigkeit bindende Wirkung entfalten. Dies gilt jedenfalls auf der Grundlage des § 7 Abs. 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.2016 (BGBl. I S. 3155), in dessen S. 4 nun ausdrücklich hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthalts und der Leistungsberechtigung auf den bloßen Erlass einer Verlustfeststellung abgestellt wird (vgl. zur Tatbestandswirkung von Aufenthaltserlaubnissen BSG, Urteil vom 02.12.2014 - B 14 AS 8/13 R - juris Rn. 12 m.w.N., wonach die Leistungsträger nicht zur Überprüfung und ggf. Nichtbeachtung aufenthaltsrechtlicher Statusentscheidungen befugt sind). Hieraus ergibt sich, dass für den Bereich des Rechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende allein der wirksame Erlass einer Verlustfeststellung sowie die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht verbunden mit einer Abschiebungsandrohung zur Folge hat, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet nicht mehr besteht (Beschluss des Senats vom 06.10.2017 - L 19 AS 1761/17 B ER).

Vielmehr wäre, um dies zu beseitigen, gerade die förmliche Rücknahme bzw. Aufhebung durch Verwaltungsakt erforderlich. Dies ist bislang jedoch nicht geschehen.

Eine Beiladung der Stadt Essen als zuständige Trägerin von Leistungen nach dem AsylbLG hatte nicht zu erfolgen. Zwar käme nach den obigen Ausführungen ein Anspruch der Antragsteller nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG in Betracht (vgl. dazu auch Dienelt, a.a.O., Rn. 23). Insofern fehlt es jedoch an einem Anordnungsgrund, da die anwaltlich vertretenen Antragsteller sich bislang nicht an die Stadt Essen gewandt und Leistungen begehrt haben. Ein Antragsteller ist zunächst gehalten, sich an den Leistungsträger unmittelbar zu wenden, bevor er gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nimmt.

Vor diesem Hintergrund lagen auch die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO) weder für das erstinstanzliche noch für das Beschwerdeverfahren vor. Die Rechtsverfolgung bot nach den obigen Ausführungen keine hinreichende Erfolgsaussicht i.S.v. § 114 ZPO.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens gegen eine ablehnende Entscheidung im Prozesskostenhilfeverfahren sind nicht erstattungsfähig, §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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