S 25 KR 531/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
25
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 25 KR 531/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 6/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 14/14 R
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer Silikonfingerprothese (Fingerepithese) nach Amputation des Zeigefingerendgliedes der rechten Hand.

Bei der am 11. Oktober 1966 geborenen, bei der Beklagten krankenversicherten Klägerin besteht ein Zustand nach Verlust des Zeigefingerendgliedes der rechten Hand. Am 2. Februar 2011 beantragte das Sanitätshaus D. AG für die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung des Orthopäden Dr. E. vom 17. Januar 2011 und eines Kostenvoranschlages vom 28. Januar 201 1 die Übernahme der Kosten in Höhe von 3.513,77 EUR für eine Naturalfingerprothese aus Silikon.

Die Beklagte holte ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) in Hessen vom 28. März 2011 ein und lehnte mit förmlichem Bescheid, vom 11. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2011 die Kostenübernahme ab. Zur Begründung ihrer Entscheidung führte sie im Wesentlichen aus, bei der Klägerin bestehe keine medizinische Indikation für eine Versorgung mit einer Fingerepithese, da hierdurch kein Funktionsgewinn zu erreichen sei. Die Greiffähigkeit, die Beweglichkeit der Fingergelenke und auch die weiteren Funktionen (z. B. Halten eines Stiftes) seien durchführbar. Eine eventuelle Druckschmerhaftigkeit am Stumpfende könne durch Verbandsmaterial oder eine Schutzkappe vermindert werden. Nach der Rechtsprechung (Bundessozialgericht )BSG(, Beschluss vom 3. Dezember 2008 - B 3 KR 26/08 B; Hessisches Landessozialgericht )LSG(, Urteil vom 19. Juni 2008 L 8 KR 171/07) bestehe keine Leistungspflicht der Beklagten zur Versorgung mit einer Fingerepithese. Die Grenzen der Leistungspflicht seien überschritten, wenn einer allenfalls geringfügigen Verbesserung des Gebrauchsnutzens ein als unverhältnismäßig einzuschätzender Mehraufwand gegenüberstehe. Aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen seien beim mittelbaren Behinderungsausgleich solche Verbesserungen, die den Behinderungsausgleich auf beruflicher oder gesellschaftlicher Ebene sowie im Freizeitbereich betreffen.

Hiergegen hat die Klägerin am 21. September 2011 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben mit dem Klageziel, die Beklagte zur Kostenübernahme zu verpflichten. Sie trägt vor, sie könne diffizile Griffe im Alltagsleben und in ihrer Freizeit (Modellbau und Bass spielen) nicht mehr ausführen und leide an Schmerzen in der Stumpfspitze beim Greifen von Gegenständen sowie beim Anstoßen an Gegenstände. Mit dem beantragten Hilfsmittel sei ein fester und sicherer Griff möglich. Auch sei sie in ihrem privaten Umfeld und auch während ihrer Berufstätigkeit ständig Blicken anderer Menschen ausgesetzt, weil die Behinderung offensichtlich und für jedermann auf den ersten Blick erkennbar sei.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Bescheid vom 11. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für eine Silikonfingerprothese zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung aus den Gründen des Widerspruchsbescheides für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorher zu hören. Letzteres ist durch Anhörungsschreiben vom 1. November 2012 erfolgt. Die gerichtliche Verfügung wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Empfangsbekenntnis am 13. November 2012 und der Beklagten mit Empfangsbekenntnis am 19. November 2012 zugestellt.

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, Sie ist jedoch sachlich nicht begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 11. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2011 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kostenübernahme für eine Naturalfingerprothese aus Silikon als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung. Dies ist von der Beklagten im Widerspruchsbescheid zutreffend ausgeführt worden. Die Kammer schließt sich diesen Ausführungen an und sieht insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen von einer Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 136 Abs. 3 SGG ab.

Das Klagevorbringen führt zu keiner anderen Beurteilung.

Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der, Krankenbehandlung zu sichern (1. Variante), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Variante) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Variante), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der 3. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, wenn es erforderlich ist, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts (BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 20/04 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 8 =BSGE 93, 183 - C-leg-Prothese Il).

Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen (sogenannter mittelbarer Behinderungsausgleich). Im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs ist die gesetzliche Krankenversicherung allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 5 Nr. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 - B 3 KR 10/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 23 m.w.N.). Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung daher nur dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 7 = BSGE 93, 176; BSG, Urteil vom 26. März 2003 - B 3 KR 23/02 R-SozR 4-2500 § 33 Nr. 3 = BSGE 91, 60 m.w.N.) gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Zum Grundbedürfnis zur Erschließung eines geistigen Freiraums gehören u. a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 und 46). Aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind beim mittelbaren Behinderungsausgleich demgemäß solche Verbesserungen, die den Behinderungsausgleich auf beruflicher oder gesellschaftlicher Ebene sowie im Freizeitbereich betreffen (BSG, Urteil vom 3. November 1999 - B 3 KR 3/99 - SozR 3-2500 § 33 Nr. 34 - Mikroportanlage).

Begrenzt sind die Leistungen nach § 33 SGB V allerdings durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V. Die Leistungen müssen danach ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die- Krankenkassen nicht bewilligen. Demzufolge verpflichtet auch § 33 SGB V nicht dazu, den Versicherten jede gewünschte, von ihnen für optimal gehaltene Versorgung zur Verfügung zu stellen, Ausgeschlossen ist danach auch bei einem unmittelbaren Behindertenausgleich ein Anspruch auf eine Optimalversorgung. Demgemäß haben die Krankenkassen nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 - B 3 KR 10/08 R- SozR 4-2500 § 33 Nr. 23 m.w.N.).

Nach diesen Grundsätzen ist die angefochtene Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden. Der MDK führt in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 5. April 2011 überzeugend aus, dass mit der beantragten Fingerepithese kein wesentlicher Funktionsgewinn zu erzielen sei. Ein sicheres Greifen, Zupacken oder Festhalten von Gegenständen und eine verbesserte Feinmotorik seien damit nicht erreichbar. Die Epithese sei funktionell weitgehend unbedeutend. Stattdessen stehe der kosmetische Ausgleich im Vordergrund. Diese Beurteilung wird durch das Vorbringen der Klägerin bestätigt, das auf einen speziellen Funktionsausgleich im Freizeitbereich (Bass spielen, Modellbau) sowie auf einen optischen Aspekt bei der Berufsausübung abstellt. Dies fällt jedoch nicht in den Bereich der medizinischen Rehabilitation, für die allein eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Die von der Klägerin begehrte Optimalversorgung ist medizinisch nicht notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved