S 21 KR 3101/03

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 21 KR 3101/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 40/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.05.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2003 verurteilt, die Klägerin mit einem Therapiefahrrad des Typs "Kettenwiesel" zu versorgen.

Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung der Klägerin mit einem Therapiefahrrad streitig.

Die 1974 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet seit früher Kindheit an einer spastischen Spinalparalyse mit Paraplegie, womit u. a. eine ataktische Gangstörung verbunden ist. Die Klägerin ist berufstätig als Angestellte. Zum Gehen ist sie auf die Benutzung eines Rollators angewiesen, den sie auch an ihrer Arbeitsstelle benutzt. Vom 19.03. bis. 30.04.2003 war die Klägerin zu einer stationären Rehabehandlung in der Klinik für Orthopädie, Neurologie Kiliani-Klinik. Dort wurde ihr mit Hilfsmittelverordnung vom 29.04.2003 durch die behandelnden Ärzte ein Therapiefahrrad verordnet. Die Klägerin holte einen Kostenvoranschlag der C. Orthopädie-Technik GmbH, C-Stadt vom 19.05.2003 ein demzufolge ein Therapiedreirad des Typs Stella der Firma D. in Dreiradausführung mit 5-Gang-Schaltung und Fußfixierung einschließlich Mehrwertsteuer Euro 2.287,72 koste. Diese Unterlagen reichte die Klägerin bei der Beklagten am 19.05.2003 ein. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22.05.2003 die Kostenübernahme für die Versorgung für ein Behindertenfahrrad mit der Begründung ab, ein Fahrrad stelle einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar und könne deshalb lediglich für Kinder und Jugendliche bis Vollendung des 18. Lebensjahres im Einzelfall als Hilfsmittel gewährt werden. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos. Im Widerspruchsbescheid vom 01.08.2003 führte die Beklagte aus, das beantragte Therapiefahrrad sei nicht erforderlich, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Hierfür seien Maßnahmen der Krankengymnastik, Ergotherapie angezeigt und kostengünstiger. Radfahren gehöre auch nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichtes nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, zu deren Erfüllung die gesetzliche Krankenversicherung eintreten müsse.

Die Klägerin hat am 25.08.2003 Klage erhoben und im Laufe des Klageverfahrens ein Attest des Arztes Dr. E. vom 24.11.2003 vorgelegt, in dem ausgeführt wird, im Falle der Klägerin sei ein Therapiefahrrad induziert, um die Bewegungsfähigkeit zu verbessern sowie zum Training des Koordinierungsvermögens. Die Klägerin könne sich mit Hilfe eines Rollators nur ca. 30 Minuten in der Ebene fortbewegen. Weiter legte die Klägerin eine Verordnung des Dr. E. vom 07.07.2005 für ein Therapiefahrrad wegen Paraspastik vor. Dieser Arzt erläuterte in einem Attest vom 07.07.2005 seine Verordnung und konkretisierte dieser dahingehend, dass für die Klägerin ein Therapiefahrrad des Typs "Kettwiesel" am besten geeignet sei, weil dieses Modell über einen niedrigen Einstieg und eine halb liegende Sitzposition verfüge und angesichts der niedrigen Sitzposition das Verletzungsrisiko beim Fallen erheblich verringert sei. Auch könne die Klägerin nach Lösen der Fixierung an den Fußrasten ihre eigene Beine zum Abstützen auf dem Boden und zur Stabilisierung des Gleichgewichtes einsetzen. Das Modell Kettwiesel sei zudem wesentlich kostengünstiger als ein herkömmliches Therapiefahrrad. Hierzu legte die Klägerin noch einen Kostenvoranschlag der Firma F., Liege-Touren-und Spezialräder, B Stadt vom 07.07.2005 vor, demzufolge ein Therapiedreirad Hase-Kettwiesel incl. Lichtanlage, Pedale mit Hacken und Riemen, Kopfstützen, Rückspiegeln und Gepäcktasche insgesamt zu einem Endpreis von Euro 2.795,00 geliefert werden könne. Ein weiteres von der Klägerin eingeholtes Angebot für ein Therapiedreirad des Typs "Relax", erstellt von der Firma G. GmbH, G-Stadt vom 25.05.2005 benennt einen Endpreis von Euro 5.096,34. Die Beklagte hat ein von dem beim MDK tätigen Facharzt für Orthopädie und Rehawesen Dr. H. erstelltes Gutachten nach Aktenlage vom 26.01.2006 vorgelegt. Darin wird ausführt, es sei medizinisch nicht sinnvoll krankengymnastische Übungsbehandlungen sowie Maßnahmen des Rehasports durch die Nutzung eines Therapiedreirades zu ersetzen. Physiotherapeuten könnten auf den aktuellen Funktionsstatus besser eingehen und individuelle Übungsbehandlungen durchführen. Auch sei die physiomotorische Entwicklung bei der erwachsenen Klägerin abgeschlossen.

Die Klägerin verweist auf die vorliegenden ärztlichen Verordnungen für ein Therapiefahrrad und trägt vor, sie habe bereits für 3 Tage das Model Kettenwiesel zum Ausprobieren gehabt und sei gut damit zurecht gekommen, wobei es ihr möglich gewesen sei, Strecken von ca. 3 km Länge damit zu fahren. Sie mache weiter regelmäßig Krankengymnastik, könne aber von ihrer erfahrenen Krankengymnastin nur einen Termin pro Woche bekommen. Deshalb mache sie auch zusätzlich eine medizinische Trainingstherapie auf eigene Kosten, bei der u. a. Krankengymnastik an Geräten durchgeführt werde.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.05.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2003 zu verurteilen, sie mit einem Therapiedreirad laut ärztlicher Verordnung vom 07.07.2005 zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf ihre Darlegungen in den Widerspruchsbescheid und das Gutachten des Dr. H. vom MDK.

Das Gericht hat die zur Klägerin geführte Verwaltungsakte beigezogen und die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung persönlich gehört. Diesbezüglich wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch sachlich begründet. Die Klägerin hat einen Rechtsanspruch auf Versorgung mit einem Therapiedreirad. Dieser ergibt sich aus den §§ 33, 34 SGB V. Entgegen den Ausführungen der Beklagten ist ein behindertengerechtes Fahrrad nicht generell als Hilfsmittel ausgeschlossen. Dies hat das Hessische Landessozialgericht in einem vergleichbaren Fall in seinem Urteil vom 20.07.2006 (L 8/14 KR 376/04), das den Beteiligten vorliegt, ausführlich und überzeugend dargelegt. Die Kammer macht sich diese Ausführungen zu Eigen und zitiert diese im Folgenden wörtlich:

"Ob eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht, ist vielmehr nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 23. Juli 2002, B 3 KR 3/02 R), der sich der Senat anschließt, für jeden Einzelfall nach den gesetzlichen Vorgaben der §§ 33, 34 SGB V zu prüfen. Danach fällt die Ermöglichung des Fahrradfahrens für einen behinderten Menschen, der ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen kann, nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt allein die medizinische Rehabilitation (Reha) und damit die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Reha, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Die Einführung des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" hat daran nichts geändert. Daraus folgt, dass die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fällt, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigt oder mildert und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betrifft (vgl. dazu Urteil des Senats vom 6. August 1998 -B 3 KR 3/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 29; SozR 3-2500 § 33 Nr. 5, 27 und 32 sowie zuvor bereits: SozR 2200 § 182b Nr. 12, 30, 34, 37 jeweils m. w. N.).

Nach dieser Rechtsprechung des BSG gehören zu derartigen Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (siehe BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 m. w. N.). Die elementare "Bewegungsfreiheit" ist als Grundbedürfnis anzusehen (SozR 3-2500 § 33 Nr. 7 -Rollstuhlboy). Dieses Grundbedürfnis wird bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens etc. sichergestellt. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius des Versicherten in diesem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Das behindertengerechte Fahrzeug ist nicht notwendig i. S. von § 33 Abs. 1 SGB V, wenn es dem Behinderten einen größeren Bewegungsradius als den eines gesunden Fußgängers ermöglichen soll. Nur wenn durch das Fahrzeug ein weiter gehendes Grundbedürfnis gedeckt wird, kann es ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sein."

Nach dem glaubhaften Vorbringen der Klägerin, insbesondere auch im Termin zur mündlichen Verhandlung, benötigt diese für das Gehen einen Rollator, kann damit im ebenerdigen Terrain jedoch nur eine Gehstrecke bewältigen, die unter 1 km liegt. Dies steht wiederum in Einklang mit den Angaben des Dr. E. in dessen Attest vom 24.11.2003, demzufolge die Klägerin wegen ihrer ataktischen Gangform sich allenfalls 30 Minuten in der Ebene mit Hilfe eines Rollators fortbewegen könne. Dass das Gehvermögen auch mittels dieses Hilfsmittels auch nur unter 1 km liegt, ist angesichts der schweren Behinderungen der Klägerin vollauf nachvollziehbar. Sie leidet an einer beidseitigen Paraspastik der Beine, wobei die Sehnen und Muskeln wegen dieser Spastik verkürzt sind und deshalb die Beinmuskulatur nur sehr bedingt belastbar ist. Mit Hilfe des beantragten Therapiedreirades wird es der Klägerin ermöglicht, ihre Gehfähigkeit außerhalb des häuslichen Bereiches deutlich auszuweiten und zwar nach den nachvollziehbaren und glaubhaften und mit den ärztlichen Befunden in Einklang stehenden Angaben der Klägerin, auf eine Distanz von ca. bis zu 3 km. Diese Wegstrecke wird, wie das Hessische Landessozialgericht in seinem zitierten Urteil vom 20.07.2006 dargetan hat, üblicherweise von einem Gesunden zu Fuß zurückgelegt. Damit ermöglicht es das von der Klägerin begehrte Hilfsmittel eines Therapiedreirades, das Grundbedürfnis auf einen gewissen körperlichen Freiraum und auf selbstständiges Leben abzudecken. Die in dem aktenmäßigen Gutachten des Dr. H. vertretene Auffassung, der Klägerin könne mittels krankengymnastische Übungsbehandlung sowie Maßnahmen des Rehasportes besser geholfen werden als mit einer Therapiefahrrad, ist schon aus Rechtsgründen nicht erheblich, da hierbei nicht berücksichtigt wird, dass es der Klägerin mittels der Nutzung eines ihrer Behinderung entsprechenden Fahrrades ermöglicht wird, dass Grundbedürfnis nach hinreichender körperlicher Mobilität zu befriedigen. Zum anderen hat die Klägerin für das Gericht im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung nachvollziehbar und glaubhaft dargelegt, dass sie regelmäßig Krankengymnastik in Anspruch nehme und darüber hinaus in eigener Initiative und auf eigene Kosten Krankengymnastik an Geräten durchführe. Das Gericht sieht keinen Anhaltspunkt dafür, dass bei Bereitstellung eines Therapiefahrrades diese sinnvollen therapeutischen Behandlungsmaßnahmen aufgegeben oder eingeschränkt werden.

Der dem Grunde nach bestehende Rechtsanspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem Hilfsmittel der Kategorie Therapiefahrrad ist in ihrem Falle anhand der nachvollziehbar und überzeugenden Verordnung des Dr. E. vom 07.07.2005 auf ein Therapiefahrrad des Typs Kettwiesel zu konkretisieren. Dr. E. hat für das Gericht voll nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, warum gerade dieses Model, dass zudem eher zu den preiswerten Varianten der auf dem Hilfsmittelmarkt angebotenen Varianten von Therapiedreirädern gehört, besonders geeignet ist. Dies hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung für das Gericht nachvollziehbar untermauert mit der Schilderung ihrer Erfahrungen bei einer 3-tägigen probeweisen Überlassung eines Therapierades des Typs Kettwiesel.

Es war daher zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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