L 6 AS 109/18 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 8 AS 191/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 109/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Regelung eines Verwaltungsakts ergibt sich aus seinem Verfügungssatz.

2. Die Begründung kann dann nur zur Auslegung des Verfügungssatzes herangezogen werden, nicht zu einer von seinem Wortlaut abweichenden Veränderung der Regelungsrichtung.

3. Eine bloß vorläufige Leistungsbewilligung muss bereits im Verfügungssatz geregelt sein. Der explizit als endgültige Leistungsbewilligung formulierte Verfügungssatz ist eine Auslegung anhand der Begründung des Verwaltungsakts nicht zugänglich.

4. Sind die Voraussetzungen für eine endgültige Leistungsbewilligung noch nicht gegeben und daher eine vorläufige Leistungsbewilligung zutreffend, ist ein endgültiger Verwaltungsakt von vornherein rechtswidrig (Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses).
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 17. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. ab dem 15. März 2018 bewilligt.

Gründe:

Die gem. § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Beschwerde des Antragsgegners, mit der sinngemäß beantragt wird,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 17. Januar 2018 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage S 8 AS 651/17 vor dem Sozialgericht Kassel gegen den Aufhebungsbescheid vom 28. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 6. November 2017 und den Bescheid vom 9. November 2017 abzulehnen,

ist zulässig, aber nicht begründet.

Das Sozialgericht Kassel hat in seinem Beschluss vom 17. Januar 2018 zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage S 8 AS 651/17 angeordnet.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht in Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Dies gilt insbesondere dann, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen (Wahrendorf, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl., 2014, § 86b Rn. 104).

Die Klage S 8 AS 651/17 vor dem Sozialgericht Kassel gegen den Aufhebungsbescheid vom 28. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 6. November 2017 und des Bescheides vom 9. November 2017 hatte gem. § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) nicht schon von sich aus aufschiebende Wirkung. Es handelt sich bei den streitgegenständlichen Verwaltungsakten um Bescheide, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben.

Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheids vom 28. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchbescheides vom 6. November 2017 und des Bescheides vom 9. November 2017.

Eine Aufhebung des Bescheids vom 10. Februar 2017 und des Änderungsbescheides vom 21. März 2017 für die Zeit vom 1. März 2017 bis zum 28. Februar 2018 gem. § 41a SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) kam nicht in Betracht. Der Antragsgegner konnte nicht gem. § 41a Abs. 3 SGB II endgültig entscheiden, weil es sich bei den Bewilligungsbescheiden bereits nicht um eine vorläufige Bewilligung gehandelt hatte.

Der jeweilige Verfügungssatz der Bescheide enthält gerade keinen Hinweis auf die bloß vorläufige Leistungsbewilligung. Die Vorläufigkeit wird erst in dem Bereich des Verwaltungsakts benannt, der mit "Begründung" bzw. "Sonstige Gründe" überschrieben ist. Der Verfügungssatz enthält daher nach seinem Wortlaut eindeutig eine endgültige Leistungsbewilligung.

Die Regelung eines Verwaltungsakts ergibt sich aus seinem Verfügungssatz. Zwar müssen Verwaltungsakte – anders als bspw. Urteile – nicht so aufgebaut sein, dass klar zwischen einem Verfügungssatz (bzw. Tenor) und seiner Begründung getrennt wird (Mutschler, in: Kasseler Kommentar, SGB X, 97. EL 12/2017, § 31 Rn. 21). Andererseits ist dies bei den hier gegenständlichen Verwaltungsakten gerade geschehen.

Die Begründung kann dann nur zur Auslegung des Verfügungssatzes herangezogen werden, nicht zu einer von seinem Wortlaut abweichenden Veränderung der Regelungsrichtung (vgl. Littmann, in: Hauck/Noftz, SGB, 12/11, § 31 SGB X, Rn. 35). Der Wortlaut des Verfügungssatzes des Bescheids vom 10. Februar 2017 ist jedoch einer Auslegung nicht zugänglich, weil er bereits aus sich heraus eindeutig ist (" bewillige ich folgende Leistungen:"). Um einer Auslegung zugänglich zu sein, hätte er bspw. das Wort "vorläufig" enthalten müssen; dann hätte die Begründung die Vorläufigkeit näher erläutern können. Das gilt auch für den Änderungsbescheid vom 21. März 2017, dessen Verfügungssatz lautet: "Leistungen werden bewilligt".

Eine restriktive Betrachtung ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten auch geboten, weil im Gegensatz zu einem endgültigen Verwaltungsakt der nach seiner Bestandskraft nur unter den Bedingungen der §§ 44 ff. SGB X aufhebbar ist, bei vorläufigen Bescheiden einem Vertrauen des Bürgers in den Bestand der Regelung kaum ein Raum verbleibt. Im Gegensatz zu der von dem Antragsgegner geäußerten Auffassung stehen dieser restriktiven Betrachtung auch nicht die Erfordernisse einer Massenverwaltung entgegen. Gerade in derart formalisierten Kontexten lässt es die moderne Datenverarbeitung leicht zu, verwendete Textbausteine des Verfügungssatzes und der Begründung dergestalt miteinander zu verknüpfen, dass eine inhaltliche Übereinstimmung hergestellt und Widersprüche vermieden werden.

Der Rechtsauffassung der Antragsgegners ist zwar zuzugeben, dass auch Teile der Begründung regelnden Charakter haben können, bspw. wenn sie Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt o.ä. enthalten. Diese Ausnahme betrifft aber einen anderen Fall als den hier vorliegenden, denn bei den gegenständlichen Bescheiden würde eine mögliche Regelung in den Gründen ("Vorläufigkeit") der Regelung im Verfügungssatz ("endgültige Bewilligung") widersprechen.

Letztlich verbleibt es daher bei der allgemeinen Regel, dass sich die Regelung eines Verwaltungsakts aus dem erklärten Willen der Behörde, der sich vor dem Hintergrund des Empfängerhorizonts bemisst, ergibt. Unklarheiten – oder wie hier gar mögliche Widersprüche – gehen zu Lasten der erklärenden Behörde, weil sie es in der Hand hat, ihre Vorstellungen und Absichten unmissverständlich auszudrücken (BSG, Urteil vom 11. Juni 1987 - 7 RAr 105/85 Rn. 23; Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 32 SGB X, Rn. 12 f.).

Eine Aufhebung der ursprünglichen Bewilligungsbescheide konnte auch nicht gem. § 48 Abs. 1 SGB X erfolgen. Eine erhebliche Änderung der Verhältnisse ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Ferner konnte sich die Aufhebung der Bewilligungsbescheide nicht auf § 45 Abs. 1 SGB X stützen.

Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er gem. § 45 Abs. 1 SGB X, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Die Bewilligungsbescheide sind – wie oben dargestellt als endgültige Leistungsbewilligung verstanden – rechtswidrig. Da auch nach Auffassung des Antragsgegners die Voraussetzungen für eine endgültige Leistungsbewilligung noch nicht vorlagen und daher eine vorläufige Leistungsbewilligung zutreffend gewesen wäre, waren die endgültigen Bescheide von vornherein rechtswidrig (BSG Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 6/12 R Rn. 18; Formann, SGb 2016, 615 "Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses"). Die Vorläufigkeit war – nach Auffassung des Antragsgegners selbst – geboten, weil die Höhe des anzurechnenden Erwerbseinkommens und der Nebenkosten zum Zeitpunkt der Leistungsbewilligung noch nicht feststand. Insoweit käme eine Aufhebung dann auch nur nach § 45 SGB X in Betracht, dessen Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen dürften.

Gem. § 45 Absatz 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist gem. Abs. 2 Satz 2 in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Gem. Absatz 2 Satz 3 kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit

1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat.

2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder

3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Es ist aber nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen, dass eine dieser Voraussetzungen zur Überwindung des Vertrauensschutzes des Leistungsberechtigten erfüllt wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Aus den oben genannten Gründen war der Antragstellerin auch Prozesskostenhilfe ab Antragstellung für die Beschwerdeinstanz zu gewähren. Gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ist einem Beteiligten auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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