S 2 AS 839/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 2 AS 839/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 415/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 286/17 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 9.2.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.5.2011, die bisher darlehensweise bewilligte Erstausstattung an Wohnungseinrichtung und Kleidung als Beihilfe zu gewähren.

2. Der Beklagte hat die zur Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zu tragen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Bewilligung einer Erstausstattung für seine Wohnung einschließlich der Haushaltsgeräte – und seiner Bekleidung als Beihilfe statt als Darlehen.

Der Kläger erhielt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom Beklagten; seit dem 1.2.2016 bezieht er Leistungen nach dem SGB XII. Der prozessbevollmächtigte Anwalt ist gleichzeitig auch Betreuer des Klägers (Betreuerausweis vom 17.6.2008).

Aus der Verwaltungsakte geht hervor, dass der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 2.2.2011 (Bl. 390 Verw.akte Bd. II) an einen Antrag auf Erstausstattung vom 30.12.2010 erinnerte. Die Wohnung des Klägers werde zur Zeit komplett saniert. Sobald die Arbeiten abgeschlossen seien, werde der Kläger wieder in die Wohnung zurückkehren. Dann würden weder Kleidung noch sonstige Einrichtungsgegenstände vorhanden sein. Es werde nochmals um kurzfristige Entscheidung gebeten. Ein Antrag vom 30.12.2010 liegt in der Verwaltungsakte nicht vor.

Bereits zuvor (Anzeige vom 9.8.2010, Bl. 360 Verw.akte) hatte der Bevollmächtigte eine Kostenübernahme für die Beauftragung eines Kammerjägers beantragt – diesen Antrag lehnte der Beklagte unter Hinweis auf die Zuständigkeit der Stadt A-Stadt ab (Bescheid vom 13.8.2010).

Die Wohnung des Klägers war von einem Wanzenbefall betroffen.

Der Beklagte lehnte auch den Antrag auf Erstausstattung mit Bescheid vom 9.2.2011 (Bl. 393 Verw.akte Bd. II) ab und erklärte, es könne lediglich eine darlehensweise Gewährung nach § 23 Absatz 1 SGB II geprüft werden. In diesem Fall sei ein Darlehensantrag zu stellen mit einer Auflistung aller Dinge, die benötigt würden.

Mit Schreiben vom 14.2.2011 legte der Bevollmächtigte des Klägers Widerspruch gegen den Bescheid vom 9.2.2011 ein und beantragte nachfolgend – zur Behebung der akuten Notsituation – die Gewährung eines Darlehens für die Anschaffung von Möbeln und Bekleidung. Mit bei Gericht am gleichen Tag (14.2.2011) eingegangenem Schriftsatz stellte der Kläger einen Eilantrag, der durch gerichtlichen Beschluss vom 15.3.2011 nach der Darlehensgewährung abgelehnt wurde (dazu Az S 2 AS 254/11 ER).

Mit Bescheid vom 25.2.2011 bewilligte der Beklagte ein Darlehen nach § 23 Absatz 1 SGB II in Höhe von 980,- EUR für Kleidung und Möbel (Bl. 421 Verw.akte) und erklärte die monatliche Tilgung dieses Darlehens mit 30,- EUR. Mit Bescheid vom gleichen Tag lehnte der Beklagte die Kostenübernahme für eine Spüle, Herd, Kühlschrank und Stühle ab mit der Begründung, diese seien nach einer gründlichen Reinigung noch nutzbar. Gegen beide Bescheide legte der Kläger Widerspruch ein.

Der Kammerjäger bestätigte mit Schreiben vom 16.3.2011, dass sämtliche Möbelstücke – auch die in der Küche – nicht mehr nutzbar waren (Bl. 426 Verw.akte).

Mit Bescheid vom 5.4.2011 gewährte der Beklagte ein weiteres Darlehen für die Anschaffung von Herd, Spüle und Kühlschrank (Bl. 431 Verw.akte)

Den Widerspruch des Klägers gegen die Ablehnung einer Erstausstattung für Möbel und Kleidung als Zuschuss wies der Beklagte mit Bescheid vom 24.5.2011 als unbegründet zurück (Bl. 461 Verw.akte). Die Verwanzung der Wohnung hätte bei frühzeitigem Einschalten des Kammerjägers verhindert werden können. Der Bedarf sei daher nicht unvorhersehbar gewesen.

Mit bei Gericht am 16.6.2011 eingegangenem Schriftsatz hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt im Wesentlichen vor, die Wohnung sei von Ungeziefer befallen gewesen. Um das Ungeziefer vollständig aus der Wohnung zu entfernen, sei die Entsorgung des vollständigen Hausrates einschließlich aller Möbelstücke und Elektrogeräte erforderlich gewesen. Eine Erstausstattung sei auch in Fällen zu gewähren, in welchen ein Totalverlust der bisher vorhandenen Einrichtung vorliege. Der Sachverhalt sei vergleichbar mit einem Brand.

Der Bevollmächtigte legte dem Gericht eine Bescheinigung des Vermieters vom 5.4.2011 vor (Bl. 42 Gerichtsakte) worin dieser erklärt, nach Sanierung der Wohnung sei diese am 4.3.2011 wieder an den Mieter übergeben worden. Die Schädlingsbekämpfung, einschließlich der ordnungsgemäßen Entsorgung des kompletten von Schädlingen befallenen Hausrates habe 5950,- EUR gekostet.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 9.2.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.5.2011, die bisher darlehensweise bewilligte Erstausstattung an Wohnungseinrichtung und Kleidung als Beihilfe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsakten (Band 1-3) und der beigezogenen Gerichtsakte zum Verfahren S 2 AS 254/11 ER.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Der Kläger begehrt die Umwandlung einer bereits erbrachten Darlehensleistung in eine solche als Zuschuss. Es ist darüber zu entscheiden, ob die zugebilligten Darlehensleistungen für die Anschaffung von Möbeln und Haushaltsgeräten, sowie für die Bekleidung als Zuschuss hätten gewährt werden müssen.

Der angefochtene Ablehnungsbescheid vom 9.2.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig – der Kläger hat einen Anspruch auf die zuschussweise Bewilligung einer Wohnungserstausstattung und einer Bekleidungserstausstattung.

Auf der Grundlage des § 24 Absatz 3 SGB II (in der ab 1.1.2011 geltenden Fassung, vorher § 23 Absatz 3 SGB II) sind vom Regelbedarf nicht nach § 20 umfasst Bedarfe für
1. Erstausstattungen für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten,
2. Erstausstattungen für Bekleidung ( ...)
Leistungen für diese Bedarfe werden gesondert erbracht. ( ...)

Grundsätzlich liegt der Sachverhalt einer Wohnungserstausstattung vor, wenn ein Bedarf für die Ausstattung einer Wohnung besteht, der nicht bereits durch vorhandene Möbel und andere Einrichtungsgegenstände gedeckt ist. Eine "Wohnungserstausstattung" kann aber auch bei einem erneuten Bedarf nach einer Erstbeschaffung von Einrichtungsgegenständen vor oder während des SGB II-Bezugs in Betracht kommen. So ist davon auszugehen, dass "Erstausstattungen" für die Wohnung beispielsweise auch nach einem Wohnungsbrand oder bei Erstanmietung nach einer Haft zu bewilligen sein können und damit auch in Fallgestaltungen eines erneuten Bedarfsanfalls möglich sind (BSG Urteil vom 6.8.2014, B 4 AS 57/13 R und vom 1.7.2009, B 4 AS 77/08 R mit weiteren Nachweisen). Die erneute Beschaffung von Einrichtungsgegenständen als "Wohnungserstausstattung" durch einen Zuschuss des Leistungsträgers ist nur unter engen Voraussetzungen möglich:
(1) Der konkrete Bedarf ist durch außergewöhnliche Umstände bzw. ein besonderes Ereignis entstanden,
(2) ein "spezieller Bedarf" liegt vor und
(3) ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Umständen/dem besonderen Ereignis und dem Bedarf ist gegeben (BSG Urteil vom 6.8.2014, aaO).

Das Erfordernis außergewöhnlicher Umstände bzw. eines besonderen Ereignisses folgt aus der Systematik der §§ 20 ff SGB II unter Berücksichtigung der nach dem Sinn und Zweck der Regelungen gebotenen bedarfsbezogenen Betrachtungsweise. Bedarfe für wohnraumbezogene Gegenstände können Erstausstattungsbedarfe, aber auch Teil der Regelbedarfe sein. Insofern geht der Gesetzgeber nach dem Wortlaut des § 24 bzw. vormals 23 Absatz 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II im Sinne einer typisierenden Betrachtung davon aus, dass alle wohnraumbezogenen Bedarfe, die nicht im Zusammenhang mit der spezifischen Situation der Erstausstattung stehen, nicht von diesem Anspruch, sondern bereits von der Regelleistung "umfasst" werden. Waren vor Eintritt des Bedarfs an Einrichtungsgegenständen die notwendigen Gegenstände in der Wohnung vorhanden, soll deren Ersetzung bei erneutem Bedarf aus der Regelleistung erfolgen. In der Regelleistung ist als Rechenposten ein pauschaler, den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen widerspiegelnder Einzelbetrag für Möbel und Einrichtungsgegenstände, Haushaltsgeräte und Instandhaltungskosten enthalten. Nach der gesetzgeberischen Konzeption wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass aktuelle wohnraumbezogene Bedarfe aus diesem in der Regelleistung enthaltenen Ansparanteil oder durch die Gewährung eines Darlehens - wie hier geschehen - zu decken sind.

Hieraus folgt, dass ein infolge des allgemein üblichen Abnutzungs- und Verschleißprozesses nach und nach entstandener Bedarf - auch wenn hierbei personenbezogene Faktoren, etwa eine mangelnde Sorgfalt oder ein besonders intensiver Gebrauch bestimmter Einrichtungsgegenstände mitgewirkt haben sollten - durch den Regelbedarf oder durch ein Darlehen zu decken ist.

Eine Erstausstattung im Sinne einer Wiederbeschaffung erfordert in Abgrenzung dazu "von außen" einwirkende außergewöhnliche Umstände bzw. besondere Ereignisse, die zu der Entstehung des Bedarfs geführt haben. Soweit sie nicht mit Veränderungen der Wohnung bzw. der Wohnsituation einhergehen, müssen diese Umstände bzw. diese Ereignisse regelmäßig geeignet sein, den plötzlichen "Untergang" bzw. die Unbrauchbarkeit der Wohnungsausstattung unabhängig von sonstigen allgemeinen Gründen für den Verschleiß oder den Untergang der Gegenstände herbeizuführen.

Ausgehend von diesen Vorgaben ist festzustellen, dass der Kläger eine Wohnungseinrichtung hatte und dass diese durch einen massiven Ungezieferbefall untergegangen bzw. unbrauchbar geworden ist. Der Bedarf für eine Erstausstattung liegt somit vor. Zur Überzeugung des Gerichtes ist der Befall der gesamten Wohnung des Klägers durch Ungeziefer ein "von außen" einwirkendes außergewöhnliches Ereignis, so dass auch die Voraussetzungen für eine erneute Erstausstattung gegeben sind.

Der so festgestellte Anspruch scheitert auch nicht an einem möglichen Mitverschulden des Klägers (bzw. seines Betreuers) im Zusammenhang mit dem Verlust der Wohnungseinrichtung. Aus § 2 SGB II folgt, dass Hilfebedürftige in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen haben, um ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln zu bestreiten. Auch dürfen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 3 Absatz 3 SGB II nur erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann. Diese Vorschriften regeln indes keine eigenständigen Ausschlusstatbestände; es handelt sich vielmehr um Grundsatznormen, die durch die Regelungen insbesondere über den Einsatz von Einkommen und Vermögen bzw. sonstige leistungshindernde Normen konkretisiert werden und regelmäßig nur im Zusammenhang mit ihnen Wirkung entfalten. Nicht zulässig ist es daher einen Anspruch allgemein wegen eines fahrlässigen Verhaltens in der Verfolgung eigener Belange in der Vergangenheit oder bloßen Mutmaßungen abzulehnen (so auch BSG, Urteil vom 27.9.2011, B 4 AS 202/10 R mit weiteren Nachweisen). Die Einwände des Beklagten, der starke Wanzenbefall sei vorhersehbar gewesen und hätte bei frühzeitigem Einschalten eines Kammerjägers verhindert werden können, bleiben somit bei der Anspruchsprüfung unbeachtet.

Nach alledem hätte dem Kläger die (bereits erbrachte) Wohnungserstausstattung als Zuschuss gewährt werden müssen – gleiches gilt für die Bekleidungserstausstattung nach § 24 Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II; die Klage war somit insgesamt erfolgreich.

Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved