L 7 P 66/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 117/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 66/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 12/04 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 09. Oktober 2001 wird der Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 2000 vollständig aufgehoben.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01.03.2001 streitig.

Die 1991 geborene Klägerin leidet an Mukoviszidose. Auf ihren Antrag hin vom 10.02.1995 wurde sie am 07.04.1995 von der Ärztin für Innere Medizin Z. des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Bayern (MDK) untersucht. Diese stellte in ihrem Gutachten vom 24.04.1995 sowohl im Bereich der Körperpflege, der Ernährung als auch der Mobilität jeweils einen altersentsprechenden Hilfebedarf fest. Bezüglich der hauswirtschaftlichen Versorgung stellte sie einen Mehraufwand von 60 Minuten täglich fest. Weiterhin vertrat sie die Auffassung, dass die Atemgymnastik und Vibrationsmassage zeitlich täglich mit ca. 60 bis 90 Minuten in Ansatz zu bringen sei. Bezüglich der zweimal täglich erforderlichen Inhalation sei lediglich eine Aufforderung und gewisse Kontrolle, jedoch keine aktive Pflege durch die Mutter der Klägerin erforderlich. Das Reinigen des Inhaliergerätes und der Atemmaske bewertete sie mit einem Zeitaufwand von ca. 20 bis 30 Minuten täglich. Die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien gegeben. Dementsprechend bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 23.05.1995 Pflegegeld nach Pflegestufe I.

Den dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Pflegestufe II begehrt wurde, wies die Beklagte nach Einholung eines weiteren Gutachtens des MDK vom 20.11.1995 mit Widerspruchsbescheid vom 29.02.1996 als unbegründet zurück.

Am 26.10.1999 leitete die Beklagte ein Nachprüfungsverfahren ein und holte dazu ein weiteres Gutachten des MDK ein. Im Gutachten vom 20.01.2000 wurde festgestellt, dass anstelle der damaligen Vibrationsmassagen nunmehr eine sekretolytische Krankengymnastik unter Anleitung der Mutter der Klägerin durchgeführt werde. Im Bereich der Ernährung sei im Vergleich zu einem gesunden Kind ein erhöhter Hilfebedarf anzuerkennen. Bei allen übrigen Verrichtungen des täglichen Lebens bestehe kein erhöhter Hilfebedarf. Der ermittelte Pflegeumfang von täglich 9 Minuten (nach Abzug des Zeitbedarfs für ein gesundes Kind) und der berücksichtigungsfähige Zeitaufwand für die sekretolytische Gymnastik (einmal täglich 20 Minuten, am Wochenende zweimal täglich) ergebe einen pflegerelevanten Mehraufwand von 35 Minuten täglich und dieser würde somit nicht die Zuordnung zu einer Pflegestufe rechtfertigen. Nach erfolgter Anhörung stellte die Beklagte mit Bescheid vom 14.02.2000 die Pflegeleistung zum 29.02.2000 ein.

Den dagegen erhobenen Widerspruch wies sie nach Einholung eines weiteren MDK-Gutachtens vom 03.05.2000 mit Widerspruchsbescheid vom 15.11.2000 als unbegründet zurück.

Zur Begründung ihrer dagegen zum Sozialgericht (SG) Augsburg erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen ausgeführt, unabhängig von den unzureichenden Gutachten, die teilweise lückenhaft seien, lägen die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht vor.

Mit Urteil vom 09.10.2001 hat das SG die Beklagte verurteilt, Leistungen nach Pflegestufe I für Zeit von März 2000 bis Februar 2001 zu bewilligen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Über den zuerkannten Zeitpunkt hinaus läge schon wegen des fortschreitenden Lebenssalters der Klägerin eine Sachverhaltsänderung vor, was aus § 15 Abs.2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu folgern sei.

Mit ihrer Berufung begehrt die Klägerin Leistungen über den 28.02.2001 hinaus. Das Urteil des SG sei in sachlicher und rechtlicher Hinsicht fehlerhaft, da es zum einen die von ihr vorgetragenen Tatsachen teilweise ignoriere und zum anderen die neue Rechtsprechung entweder falsch auslege oder nicht anwende. Nicht zutreffend seien die Ausführungen, "dass eine Sachverhaltsänderung im Sinne von § 48 SGB X bereits in einem fortschreitenden Lebensalter der kindlichen Klägerin zu sehen sei". Dass dies bereits aus § 15 Abs.2 SGB XI zu folgern sei, sei keine zutreffende Darstellung, da diese Vorschrift nur hervorhebe, dass es hier um den anerkennenswerten Pflegemehraufwand gegenüber einem gesunden Kind gehe und im Übrigen nach dieser Interpretation theoretisch täglich ein begünstigender Verwaltungsakt wieder aufgehoben werden könnte, weil die Begünstigten ja täglich älter würden. Damit hätte § 48 SGB X seine Schutzfunktion völlig verloren. Die Ausführungen des Gerichts zu § 48 SGB X seien nicht nachvollziehbar. Insgesamt sei der Pflegeaufwand über die Jahre gleichgeblieben, nur die Art der Durchführung ändere sich je nach Fall und Altersstufe.

Das Gericht erhob Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Frau Dr.S. vom 22.07.2002. Diese kam zusammengefasst zu dem Ergebnis, dass in der Grundpflege ein Gesamthilfebedarf von 38 Minuten festzustellen sei, der nach Abzug des Hilfebedarfs für ein gesundes, gleichaltriges Kind von 5 Minuten einen krankheitsbedingten Mehrbedarf von 33 Minuten ergebe. Aufgrund von Einwendungen der Klägerin gegen das Gutachtensergebnis holte das Gericht eine ergänzende Stellungnahme von Frau Dr.S. ein. In dieser Stellungnahme vom 07.03.2003 sah die Sachverständige eine Änderung ihres Gutachtens als nicht veranlasst an.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 09.10.2001 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 14.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2000 vollständig aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es werde verkannt, dass bereits im Jahr 1995 die Zuerkennung des Pflegegeldes der Pflegestufe I nicht allein wegen atemtherapeutischer Maßnahmen erfolgt sei. Im Gutachten vom 20.11.1995 sei vielmehr ausdrücklich aufgeführt worden, dass bei der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Körperpflege ein über den altersentsprechenden Aufwand hinausgehender Mehraufwand beim Waschen durch Salzabsonderung und Transpiration bestanden habe. Ebenso sei im damaligen Gutachten ein vermehrter Aufwand bei der Darm- und Blasenentleerung bei Diarrhoe festgestellt worden. Im Hinblick auf die Nahrungsaufnahme sei eine entsprechende Kontrolle bei Nahrungsverweigerung mit der bestehenden Pflegebedürftigkeit anerkannt worden. Ein vermehrter Aufwand durch viermal tägliches Umziehen sei im Rahmen der Mobilität zu berücksichtigen gewesen. Daneben habe zum damaligen Zeitpunkt ein nicht unerheblicher Mehraufwand im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung bestanden. Dem MDK-Gutachten aus dem Jahr 1995 sei ferner zu entnehmen, dass Atemgymnastik sowie eine 60- bis 90-minütige Vibrationsmassage stattfinde. Bei der Inhalation sei die Mithilfe der Mutter (20 bis 30 Minuten täglich) für erforderlich vermerkt worden. Diesbezüglich sei zu beachten, dass bei voller Berücksichtigung sowohl der Vibrationsmassage wie auch der Inhalation neben den sonst zum damaligen Zeitpunkt erforderlichen Leistungen Pflegestufe II - nicht I - zu gewähren gewesen wäre. Der MDK habe im genanten Gutachten jedoch ausdrücklich klargestellt, dass mit Ausnahme des Abklopfens (Vibrationsmassage) zur Sekretlösung bzw. dessen Abhusten therapie- bzw. pflegeunterstützende Maßnahmen nicht nach dem im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes gültigen Begutachtungsrichtlinien berücksichtigungsfähig seien. Insofern möge vielleicht eine fehlerhafte Berücksichtigung der Vibrationsmassage stattgefunden haben, die jedoch im Jahr 1996 eingestellt worden sei. Die Inhalation sei bei der Bemessung der Pflegestufe nicht zur Entscheidung mit herangezogen worden, so dass insofern der Ursprungsbescheid nicht falsch und die Bewilligung insoweit auch nicht rechtswidrig gewesen sei. Im MDK-Gutachten vom 20.01.2000 sei schließlich die altersentsprechende Verselbständigung der Klägerin eindeutig festgestellt worden. Anstelle der Vibrationsmassagen werde seit 1996 eine sekretolytische Krankengymnastik unter Anleitung der Mutter durchgeführt. Im gerichtlichen Gutachten vom 06.01.2002 sei diesbezüglich festgestellt worden, dass zum 01.03.2000 bei der Klägerin ein Gesamthilfebedarf in der Grundpflege von 51 Minuten erforderlich gewesen sei, von dem jedoch ein Abzug von 15 Minuten für ein gleichaltriges Kind vorzunehmen sei, so dass sich ein allein krankheitsbedingter Mehrbedarf von 36 Minuten errechnet habe. Spätestens ab 01.03.2000 seien dementsprechend die Voraussetzungen für Leistungen der Pflegestufe I nicht mehr gegeben.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als begründet. Das Urteil des SG Augsburg vom 09.10.2001 ist insoweit nicht rechtmäßig, als es die Bewilligung von Leistungen nach Pflegestufe I ab 01.03.2001 aufhebt. Demgemäß waren die zugrundeliegenden Bescheide der Beklagten vom 14.02.2000 und 15.11.2000 vollständig aufzuheben.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheides vom 23.05.1995, mit dem Pflegegeld nach Stufe I bewilligt wurde, vorgelegen haben, keine wesentliche Änderung eingetreten, weshalb dieser Bescheid nicht gemäß § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden kann. Denn es kann nicht mehr festgestellt werden, ob zum Zeitpunkt der Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I (Bescheid vom 23.05.1995) dessen Voraussetzungen vorgelegen haben. Dies konnte die Beklagte nicht nachweisen. Denn in dem maßgeblichen Gutachten vom 24.04.1995 ist bezüglich der Körperpflege festgehalten, dass hier lediglich ein altersentsprechender Hilfebedarf besteht. Ohne nähere Zeitangaben wurde im Bereich der Ernährung bei der Nahrungsaufnahme lediglich deren Kontrolle festgestellt. Im Bereich der Mobilität wurde ebenfalls insgesamt ein altersentsprechender Hilfebedarf festgestellt. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung wurde ein Mehraufwand von 60 Minuten festgehalten. Bezüglich des Wechselns/Waschens der Wäsche/Kleidung wurde ebenfalls ein altersentsprechender Hilfebedarf attestiert. Was die zweimal täglich erforderliche Inhalation anbelangt, so ist im Gutachten lediglich ausgeführt, dass dafür keine aktive Pflege durch die Mutter erforderlich war, sondern lediglich eine "Hilfestellung" im Sinne einer Aufforderung und gewissen Kontrolle. Dies gilt auch für den Bereich der Medikamentenzuteilung, wo lediglich die Einnahme überwacht werden musste. Auch diesbezüglich ist im Gutachten festgehalten, dass in diesem Bereich ein weitgehend altersentsprechender Hilfebedarf vorlag. Was die angenommenen Hilfen bei der Sekretelimination anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht hätten anerkannt werden dürfen, da sie von Anfang an mit dem Gesetz nicht in Einklang standen. Denn diese Maßnahmen können grundsätzlich nicht den in § 14 Abs.4 SGB XI aufgezählten Verrichtungen zugeordnet werden. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn diese Maßnahmen wie das Abklopfen aus medizinisch-pflegerischen Gründen stets in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer Verrichtung aus dem Katalog des § 14 Abs.4 SGB XI durchgeführt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 29.04.1999, B 3 P 12/98 R; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr.11). Im vorliegenden Fall fehlt jedoch ein Anhaltspunkt dafür, dass bei der Klägerin die Maßnahmen zur Reinigung und Freihaltung der Atemwege nur in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Verrichtung im Sinne des § 14 Abs.4 SGB XI, etwa dem morgendlichen Aufstehen, zwingend durchgeführt werden mussten. Aus dem Gutachten der Ärztin für Innere Medizin Z. vom 24.04.1995 ergibt sich, dass ausschließlich im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung ein erhöhter Hilfebedarf vorlag, so unter anderem ein zeitlicher Mehraufwand für die Nahrungszubereitung von maximal 60 Minuten pro Tag. Aus der Definition der Pflegestufen in § 15 Abs.1 SGB XI ergibt sich aber, dass ein Hilfebedarf im hauswirtschaftlichen Versorgungsbereich allein Pflegebedürftigkeit nicht begründen kann. Ein Hilfebedarf in diesem Bereich, der zusätzlich zu Hilfen im Bereich der Grundversorgung besteht, wird dagegen bei allen Pflegestufen vorausgesetzt. Insgesamt ist nicht nachgewiesen, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe I gem. § 15 Abs.1 Satz 1 Nr.1 i.V.m. Abs.3 Nr. SGB XI gegeben waren.

Es kann dahinstehen, ob eine Änderung insoweit eingetreten ist, als die Klägerin zwischenzeitlich die Vibrationsmassage durch "sekretolytische Krankengymnastik" der Mutter ersetzt hat. Denn eine Aufhebung nach § 48 SGB X ist nur im Falle einer nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen zu berücksichtigen, auf denen die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht beruht (BSG, Urteil vom 11.04.2002, B 3 P 8/01 R). Letzteres ist hier aber nicht nachgewiesen. Ansonsten käme nur die Möglichkeit der Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X in Betracht, nämlich die Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Ein solcher kann aber nach § 45 Abs.3 Satz 1 SGB X nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, da die Voraussetzungen des § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X hier nicht vorliegen. Zudem kann ein auf § 48 SGB X gestützter Bescheid nicht in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden, da die Rücknahme nach § 45 SGB X die Ausübung von Ermessen voraussetzt und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Fall der Ermessensreduzierung auf null vorliegt (BSG a.a.O).

Somit waren das Urteil des SG Augsburg vom 09.10.2001 abzuändern und der Bescheid der Beklagten vom 14.02.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2000 aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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