L 11 AL 305/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 AL 989/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AL 305/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11a AL 11/05 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17.06.2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Insolvenzgeld unter Berufung auf die Richtlinie des Europäischen Rates vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (EWGRL 80/987).

Die 1947 geborene Klägerin war seit 01.07.1998 bei dem Reinigungsunternehmen M. D. (N.) als Reinigungskraft beschäftigt. Am 20.12.2000 beantragte die AOK beim Amtsgericht N. die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Arbeitgeberin. Hiervon hatte die Klägerin keine Kenntnis. Den Antrag der AOK lehnte das Amtsgericht durch Beschluss vom 14.11.2001 mangels Masse ab. Mit Schreiben vom 27.04.2001, das der Klägerin erst am 31.05.2001 ausgehändigt wurde, kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 28.05.2001. Die Abmeldung des Gewerbes erfolgte am 29.05.2001 beim Ordnungsamt der Stadt N ... Nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts N. vom 25.06.2001 (Versäumnisurteil, Az: 9 Ca 5464/01) endete das Arbeitsverhältnis nicht zum 28.05.2001, sondern bestand darüber hinaus fort. Eine Kündigung durch die Klägerin selbst erfolgte nicht. Vom 29.05.2001 bis 01.01.2002 bezog die Klägerin von der AOK Krankengeld.

Am 05.06.2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Zahlung von Insolvenzgeld. Sie habe seit Februar 2001 von der früheren Arbeitgeberin keinen Lohn mehr erhalten. Mit Bescheid vom 18.01.2002 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil die Klägerin im Insolvenzgeld-Zeitraum (14.08.2001 bis 13.11.2001) wegen des Krankengeldbezugs keinen Arbeitsentgeltausfall gehabt habe.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, ihr stehe Insolvenzgeld für April, Mai und Juni 2001 zu, denn ihr Arbeitsverhältnis habe zum 30.06.2001 geendet. Auch sei die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits vor dem 14.11.2001 beantragt worden. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 17.10.2002 zurück. Wie sich aus dem Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts N. vom 25.06.2001 ergebe, sei das Arbeitsverhältnis bis zum Insolvenzereignis (14.11.2001) nicht beendet worden.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Das Arbeitsverhältnis habe zum nächstmöglichen Kündigungszeitpunkt - dem 30.06.2001 - geendet. Deshalb sei Insolvenzgeld vom 01.04.2001 bis 30.06.2001 zu zahlen.

Die Beklagte hat entgegnet, der Insolvenzgeld-Zeitraum könne nicht gemäß § 183 Abs 2 Sozialgesetzbuch Arbeitsförderung (SGB III) - Weiterarbeit in Unkenntnis des Insolvenzereignisses - auf März bis Mai 2001 vorverlegt werden, da die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Festlegung des Insolvenzgeld-Zeitraums bei ruhenden Arbeitsverhältnissen vorliegend keine Anwendung finde.

Mit Urteil vom 17.06.2004 hat das SG den Bescheid vom 18.01.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2002 aufgehoben und die Beklagte ab 31.05.2001 zur Leistung von Insolvenzgeld für die der Kenntnisnahme der Klägerin vom Insolvenzereignis vorgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses verurteilt.

Es sei nicht vom 14.11.2001, dem Zeitpunkt des Beschlusses des Insolvenzgerichts auszugehen. Eine mit der EWGRL 80/987 konforme Auslegung des § 183 SGB III gebiete nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 15.05.2003 C-160/01) im vorliegenden Fall eine Festlegung des Insolvenzereignisses unter Heranziehung des Zeitpunktes der Antragstellung der AOK auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom 20.12.2000. Die Klägerin habe von der Insolvenz erst am 31.05.2001 erfahren. Vom Antrag der AOK habe sie keine Kenntnis gehabt und daher weitergearbeitet. Allerdings habe sie nur bis 28.05.2001 Anspruch auf Insolvenzgeld, da sie ab 29.05.2001 Krankengeld bezogen habe.

Dagegen hat die Beklagte Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und zur Begründung vorgetragen: Da das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum Zeitpunkt des Insolvenzereignisses vom 14.11.2001 noch fortbestanden habe, stehe ihr grundsätzlich für die Zeit vom 14.08.2001 bis 13.11.2001 Insolvenzgeld zu. Allerdings habe die Klägerin während dieser Zeit von der AOK Krankengeld bezogen (29.05.2001 bis 01.01.2002), so dass im Insolvenzgeld-Zeitraum keine Lohnrückstände vorgelegen hätten. Auf die EWGRL 80/987 könne sich die Klägerin wegen des fehlenden Transformationsaktes in das innerstaatliche Recht in diesem Zusammenhang nicht berufen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17.06.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Das SG habe den Insolvenz-Zeitpunkt zu Recht auf den 31.05.2001 festgelegt, denn sie habe vom Antrag der AOK zu keinem früheren Zeitpunkt Kenntnis erlangt. Die Beklagte sei selbst der Auffassung, dass § 183 Abs 1 SGB III gegen Europarecht verstoße. Obwohl die EWGRL 80/987 explizit nicht innerstaatliches Recht geworden sei, dürfe sie nicht missachtet werden. § 183 SGB III sei daher richtlinienkonform auszulegen, so dass vorliegend der 20.10.2000 entscheidungserheblich sei. Weder zum 14.08.2001 noch zum 13.11.2001 habe das Arbeitsverhältnis der Klägerin noch bestanden.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und begründet. Zu Unrecht hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte zur Leistung von Insolvenzgeld verurteilt, denn die Klägerin hat hierauf keinen Anspruch.

Arbeitnehmer haben Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei 1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers, 2. Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder 3. vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Anspruch auf Arbeitsentgelt haben (§ 183 Abs 1 Satz 1 SGB III). Hat ein Arbeitnehmer in Unkenntnis eines Insolvenzereignisses weitergearbeitet oder die Arbeit aufgenommen, besteht der Anspruch für die dem Tag der Kenntnisnahme vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses (Abs 2).

Maßgebliches Insolvenzereignis ist im vorliegenden Fall die Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse durch Beschluss des Amtsgerichts - Insolvenzgericht - N. vom 14.11.2001 (§ 183 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB III). Die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit (Nr 2) vom 29.05.2001 kommt als Auffangtatbestand (Roeder in Niesel, SGB III, 2. Auflage, § 183 RdNr 38) nur bei fehlendem Insolvenzantrag in Betracht. Hier ist ein solcher Antrag aber gestellt worden und zwar am 20.12.2000 durch die AOK.

Zwar hat der EuGH durch Urteil vom 15.05.2003, C-160/01, NJW 2003, 2371 ("Mau") entschieden, Art 3 Abs 2 und Art 4 Abs 2 der EWGRL 80/987 in der bis zum In-Kraft-Treten der Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.09.2002 (ABl L 270) geltenden Fassung seien dahin auszulegen, dass sie einer Bestimmung nationalen Rechts entgegenstehen, in der der Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als der Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nicht als der Zeitpunkt der Einreichung dieses Antrags definiert wird. Das hier anzuwendende deutsche Recht (§ 183 SGB III), das nicht auf den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sondern grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung abstellt, genügt insofern nicht den Anforderungen der EWGRL 80/987, ist jedoch eindeutig und kann nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.12.2003 - B 11 AL 27/03 R -, SozR 4-4100 § 141 b Nr 1) nicht iS der Rechtsprechung des EuGH ausgelegt werden. Für die Entscheidung im vorliegenden Fall ist deshalb der Dreimonatszeitraum des § 183 Abs 1 Satz 1 SGB III ausgehend vom Zeitpunkt der Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse durch das Amtsgericht N. vom 14.11.2001 (Nr 2) zu bestimmen.

Wie das BSG aaO betont, ist dabei zu beachten, dass sich allein aus der EWGRL 80/987 ohnehin keine Ansprüche des einzelnen Arbeitnehmers gegen die Beklagte ableiten lassen (BSG SozR 3-4100 § 141 b Nr 23 S 113 f mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EuGH, u.a. EuGHE I 1993, 6911, 6931 f). Auch entscheidet der Senat vorliegend nicht über einen etwaigen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz wegen mangelhafter Umsetzung der Richtlinie. Ein solcher Schadensersatzanspruch könnte sich auch nicht gegen die Beklagte, sondern allein gegen die Bundesrepublik Deutschland richten (BSG aaO S 114).

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin war bis 14.11.2001 nicht beendet worden. Es hat nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts N. vom 25.06.2001 über den 28.05.2001 hinaus fortbestanden, ohne dass im Urteil ein Beendigungsdatum angegeben wurde. Auch wurde das Arbeitsverhältnis anschließend weder (erneut) von der Arbeitgeberin noch von der Klägerin gekündigt.

Im Insolvenzgeld-Zeitraum 14.08.2001 bis 13.11.2001 hatte die Klägerin also keinen Arbeitsentgeltausfall, denn sie bezog in dieser Zeit Krankengeld. Nach der Entscheidung des EuGH vom 15.05.2003 aaO ist der Begriff des Arbeitsverhältnisses auf Gemeinschaftsebene einheitlich dahin auszulegen, dass nur Zeiträume erfasst werden, die ihrer Natur nach zu nicht erfüllten Ansprüchen auf Arbeitsentgelt führen können. Krankheitszeiten ohne Entgeltfortzahlung - um solche handelt es sich vorliegend vom 14.08.2001 bis 13.11.2001 - sind demnach aus dem Tatbestand der vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses auszuschließen (Peters-Lange in Gagel, SGB III, § 183 RdNr 76 c).

Da die Klägerin somit keinen Anspruch auf Insolvenzgeld hat, war das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17.06.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen im Hinblick auf die zitierte Rechtsprechung des BSG nicht vor. Außerdem wurde die EWGRL 80/987 durch EWGRL 2002/74 für die Zeit ab 2002 geändert, so dass die Probleme, die sich aus der unzureichenden Umsetzung der Art 3 und 4 EWGRL 80/987 in ihrer bisherigen Fassung ergaben, obsolet sind (Peters-Lange, aaO RdNr 84).
Rechtskraft
Aus
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