L 4 KR 97/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 KR 287/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 97/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 4/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11. März 2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung für häusliche Krankenpflege (Blutzuckermessung) vom 15.04. bis 30.06.2002.

Die bei der Beklagten versicherte, 1918 geborene Klägerin, die alleine lebt, ist hochgradig sehbehindert und Empfängerin von Blindengeld. Sie leidet darüber hinaus an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus.

Der Vertragsarzt Dr.S. (N.) verordnete am 18.01.2002 für die Klägerin häusliche Krankenpflege vom 18.01.2002 bis 31.03.2002 zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung in Form von Blutzuckermessung zweimal täglich (Ersteinstellung) sowie zweimal täglich Injektionen (subkutan). Aufgrund dieser Verordnung beantragte der Pflegedienst (Häuslicher Kranken- und Altenpflegedienst) am 22.01.2002 bei der Beklagten im genannten Zeitraum Insulininjektionen (einmal täglich) und Blutzuckermessung (einmal täglich). Mit Bescheid vom 25.01.2002 lehnte die Beklagte Blutzuckermessungen ab 15.02.2002 ab. Blutzuckermessen sei bei Neueinstellung nur für 28 Tage zu genehmigen; die Injektionen wurden von der Beklagten genehmigt.

Der Pflegedienst teilte der Beklagten am 18.02.2002 mit Fax die Spritzen- und Blutzuckerprotokolle sowie das Insulinschema mit; die Klägerin werde ab 13.02.2002 zweimal täglich zur Blut-zuckermessung und Insulininjektion besucht. Dr.S. verordnete am 02.04.2002 wieder häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung in Form von Herrichten und Verabreichen der Medikamentengabe sowie subkutane Injektionen für die Zeit vom 01.07.2002 bis 30.09.2002 (jedoch keine Blutzuckermessungen).

Die Klägerin beantragte am 02.04.2002 häusliche Krankenpflege.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 09.04.2002 die Kostenübernahme für die vom Pflegedienst durchzuführenden Blutzuckermes- sungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege ab 15.04.2002 ab.

Der Klägerbevollmächtigte legte hiergegen am 20.4.2002 sinngemäß Widerspruch ein. Die Blutzuckermessungen seien zu Unrecht gestrichen worden, obwohl sie medizinisch notwendig seien und von der Klägerin wegen der Blindheit allein nicht vorgenommen werden können; eine weitere Hilfe sei die Genehmigung eines sprechenden Blutzuckermessgeräts.

Dr.S. gab in der Auskunft an die Beklagte vom 16.05.2002 an, bei der Klägerin bestünden Probleme mit den Fingern und Händen, sie habe Parästhesien und ein taubes Gefühl beidseits. Ferner lägen schwankende Blutzuckerwerte bei schlechter Compliance vor. Sie sei weder in der Lage, den Blutzucker zu messen, noch subkutan zu spritzen. Die Blutzuckerkontrollen würden täglich durchgeführt, die Klägerin sei jedoch nicht in der Lage, das Messergebnis abzulesen.

Die Beklagte wies mit dem Widerspruchsbescheid vom 15.08.2002 den Widerspruch zurück. Nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege, die von Ärzten und Krankenkassen zu beachten seien, dürften Kosten für die Blutzuckermessungen nur noch bei Erst- und Neueinstellung eines Diabetes oder zur Fortsetzung der sogenannten intensivierten Insulintherapie übernommen werden. Hierbei gelte, dass zusätzlich eine hochgradige Einschränkung der Sehfähigkeit, eine erhebliche Einschränkung der Grob- und Feinmotorik der oberen Extremitäten, eine starke Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit oder eine starke Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit und Realitätsverlust zusätzlich vorliegen müssten. Bei der Klägerin würde jedoch keine intensivierte Insulintherapie durchgeführt bzw. eine solche Therapie weitergeführt.

Sie hat hiergegen am 05.09.2002 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Wegen des sehr schwankenden Blutzuckers und der Gefahr der Unterzuckerung seien wenigstens zweimal täglich Blutzuckermessungen erforderlich. Sie könne aufgrund der Erblindung die Messungen selbst nicht vornehmen. Um weitere gra- vierende Schäden zu vermeiden, sei nach wie vor eine Blutzucker- messung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege notwendig.

Das SG hat mit Urteil vom 11.03.2003 entsprechend dem vom Klägerbevollmächtigen gestellten Antrag den Bescheid der Beklagten vom 09.04.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08. 2002 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die nachgewiesenen Aufwendungen für die seit 15.04.2002 beschaff- ten Fremdleistungen zur täglichen Messung und Ausgleichung der Diabeteserkrankung entsprechend der ärztlichen Verordnung von Dr.S. zu erstatten. Es hat ferner festgestellt, dass die Beklagte zur Erbringung von Sachleistungen zur Krankenbehandlung der Diabeteserkrankung verpflichtet ist. Die bei der Klägerin notwendigen regelmäßigen Messungen des Blutzuckergehalts im Rahmen der erforderlichen Insulintherapie seien eine Maßnahme der Behandlungspflege, die dem Ausgleich der bestehenden Erkrankung (Diabetes mellitus) diene und zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung (Aufrechterhaltung eines komplikationsfreien Gesundheitszustandes bezüglich der Stoffwechselerkrankung) erforderlich sei. Die von Dr.S. bestätigte Einschränkung des manuellen Feingefühls bei bestehendem Karpaltunnelsyndrom lasse eine eigenständige zuverlässige Bedienung der technischen Geräte zur Bestimmung des Blutzuckerspiegels nicht zu. Ungeachtet der hausärztlich bescheinigten altersbedingten Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten, die Zweifel bezüglich der Zuverlässigkeit und Compliance bei der selbständigen Behandlung erwarten lasse, seien im Rahmen der Krankenbehandlung die regelmäßigen Messungen zur Verhütung von Verschlimmerungen medizinisch notwendig. Die Leistungsverweigerung der Beklagten werde zwar formell untermauert durch die Krankenpflege-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, wonach das routinemäßige Dauermessen nur zur Fortsetzung einer sogenannten intensivierten Insulintherapie verordnungsfähig sei. Eine derartige Insulintherapie werde bei der Klägerin jedoch nicht mehr durchgeführt, sondern es werde im Wesentlichen ein Ausgleich nach einem ärztlichen Schema vorgenommen. Diese Richtlinien würden zwar die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer binden, könnten jedoch nicht den Leistungsanspruch der Versicherten ausschließen. Insoweit sei die in den Richtlinien aufgeführte Leistungseinschränkung für eine notwendige diabetesbedingte Blutzuckerkontrolle bei Ausschluss einer selbständigen Erledigung durch die Versicherte oder weiterer im Haushalt lebender Personen mit übergeordneten gesetzlichen Vorschriften nicht vereinbar und damit unwirksam.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten vom 16.04. 2003. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts komme den Richtlinien der Bundesausschüsse normative Wirkung zu, sie würden die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Krankenkassen, die Vertragsärzte und die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen binden. Nach den aktuellen Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege sei die routinemäßige Insulin-Dauermessung nur zur Fortsetzung einer intensivierten Insulintherapie verordnungsfähig, wenn zusätzliche persönliche Voraussetzungen (hochgradige Einschränkung der Sehfähigkeit, erhebliche Einschränkung der Feinmotorik im Bereich der Arme, starke Einschränkung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit) vorlägen. Eine intensivierte Insulintherapie werde bei der Klägerin bisher nicht durchgeführt. Damit sei eine weitere Kostenübernahme für die Blutzuckermessung über den 15.02.2002 hinaus im Wege der häuslichen Krankenpflege nicht möglich.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.03.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG. Auf den Inhalt dieser Akten un die Sitzunsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig; sie ist nach dem gesamten Inhalt des Urteilstenors in Ziffer I., unter Einbeziehung der Feststellung, nicht beschränkt, da sie wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs.1 Satz 2 SGG).

Der Klägerbevollmächtigte ist berechtigt, die Klägerin zu vertreten (§ 73 Abs.1 SGG). § 73 Abs.6 SGG, der für die Zurückweisung von Bevollmächtigten auf § 157 Zivilprozessordnung verweist, greift hier nicht ein. Denn diese Vorschrift gilt u.a. nicht für Bevollmächtigte von den in § 14 Abs.3 Satz 2 SGG genannten Vereinigungen, sofern sie Kraft Satzung oder Vollmacht zur Prozessvertretung befugt sind. Dies ist hier der Fall, da der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund e.V. eine Vereinigung ist, deren satzungsgemäße Aufgabe die gemeinschaftliche Interessenvertretung, Beratung und Vertretung entsprechend behinderter Menschen ist (§ 14 Abs.3 Satz 2 SGG; § 1 Abs.1, 3 Abs.1 Satz 4 Nr.3 der Satzung; s. http//www.bbsb.org).

Die Berufung ist nicht begründet.

Die Klägerin hat im hier streitigen Zeitraum vom 15.04. bis 30.06.2002 Anspruch auf Erstattung der Kosten etwaiger Blut- zuckermessungen durch den Pflegedienst bzw. auf Freistellung (Bundessozialgericht (BSG) vom 22.07.2204, SGb 2004, 364; BSG vom 20.05.2003, SozR 4-2500 § 13 Nr.1; BSG vom 23.12.2003, BSGE 90, 220) von Kosten für derartig erbrachte Leistungen. Anspruchsgrundlage ist § 13 Abs.3 Sozialgesetzbuch V (SGB V) - nicht § 37 Abs.4 SGB V, da die dort genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind -, wonach die Kostenerstattung bzw. -freistellung davon abhängt, dass die Krankenkasse entweder eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Gegebenenfalls sind die Kosten von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.

Hierbei spielt es nach dem Wortlaut der Anspruchsgrundlage keine Rolle, dass die durch die Inanspruchnahme des Pflegedienstes entstandenen Kosten nicht bei dem vom Senat für zuständig erachteten Leistungserbringer (Vertragsarzt) angefallen sind. Maßgebend ist vielmehr, dass die Klägerin sich die zu Unrecht abgelehnte Leistung (Blutzuckermessung als Teil der ärztlichen Behandlung i.S.v. § 27 Abs.1 Satz 2 Nr.1 SGB V) selbst beschafft hat.

Eine unaufschiebbare Leistung in diesem Sinne liegt nicht vor, da die vertragsärztliche Versorgung der Klägerin bezüglich der Behandlung des Diabetes mellitus durch den Hausarzt auch für die Zeit nach dem 15.02.2002 bzw. 15.04.2002 sichergestellt war. Die Leistungsablehnung durch die Beklagte beruht nicht auf einer Verkennung eines krankenversicherungsrechtlichen Notfalls bzw. von Systemstörungen oder Versorgungslücken, sondern auf einer rechtlichen Leistungseinschränkung.

Die Beklagte hat häusliche Krankenpflege als solche nicht zu Unrecht abgelehnt. Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse sind die bei der Klägerin durchgeführten (mittlerweile wohl nicht mehr verordneten) Blutzuckermessungen nicht Teil der häuslichen Krankenpflege. Gemäß § 37 Abs.2 Satz 1 SGB V, der hier allein in Frage kommt, erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (Behandlungssicherungspflege). Die Blutzuckermessung ist der Behandlungspflege zuzuordnen und nicht der Grundpflege. Zur Grundpflege zählen pflegerische Leistungen nichtmedizinischer Art für den menschlichen Grundbedarf, d.h. Hilfen zur Befriedigung körperlicher, seelischer oder geistiger Grundbedürfnisse, bei denen im Gegensatz zu den Maßnahmen der Behandlungspflege nicht der Behandlungs- und Heilzweck im Vordergrund steht und deren Ausführung nicht von medizinischer Kunstfertigkeit und medizinischen Kenntnissen geprägt ist. Dagegen handelt es sich bei der Behandlungspflege um Maßnahmen, die durch eine bestimmte Erkrankung verursacht werden, speziell auf den Gesundheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind, und dazu beitragen sollen, die Behandlungsziele des § 27 Abs.1 Satz 1 SGB V, d.h. insbesondere das Erkennen und Heilen einer Krankheit, Verhütung ihrer Verschlimmerung oder Linderung der Krankheitsbeschwerden, zu erreichen. Es geht hier also um krankheitsspezifische Maßnahmen (Kasseler Kommentar-Höfler, § 37 SGB V, Rdnrn.22, 23 mit weiteren Nachweisen der höchstrichterlichen Rechtsprechung). Demgemäß wird in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege nach § 92 Abs.1 Satz 2 Nr.6 und Abs.7 SGB V vom 16.02.2000 (Bundesanzeiger Nr.91 S.8878) in der Anlage unter Nr.11 die Blutzuckermessung als Leistung der Behandlungspflege bezeichnet.

Entscheidungserheblich ist, dass nach den Krankenpflege-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen die Leistungsvoraussetzungen für die Blutzuckermessung (Nr.11 der Anlage) nicht erfüllt sind. Vorausgesetzt wird hier für die Zuordnung zur Behandlungspflege die Ermittlung und Besserung des Blutzuckergehaltes kapillaren Blutgehaltes mittels Testgeräts (z.B. Glukometer) bei Erst- und Neueinstellung eines Diabetes (insulin- oder tablettenpflichtig) oder bei Fortsetzung der sogenannten intensivierten Insulintheraphie. Nach den Angaben des behandelnden Arztes war nur laut Verordnung vom 22.01.2002 im Zeitraum vom 18.01. bis 31.03.2002 eine "BZ-Ersteinstellung" nötig. Die Folgeverordnung (Eingang bei der Beklagten am 02.04. 2002) hat derartige Angaben nicht mehr enthalten, sondern den Hinweis "Insulin nach Schema".

Nach der Auffassung des Senats (siehe rechtskräftiges Urteil vom 30.09.2004 L 4 KR 231/03) sind die Krankenpflege-Richtlinien mit den Leistungsbeschreibungen in deren Anlage bindend und zwar nicht nur aus Gründen der Gleichbehandlung der Versicherten (Art.3 Abs.1 Grundgesetz - GG -). Die Funktion der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen besteht nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG in einer Konkretisierung des Leistungsanspruchs des Versicherten auf Krankenbehandlung, der in § 27 Abs.1 SGB V als ausfüllungsbedürftiges Rahmenrecht angelegt ist. Dieses Recht bedarf der Konkretisierung, bevor der Versicherte daraus ein Recht im Sinne von § 194 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch ableiten kann, von seiner Kasse ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu verlangen (BSG vom 20.11.2001, SozR 3-2500 § 19 Nr.3; BSG vom 16.09. 1997, BSGE 81, 54; BSG vom 09.06.1998, BSGE 82, 158). Die Richtlinien sind, worauf die Beklagte zu Recht hinweist, für diese bindend und beeinflussen daher auch den Behandlungsanspruch der Klägerin. Es handelt sich bei den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Verhältnis zu den Vertragsärzten und Krankenkassen um autonomes, bindendes Recht. In diesem Rechtskreis entfaltet sich die Geltungswirkung der Richtlinien für die einzelnen Krankenkassen über §§ 92 Abs.7, 82 Abs.1 Satz 2, 83 Abs.1, 210 Abs.2 SGB V (BSG vom 20.03.1996, SozR 3-2500 § 92 Nr.6). Das Fehlen eines Erlaubsnisvorbehalts in der gesetzlichen Grundlage für die Richtlinien der häuslichen Krankenpflege wie z.B. bei der Bewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (§ 135 Abs.1 SGB V) oder bei neuen Heilmitteln (§ 138 SGB V) ist kein zutreffendes Argument gegen die Bindungswirkung der Richtlinien. Denn bei diesen, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bzw. neue Heilmittel betreffenden gesetzlichen Regelungen geht es allein um die Frage der Qualitätssicherung im Zusammenhang mit den gesetzlichen Regelungen der §§ 2 Abs.1 Satz 2, 12 Abs.1 SGB V, also um die Frage, ob neue Leistungen Gegenstand der Krankenbehandlung geworden sind. Aus Gründen der Qualitätssicherung und der Wirtschaftlichkeit der Krankenbehandlung hat der Gesetzgeber hier einen Erlaubnisvorbehalt vorgesehen.

Demgegenüber haben die Krankenpflege-Richtlinien unter dem hier einschlägigen Gesichtspunkt der Leistungszuständigkeit für die Krankenbehandlung eine andere Bedeutung, da sie nicht nur Voraussetzungen und Inhalt der einzelnen Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege, sondern auch die Organisation der Krankenbehandlung regeln, indem sie unter Abgrenzung von der ärztlichen Behandlung Delegationsmöglichkeiten vorsehen. Zur Krankenbehandlung gehört gemäß § 27 Abs.1 Satz 2 Nr.1 SGB V die ärztliche Behandlung (einschließlich der Psychotherapie). Nach dem Arztmonopol des § 15 Abs.1 SGB V wird die ärztliche Behandlung grundsätzlich von Ärzten erbracht. Eine Delegation ärztlicher Leistungen als Ausnahme vom Arztvorbehalt ist gemäß § 15 Abs.1 Satz 2 SGB V zulässig. Sind danach Hilfeleistungen anderer Personen erforderlich, dürfen sie nur erbracht werden, wenn sie vom Arzt angeordnet und von ihm verantwortet werden. Im Zusammenhang mit dem Arztmonopol steht auch § 28 Abs.1 SGB V, wonach die ärztliche Behandlung die Tätigkeit des Arztes umfasst, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist. Zur ärztlichen Behandlung gehört auch die Hilfeleistung anderer Personen, die vom Arzt angeordnet und von ihm zu verantworten ist. Durch die Krankenpflege-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen werden für die dort aufgeführten Maßnahmen der Behandlungspflege die Voraussetzungen der Delegation auf nichtärztliche Hilfskräfte und der Leistungsinhalt geregelt. Daher sieht Ziffer I. Grundlagen der Krankenpflege-Richtlinien in Nr. 2. vor, dass die häusliche Krankenpflege u.a. die Maßnahmen der ärztlichen Behandlung umfasst, die dazu dienen, Krankeiten zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern und die üblicherweise an Pflegefachkräfte/Pflegekräfte delegiert werden können (Behandlungspflege). Aus dem Regelungszusammenhang zwischen den gesetzlichen Vorschriften der §§ 15 Abs.1, 27 Abs.1 Satz 1, Satz 2 Nrn.1, 28 Abs.1 SGB V und der genannten Regelung der häuslichen Krankenpflege als Behandlungspflege in § 37 SGB V in Verbindung mit den Krankenpflege-Richtlinien ist zu schließen, dass bei der Nichterfüllung der speziellen Leistungsvoraussetzungen für eine Maßnahme der häuslichen Krankenpflege eine Delegation der ärztlichen Behandlung an Hilfskräfte ausscheidet.

Dies bedeutet aber nicht, dass die Leistung als solche in Form der ärztlichen Behandlung nicht erbracht werden darf. Vielmehr beruht der Anspruch auf den grundlegenden Vorschriften der §§ 15 Abs.1 Satz 1, 27 Abs.1 Satz 2 Nr.1 und 28 Abs.1 Satz 1 SGB V, d.h. es besteht weiterhin die originiäre Zuständigkeit des Vertragsarztes für die Krankenbehandlung. Die Blutzuckermessung bei der Klägerin ist - ungeachtet der Delegationsmöglichkeit auf Pflegekräfte - ein Teil der vertragsärztlichen Behandlung; sie ist als ärztliche Leistung in Form der Blutentnahme (ggf. im Rahmen eines Hausbesuches) und der Laboratoriumsuntersuchung (Nr.3722 EBM = glykierte Hämoglobine (z.B. HbA und/oder HbA 1c)) vorgesehen.

Es bestehen auch keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit der Krankenpflege-Richtlinien mit höherrangigem Recht. Die Richtlinien sind dem Inhalt nach einer richterlichen Kontrolle bezüglich deren medizinischer Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit entzogen. Der Senat kann nur prüfen, ob sie mit höherrangigem Recht zu vereinbaren sind (BSG vom 19.03.2002 SozR 3-2500 § 138 Nr.2 mit weiteren Nachweisen). Es ist nicht die Aufgabe der Gerichte, über die speziellen Leistungsvoraussetzungen der Blut- zuckermessung zu entscheiden. Erfüllt ein Versicherter, wie hier die Klägerin, diese Voraussetzungen nicht, entsteht ihm dadurch kein Nachteil im Zusammenhang mit der Krankenbehandlung, da er weiterhin Anspruch auf die entsprechende ärztliche Behandlung hat, die unter Umständen als Hausbesuch zu erbringen ist. Ein Verstoß gegen die genannten Regelungen des SGB V oder gegen Art.2 Abs.1 GG ist darin nicht zu erkennen. Aus Art.2 Abs.1, Abs.2 Satz 1 GG folgt zwar eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen und im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts zu gewährleisten, dass dem Erkrankten die letzte Entscheidung über die in seinem Fall anzuwendende Therapie belassen wird. Daraus ergibt sich aber, wie das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 05.03.1997 (NJW 1997, 3085) bekräftigt hat, kein verfassungs- rechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen. Der Umfang des Krankenbehandlungsanspruchs ist vielmehr durch die Leistungsgesetze bestimmt und begrenzt.

Dass die streitige Leistung im Falle der Klägerin medizinisch notwendig ist (§ 12 Abs.1 SGB V), ist der Auskunft des Hausarztes Dr.S. vom 16.05.2002 zu entnehmen und wird auch von der Beklagten nicht bestritten. Der Senat hat hier über die Häufigkeit der Blutzuckermessung pro Woche nicht zu entscheiden, da sie sich nach dem jeweiligen Krankheitszustand der Klägerin richtet.

Der Senat hat auch nicht darüber zu befinden, dass die Durchführung dieser Leistung durch den Arzt möglicherweise (im Notfall) teurer ist als die Delegation an den Pflegedienst. Denn die Beklagte hat die medizinische Notwendigkeit der Blutzuckermessungen nicht bestritten. Auch wenn ein Lösungsweg für die praktische Umsetzung der hier streitigen Leistung in der ärztlichen Delegation auf nichtärztliches Praxispersonal bestehen kann (§ 15 Abs.1 Satz 2 SGB V), muss hierüber im Rahmen der Leistungsverpflichtung nach § 13 Abs.3 SGB V letztlich nicht entschieden werden.

Der am 03.07.2003 bei der Beklagten eingegangene Antrag der Klägerin vom 28.06.2002 über die Genehmigung der häuslichen Krankenpflege vom 01.07. bis 30.09.2002 ist nicht Gegenstand des Verfahrens; denn Verwaltungsentscheidungen hierüber sind nicht in den Akten. Die angefochtenen Bescheide betreffen nur jeweils den vorliegend zu Grunde gelegten Zeitraum.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs.2 Nr.1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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